Schweitzer Fachinformationen
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»Annunziata hat mich empfohlen. Bitte, Herr Raiser. Herr Direktor.«
Die Stimme der Mutter im Ohr. Immer Herr Direktor sagen, er ist dein zukünftiger Chef, vergiss das nicht, die Fabrik gehört ihm.
»Du bist erst dreizehn.«
»Aber ich kann arbeiten wie eine, die zwanzig ist. Ich kann einen Webstuhl bedienen. Wir haben in der Schule gewebt.«
»Welche Schule soll das gewesen sein?«
»Drüben, in Österreich. Sie wissen ja, dass mein Vater dort Arbeit hatte.«
»Beim Erbfeind bist du in die Schule gegangen? Und warum besuchst du die Schule hier nicht mehr?«
Wir hungern, Herr Direktor, will sie sagen, wissen Sie, wie das ist im Winter, wenn man hungrig ist? Es ist einem kalt trotz der zwei Decken, Hunger und Kälte sind Schwestern, Herr Raiser, aber das wissen Sie nicht, Sie wohnen in der gut geheizten Villa und essen jeden Tag Fleisch. Wir brauchen etwas zu essen und Holz zum Heizen und dafür braucht man Geld, Geld, Geld. In der Schule verdient man nichts. Es wird einem nichts geschenkt, Herr Raiser. Herr Direktor.
Sie sagt aber nichts, Raiser hat sicher längst verstanden. Die Frage war eine Farce, nur gestellt, um die Demütigung zu vergrößern. Er weiß, dass sie die Schule abbrechen musste, um zu arbeiten, vielleicht spürt er auch, als er das Zeugnis mustert und dann das Mädchen, das vor ihm steht, vielleicht spürt er, wie weh es ihr tut, wie gerne sie weiter gelernt hätte. Ihre Noten sind gut gewesen bis auf Italienisch, ihre Muttersprache, aber wie soll man denn schön sprechen, nachdem das erste Schuljahr auf Deutsch war, drüben bei den Erbfeinden. Sie kennt viele Ausdrücke hier nur im Dialekt, und diesen Makel ist sie erst in der Mittelschule losgeworden. Der Patron atmet tief ein und aus.
Sicher stellen sich hier jeden Tag Kinder vor, jeden Tag schaut Herr Raiser ihre Zeugnisse an, atmet tief und sagt »leider nein«.
»Na gut«, sagt er diesmal, »Annunziata hat sich ja auch geschickt angestellt und wenn du weißt, wie ein Webstuhl funktioniert, umso besser. Nur die hier sind etwas größer als die in der Schule.«
Dann geht alles sehr schnell. Er geht mit ihr in die Werkhalle, in der ein Lärm herrscht, der kein Krachen oder Dröhnen ist, sondern ein beständiges Klappern, das Schlagen von Holz auf Holz, hölzerne Peitschenhiebe für die Ohren der Arbeiterinnen in der Halle.
Keine über zwanzig, aussehen tun sie zehn, fünfzehn Jahre älter. Sie kann Annunziata nicht ausmachen, ihre ein Jahr ältere Nachbarin, aber sie muss an einem der Geräte sein, Sklavin der Maschine, Teil der proletarischen Masse, wie ihr Vater einmal gesagt hat. Keine der Arbeiterinnen blickt auf, ihre Gespräche sterben ab, als sie vorübergehen.
Raiser übergibt sie einem mausartigen Mann, der sich als Togliatti vorstellt und sie zu einem Webstuhl bringt, an dem ein hageres Mädchen mit tief liegenden Augen sitzt.
»Das ist Cinzia. Sie wird dir zeigen, was du zu tun hast. Schau ihr genau zu, dann geh ihr zur Hand. Bis zum Abend wirst du es schon heraußen haben.«
Cinzia legt gleich los, sie ist kurzatmig, ihre Anweisungen kommen hektisch gehaucht, als wäre sie gerade verprügelt worden.
Den Kamm nach vorne drücken, Kettfäden auf Spannung halten.
Pass auf, wo das Schiffchen ist, komm nicht durcheinander. Nein, nicht so. So, ja. Wenn der Kamm oben ist, dann lass das Schiffchen rechts. Wenn er unten ist, soll es links sein. Arbeite immer gleich, dann kann nichts passieren.
Kamm nach oben, Schiffchen mit Schussfaden durchziehen. Mit der Hand den Faden festziehen.
Und weiter: Kamm runter, Schiffchen durchziehen, Schuss festziehen, Kamm hoch, Kettbaum entriegeln. Halt die Schnur fest. Warenbaum entriegeln. Dann hier drehen, Gewebe auf Spannung halten, unten wieder verriegeln, dann . Tina kann nicht mehr folgen.
Sie versucht es immer wieder, die Fäden schneiden in die Fingerkuppen, Cinzia schimpft.
