Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1
Der Schnee lag hoch. Jedenfalls für Wolfsburger Verhältnisse. Linda stand am Küchenfenster und beobachtete, wie Jan vorsichtig in die Garagenauffahrt bog. Sie lächelte ihm zu, als er ausstieg und zum Fenster hochblickte. Jan stiefelte durch den Schnee, und Linda genoß für einen Moment den Anblick seiner kräftigen, breitschultrigen Gestalt, bevor sie sich umwandte und den Kaffee einschenkte. Das letzte spärliche Licht eines späten Januarnachmittags kroch durch die halbhohen Gardinen und verbreitete eine ruhige und beschauliche Atmosphäre. Sie hörte, wie Jan den Flur betrat und seinen Mantel aufhängte, und eine Woge von Zuneigung und Optimismus stieg in ihr empor. So könnte es immer weitergehen, dachte Linda plötzlich, und dieser unerwartete Gedanke ließ sie lächeln.
Jan kam herein. Sein kaltes Gesicht streifte ihre Wange, als er ihr einen Kuß gab.
»Du hast die Auffahrt nicht freigeschaufelt«, sagte er in gespielt vorwurfsvollem Ton und fuhr ihr durch die dunklen Locken, bevor er nach seiner Kaffeetasse griff.
Linda tippte sich an die Stirn. »Jede Stunde fallen drei Zentner Schnee - da wäre ich ja den ganzen Tag beschäftigt gewesen! Im übrigen bricht der Herr Ingenieur sich auch keinen Zacken aus der Krone, wenn er mal zur Schaufel greift. Du bist doch sonst so sportlich.«
Sie machte eine abwehrende Geste, bevor sie merkte, daß Jan sie necken wollte. Dann erwiderte sie seinen schmunzelnden Blick und ließ die Hände wieder sinken. Einen Moment lang sah es so aus, als würde er sie in die Arme ziehen und küssen, aber dann verdunkelten sich seine blauen Augen plötzlich um einige Nuancen, und das Spielerische und Fröhliche darin verschwand.
»Wo ist eigentlich unser Sohn?« fragte er in sachlichem Ton und nahm am Küchentisch Platz.
»Claudia hat ihn heute mittag vom Kindergarten abgeholt. Die beiden sind zum Rodeln gefahren. So konnte ich in aller Ruhe einen ganzen Stoß Klassenarbeiten korrigieren«, antwortete Linda und setzte sich zu Jan.
Claudia war ihre drei Jahre jüngere Schwester. Erik und sie waren ein Herz und eine Seele, und Claudia holte den Jungen häufig ab, um ein paar Stunden mit ihm zu verbringen. Linda war Grundschullehrerin, und wenn sie einen halben Tag lang mit Kindern zu tun gehabt hatte, die ihre ganze Aufmerksamkeit und Zuwendung forderten, genoß sie es sehr, mal einige Stunden Ruhe zu finden.
Jan nickte.
»Mußt du nicht ins Sportstudio?« fragte Linda und betrachtete ihren Mann aufmerksam.
Jan war seit vielen Jahren begeisterter Bodybuilder, und es verging kaum ein Tag, an dem er nicht für ein, zwei Stunden im Studio war. Linda sah, wie sich plötzlich eine tiefe Falte von seinen Augenbrauen bis zur Nasenwurzel zog. Jan fuhr sich mit beiden Händen durch sein kurzes dunkelblondes Haar.
»Ich gehe heute nicht«, gab er knapp zurück.
Linda beugte sich ein Stück zu ihm vor. »Ist irgend etwas, Jan? Du wirkst plötzlich so ernst. Gibt es Ärger im Werk?«
Jan war Diplomingenieur im Volkswagenwerk und mit seinen sechsunddreißig Jahren bereits einige Stufen auf der Karriereleiter nach oben geklettert. Er war sehr ehrgeizig, manchmal nahezu verbissen.
»Ärger? Nein, Ärger gibt es nicht. Aber . ich muß etwas mit dir besprechen.«
Plötzlich schaute er sie direkt an, und seine Augen schimmerten. Linda hatte das Gefühl, daß er sich nicht entscheiden konnte, ob er nervös oder aufgeregt und fröhlich sein sollte. Sie nickte ihm zu und spürte auf einmal verwundert, wie wichtig sie für ihn war. Wieviel Halt und Bestätigung er durch sie fand.
»Du machst es aber spannend«, sagte sie.
»Es ist auch spannend«, gab er zurück und atmete tief durch. »VW will mich im Frühjahr für mindestens zwei Jahre nach China schicken.«
Eine Weile blieb es ganz still. Linda hörte nur den Wind ums Haus pfeifen, und sie spürte den Druck, sich in diesem Augenblick richtig verhalten zu müssen, wie eine schwere Last auf den Schultern. Sie wußte, was ein solches Angebot für Jan bedeutete. In den vergangenen Jahren hatten sie nicht nur einmal über die Möglichkeit eines Auslandsaufenthaltes gesprochen, und Linda hatte Jan immer versichert, daß sie ihn in seinen Entscheidungen unterstützen würde. Bei diesen Gesprächen war auch klar geworden, daß sie nicht gemeinsam umsiedeln würden. Hauptsächlich wegen Erik und ihrer Arbeit, aber auch weil Jan langfristig ohnehin eine hohe Position im Wolfsburger Werk anstrebte. Aber China? Sie würden sich höchstens zwei- oder dreimal im Jahr sehen können.
