Schweitzer Fachinformationen
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Als Linda aus dem Haus stürzte, konnte ich mich nur mit Mühe zurückhalten, ihr hinterherzulaufen. Ich hoffte, dass sie zu Corinna fahren würde, aber in der stillen Nacht war kein Motorgeräusch zu hören. Ich blieb in der Küche sitzen und wartete. Wartete darauf, dass sich der Sturm in mir wieder legte; wartete darauf, dass Linda zurückkehrte und mir Gelegenheit gab, sie in die Arme zu nehmen und zu trösten. Oder mir noch einmal zuhören würde.
Das Gespräch war nicht gut verlaufen. Aber was hatte ich eigentlich erwartet? Was hatte ich erwarten dürfen? Linda konnte meine Sehnsucht nicht nachvollziehen und all das, was sich dahinter verbarg oder verbergen mochte, denn oftmals verstand ich sie ja selbst nicht: diese Gier nach Veränderung und die Angst, es könnte zu spät sein, wenn ich nicht jetzt und sofort handelte. Meine Erklärungen waren zu banal gewesen, zu oberflächlich, wie das oftmals mit Worten der Fall ist, und Linda sah in ihnen nur ihre eigene Ausgrenzung und weniger meinen Versuch, sie einzubeziehen. Vielleicht würde ich mich an ihrer Stelle ähnlich fühlen, nach all den Monaten, die sie nur für mich dagewesen war, mit all den Träumen und Wünschen, die sie bewegten. Sie fühlte sich von einem Verlust zum nächsten getrieben, hin- und hergehetzt zwischen zerstörten Illusionen und neuen Hoffnungen, und nun, wo sich endlich alles zum Besten zu fügen schien, breitete ich meine Pläne vor ihr aus. Pläne, die sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen mussten und mit denen sie alles andere als einverstanden war. Doch obwohl Lindas aufgewühlte Gefühle mir nahegingen und ich wusste, dass wir es nicht leicht haben würden, spürte ich sehr deutlich, dass meine Entscheidung feststand.
Ich schenkte mir Kaffee nach. Die Erinnerung an jenen Sonntagabend im vergangenen Mai war so lebendig, dass ich mich manchmal fragte, ob sie je verblassen würde. Sie bedrängte mich und führte ein Eigenleben in mir, ohne dass ich darüber hätte sprechen können. Nur wenn ich malte, ließ sich das Entsetzen bannen, umwandeln, besänftigen. Ich hatte in dem umgestürzten Auto gesessen, und das Leben war aus mir herausgeströmt wie tiefrote Farbe aus einem umgekippten Eimer. Ich sterbe, hatte ich gedacht, fast verwundert. Draußen rannte ein junger Mann hin und her und schrie wie von Sinnen, dann hörte ich, dass er sich übergab. Später ein Nebel von Schmerz, laute Stimmen, weiße Kittel, eine sanfte Hand, und dann glitt ich hinüber in diese andere Welt - leicht wie ein Vogel. Vögel können nicht malen, dachte ich traurig, aber sie fliegen, beruhigte ich mich, das ist genauso schön, nur anders. Und ich flog durch tausend Wirklichkeiten. Mal pfeilschnell und nur auf die Bewegung konzentriert, dann langsam, fast schwebend. Ich wusste, dass ich woanders war, und ich sog alles in mich auf - Farben, Klänge, Gerüche. Einmal ließ ich mich an einem Fluss nieder und beobachtete einen alten Mann, der vor seiner Staffelei saß und an einem großen Bild malte. Er summte leise vor sich hin, und der Geruch des Pinselreinigers stieg mir stechend in die Nase. Sein Bild war wüst - ein wildes Durcheinander von Menschen und bizarren Formen, aber es faszinierte mich. Es faszinierte mich so sehr, dass ich die Hand ausstrecken und nach einem Pinsel greifen wollte, um ebenfalls zu malen. Doch das ging nicht. Aus irgendeinem Grund ging das nicht. Ich fing an zu weinen, und der Mann drehte sich zu mir um. Er lächelte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Da flog ich weiter.
Als ich wieder zu mir kam, war Linda bei mir. Ihre dunklen Augen streichelten mich, und ich sehnte mich danach, sie in die Arme zu schließen und aus ihrem Mund zu hören, dass alles wieder gut werden würde. Kaum konnte ich aufrecht sitzen, fing ich an zu zeichnen und zu malen, getrieben von einem Hunger, der neu war, und von einer Intensität, die mich erbeben ließ. Aber je mehr sich die Skizzen und Bilder häuften, desto mehr wuchs mein Wunsch, nicht länger allein vor mich hin zu malen, sondern unter Anleitung zu lernen, mich auszutauschen, Neues zu erfahren. Und aus dem bloßen Wunsch entstand allmählich ein Verlangen, das ein unbezähmbares Eigenleben in mir zu führen begann.
Der Gedanke an Paris tauchte so unvermittelt in mir auf, als hätte er nur darauf gewartet, im richtigen Moment Besitz von mir zu ergreifen und mich nicht wieder loszulassen. Verena, meine Zimmerkollegin in der Rehaklinik, erhielt Besuch von einer jungen Französin, und ich war erstaunt, wie viel ich noch von meinem Schulfranzösisch behalten hatte. Schade, dachte ich später, dass ich als junges Mädchen keine Gelegenheit hatte, als Au-pair nach Paris zu gehen, wie ich es mir immer gewünscht hatte. Und warum holst du es nicht nach? schoss es mir durch den Sinn. Ich schüttelte mit leisem Lachen den Kopf, doch der Gedanke ließ sich nicht vertreiben. Und er nahm immer mehr Raum ein, ohne seinen zunächst spielerischen Charakter zu verlieren. Erst als ich davon überzeugt war, dass ich keinesfalls da weitermachen konnte, wo ich vor dem Unfall aufgehört hatte, begann ich, meine Fühler auszustrecken und mich eingehend zu informieren.