Linda schluckte. »Das ist aber sehr weit weg.«
Jan griff nach ihren Händen. »Ja, sehr weit. Aber es ist eine Riesenchance für mich. Wenn ich zurückkomme, stehen mir in Wolfsburg alle Türen offen.«
Linda nickte. »Ich weiß. Du kannst das gar nicht ablehnen.«
Jan stand auf, zog sie von ihrem Stuhl hoch und nahm sie in die Arme. »Tapferes Mädchen«, sagte er leise. »Es wird schwer werden, aber wir schaffen das. Oder was meinst du?«
Sie erwiderte seinen fragenden Blick mit einem leisen, zustimmenden Lächeln und strich über seine schmalen Wangen. Jan brauchte ihre Unterstützung und die Gewißheit, daß sie voll und ganz hinter seinen Plänen stand. Sie sah, daß er tief gerührt und erleichtert war, und in seinen Augen blitzte es freudig auf. Er drückte sie fest an sich.
»Ja, natürlich schaffen wir das«, sagte Linda. »Aber es kommt so plötzlich, und zwei Jahre ohne dich sind eine lange Zeit.«
Die nächsten Wochen vergingen schneller, als es Linda lieb war. Jans Abflugtermin war auf den 18. April festgelegt worden, und in der Zwischenzeit gab es jede Menge zu erledigen. Sowohl ihre als auch Jans Eltern hatten freudig überrascht reagiert. Es hatte Linda einen kleinen Stich versetzt, als sie sah, wie Jans Vater seinem Sohn auf die Schultern geklopft hatte und Jan sich verlegen, aber mit glänzenden Augen durch das kurze Haar gefahren war. Er hatte es immer noch nicht verwunden, daß sein jüngerer Bruder Christoph in die Fußstapfen des Vaters treten und in einigen Jahren die Wirtschaftsberatungsfirma übernehmen sollte, während er mit seiner technischen Begabung so ganz aus dem Familienrahmen fiel. Sein Verhältnis zu Christoph war kühl und häufig sehr angespannt. Jan genoß es, daß nun zur Abwechslung einmal er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand.
Lindas Vater war einer der angesehensten und erfolgreichsten Anwälte Wolfsburgs. Seine Kanzlei hatte sich im Laufe der Jahre zu einem florierenden Unternehmen entwickelt, und Linda war von klein auf damit vertraut, daß die Familie auf geschäftliche und berufliche Interessen Rücksicht zu nehmen hatte. Dennoch gab es in all der Aufregung und Hektik viele Momente, in denen der Abschiedsschmerz bereits an ihr nagte und sie mit einigem Bangen an die Zukunft dachte. Ihre Mutter hatte ihr geraten, Haltung zu bewahren und ihre persönlichen Gefühle zurückzustellen, worauf Linda nur ein säuerliches Lächeln hatte aufsetzen können. Elisabeths Haltung imponierte ihr keineswegs, sie empfand sie eher als steif und gefühllos.
Jan brach am Nachmittag auf. Ein Kollege, der im VW-Werk in Hannover zu tun hatte, würde ihn zum Flughafen mitnehmen. Linda war erleichtert, daß der Abschied nicht in einer Abflughalle stattfand, und sie hatte den Eindruck, daß es Jan ähnlich erging. Er umarmte Linda und Erik und schien sie gar nicht mehr loslassen zu wollen. Sein Lächeln war zärtlich und warm, aber seine Unterlippe zitterte ein wenig, und Linda wollte es ihm nicht unnötig schwer machen. Sie schluckte ihren Kloß im Hals herunter und küßte das Zittern weg.
»Sei vorsichtig«, flüsterte sie, »und vergiß uns nicht.«
»Paßt auf euch auf«, gab er zurück, dann drehte er sich um und ging.
Am späten Abend, als Erik längst tief und fest schlief, wanderte Linda durchs Haus, räumte auf und horchte in sich hinein. Die Stille in den Räumen hatte sich verändert. Linda holte sich einen Becher Kaffee und ging nach oben in ihr kleines Dachzimmer. Dort standen ein kleiner Schreibtisch und ein altes Plüschsofa. Hohe Kiefernregale reichten bis unter die Decke und waren dicht gefüllt mit Büchern und Ordnern. Selbst auf dem Boden stapelten sich in kunterbuntem Durcheinander Zeitschriften, Taschenbücher und Notizhefte. Linda genoß es, hier alles nach Belieben stehen und liegen lassen zu können und betrachtete diesen Raum als ihr ganz privates Reich. Sie mochte es nicht, wenn Jan oder Erik sie hier störten. Lediglich Claudia war willkommen. Und natürlich Anna.
Linda streckte sich auf dem Plüschsofa aus und lächelte. Anna war die ältere Schwester ihrer Mutter, und sie konnte sich kein ungleicheres Geschwisterpaar vorstellen. Sie schüttelte den Kopf. Was für eine Familie, dachte sie, und plötzlich spürte sie, wie bleischwere Müdigkeit durch ihren Körper kroch. Es war ein angenehmes Gefühl. Sie zog eine dicke Wolldecke über sich und kuschelte sich mit angezogenen Beinen ein.
Der Alltag mit seiner gleichmäßigen Routine half Linda über den Abschiedsschmerz hinweg. Im Grunde hatte sich nicht viel verändert. Sie verließ frühmorgens das Haus, brachte Erik in den Kindergarten, eilte in die Schule, holte ihn am späten Mittag wieder ab und seufzte erleichtert, wenn er eine Stunde schlief. Nachmittags war sie mit dem Kleinen unterwegs, kümmerte sich um ihren Haushalt und erledigte Einkäufe. Die Abendstunden waren neu, anders, ungewöhnlich. Sie spielte wieder regelmäßig Volleyball und traf sich mit Claudia oder ihrer Kollegin Bettina, während Erik von Tanja, einer Studentin, die ihn regelmäßig betreute, gehütet wurde. Manchmal lag sie am späten Abend entspannt auf dem Sofa im Wohnzimmer und hörte sich alte Musikstücke an. Sie...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.