Beate besuchte mich mehrmals in den folgenden Wochen und erzählte mir ausführlich von ihrem Jahr in Paris und gab mir die Adressen der Freundinnen und Freunde, die sie dort immer noch hatte; nach meiner Entlassung aus der Rehaklinik sprach ich mit Franzi, der stellvertretenden Schulrektorin, erkundete die Möglichkeiten, an einem geeigneten Austauschprogramm teilzunehmen; ich telefonierte mit der Kunstakademie, deren Anschrift Beate mir besorgt hatte, und mit einigen Grundschulen in Paris. Und schließlich wurde es ernst: Ich stellte einen Antrag beim Kultusministerium. Meine anfängliche Wunschträumerei war handfester Planung gewichen, und einen Moment lang hielt ich die Luft an - verblüfft über mein zunehmend konsequentes Handeln und die Eigendynamik, die die ganze Sache entwickelt hatte. Als dann auch noch das Schmerzensgeld von der Versicherung eintraf, war die Möglichkeit in greifbare Nähe gerückt, dass ich mich gleich nach dem Winterhalbjahr beurlauben lassen und bereits Anfang des Jahres nach Paris gehen konnte, obwohl das Lehrer-Austauschprogramm erst nach den Sommerferien begann. Auf diese Weise hätten Nadine und ich genügend Zeit, um uns einzuleben. Ich hatte mich um alles gekümmert, nur eines stand noch aus: das Gespräch mit Linda.
Früher mit ihr zu sprechen schien mir unklug, denn warum sollte ich Aufregung verursachen, solange ich nicht wusste, ob meine Vorstellungen sich tatsächlich verwirklichen ließen? Aber das allein war es nicht. Wenn ich ehrlich war, musste ich zugeben, dass ich Angst gehabt hatte. Angst vor Lindas Reaktion, ihrer Fassungslosigkeit und Verzweiflung, ihren Vorwürfen. Davor, dass ihre Erschütterung mich ins Wanken gebracht hätte. Jetzt hatte ich zwar Angst, dass ihr Drang, mich festzuhalten, unsere Beziehung erheblich belasten würde, aber noch größer war meine Befürchtung, mich zu verlieren in einem Leben, das ständig begleitet war von diesen Halbschatten aus verdrängten Wünschen und Sehnsüchten. Natürlich hatte ich auch Zweifel an der Richtigkeit meiner Entscheidung, doch sie waren nicht so übermächtig, um mich tatsächlich zur Umkehr bewegen zu können.
Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Linda blieb in der Tür stehen, ihr Gesicht war zu einer weißen Maske erstarrt, aus der mir ihre dunklen Augen entgegenblickten. Sie sieht aus wie ein verwundetes Reh, dachte ich und erhob mich. Mein Herz flatterte, und ich streckte die Hände nach ihr aus. Sie wehrte mich nicht ab, aber ihr Rücken blieb stocksteif, als ich sie in meine Arme zog und ihren zitternden Körper an mich drückte, der von Erschöpfung und Kälte durchdrungen war.
»Bitte«, sagte ich leise. »Ich verlasse dich nicht. Ich komme zurück. Gib uns beiden diese Chance.«
Sie schwieg, protestierte aber nicht, als ich sie ins Bad brachte. Ich ließ Wasser in die Wanne laufen und half ihr beim Ausziehen. Später saß ich auf dem Toilettendeckel und schaute sie einfach nur an. Sie war unter Bergen aus Schaum begraben und atmete mit geschlossenen Augen und bebenden Nasenflügeln den herben Zitronengeruch ein, während uns der heiße Wasserdampf umhüllte. Gerade als ich dachte, sie wäre am Einschlafen, schlug sie die Augen auf.
»Edith Piaf«, murmelte sie. »Ich habe dir eine Cassette mit Edith Piaf vorgespielt, als du im künstlichen Koma gelegen hast. Erinnerst du dich daran?«
Ich sann einen Moment nach. Da war ein Bild, aber bevor ich es beschreiben konnte, verschwand es wieder.
»Eine konkrete Erinnerung habe ich nicht«, entgegnete ich. »Aber es gibt Bruchstücke aus dieser Zeit, die plötzlich da sind und ebenso plötzlich wieder verschwinden.«
Sie nickte, und ihre Gesichtszüge entspannten sich. »Vielleicht habe ich ja ganz unbewusst meinen Teil zu deinem Traum beigetragen.«
Ich hatte den Eindruck, dass diese Vorstellung sie beruhigte. Für den Moment zumindest. Sie erwiderte mein Lächeln mit abwesendem Blick, als suchte sie vergeblich nach den richtigen Worten. Dann erhob sie sich langsam, und ich hüllte sie in den dicken flauschigen Bademantel. Als wir im Bett lagen, war es halb vier. Ich streckte mich neben ihr aus, spürte ihr nasses Haar an meinem Gesicht und wartete, bis ihr Atem tief und gleichmäßig war. Als sie eingeschlafen war, löste ich den Gürtel des Bademantels und öffnete ihn behutsam. Ihr schlanker Körper schimmerte weiß in der Dunkelheit, und ich betrachtete ihn verzaubert, nahm jede Einzelheit begierig in mich auf. Ihr Bauch hob und senkte sich langsam. Die Brustwarzen waren steif und erinnerten an kleine Walderdbeeren. Ich beugte mich über sie und küsste sie zart. Schließlich deckte ich...
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