Nach einer Stunde schmerzen die Fingerkuppen, aber die Bewegungen gehen automatisch. Cinzia nickt anerkennend und beginnt zu reden.
Dass die dünnen Seidenfäden händisch gewebt werden müssen, das geht nicht mit einem automatischen Webstuhl. Dass die Fingerkuppen zuerst rissig und dann hart wie Horn werden. Dass Herr Raiser jeden Kommunisten sofort entlasse. Dass alle hoffen, dass einmal ein automatischer Webstuhl dafür erfunden wird. Andererseits, sagt Cinzia, hätten wir dann keine Arbeit mehr.
»Pass auf, jetzt ist der Faden fast gerissen. Das darf nicht passieren. Das hier ist Chiffon, damit beginnst du. Crêpe Georgette und Organza kommen später.«
Die Finger schmerzen, Cinzia erzählt von Maulbeerbäumen und Seidenraupen. Und von ihrem Verehrer, der Kohlen ausführt. Tina kann nicht mehr sprechen. Nach vier Stunden ist sie ganz Maschine - Kamm hinauf - Schiffchen - Kamm hinunter - Schiffchen, immer festziehen, immer - sie stellt sich Bilder zu Cinzias Worten vor, Maulbeerbäume voll von Seidenraupen, die in einem fort fressen und auf der anderen Seite einen Faden produzieren, mit dem sie den Kokon wickeln.
Zwanzig Minuten Mittagspause, die Arbeiterinnen packen Doppelbrote aus mit Käse, einige essen Polenta, die sie in zugeklammerten Emailtöpfen mitgebracht haben. Sie teilen mit Tina, die nichts dabeihat. Was auch.
Sie fragt Cinzia, ob die Menschen dann den Faden, mit dem der Schmetterling die Larve eingewickelt hat, wieder aufwickeln und so den Seidenfaden gewinnen. Stirbt dann das Schmetterlingskind, so ohne Schutz?
Cinzia sieht sie an, ihre Augen noch müder als vorher.
»Du stellst Fragen. Ich frage mich eher, wann Raiser zahlt. Er ist schon wieder im Verzug.«
Später erzählt ihr ein anderes Mädchen die ganze Geschichte noch mal von vorne, mit kleinen Änderungen. Die Raupe scheißt den Faden nicht, sondern spuckt ihn durch ein Loch vorne aus. Dann lässt sie den Kopf kreisen und hüllt sich selbst mit dem Faden ein. Nach einer Woche würde ein Schmetterling aus dem Kokon schlüpfen, aber die Menschen kommen vorher und haspeln den Faden ab.
»Es stimmt also«, sagt Tina. »Jeder Meter Faden ein totes Schmetterlingskind.«
Die Arbeiterinnen lachen.
Dir gehen Sachen im Kopf herum.
Den ganzen Nachmittag denkt sie an tote Schmetterlinge, um sie der peitschende Lärm und die Körperausdünstungen der Frauen.
Nur schnell weg! Weg von den Fabriken und den rußigen Fassaden der Arbeiterhäuser, weg von den Kohlgerüchen, die aus jedem Hauseingang wabern, von dem Mief nasser Erde, der aus den Kellerschächten kalt emporsteigt. Sie weiß, dass viele dieser Fabriken Spiegel herstellen, über achtzig Spiegelfabriken, haben sie in der Schule im Sachkundeunterricht gelernt, viele Familien leben davon. Aber wie die Arbeiter leben, das hat sie jetzt, mit neun Jahren, zum ersten Mal gesehen.
Sie zieht die Mutter an der Hand weiter. Endlich kommen die Geleise in Sicht. Erst jetzt wird ihr bewusst, welche Grenze die Gleisanlage bildet, die die Stadt in zwei Hälften teilt. Sie ist froh, auf der anderen Seite zu wohnen, wo die neuen Häuser stehen und die Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern. Hinter dem Bahnhof, wo sie jetzt sind, sieht die Stadt völlig anders aus.
In der Bahnhofspassage ist es kalt. Marie hat immer ein wenig Angst in der Unterführung. Sie hält Mutters Hand fest, bis sie auf der anderen Seite wieder auftauchen. Das nächste Mal, wenn die Mutter einen Weg in dieses Viertel hat, was selten vorkommt, wird sie nicht mehr betteln, mitkommen zu dürfen. Lieber will sie das nächste Mal bei Helene bleiben. Sie und Jakob dürfen ja bereits alleine zu Hause bleiben, wenn die Mutter einen Weg hat. Gut, sie ist neugierig gewesen und wollte sehen, wohin die Mutter geht, wollte endlich in diesen unbekannten und so nahen Teil der Stadt, in dem sich so viele Schlote in den Himmel recken.
Als sie den Bahnhofsvorplatz überqueren, am Zentaurenbrunnen vorbei, schreit jemand hinter ihnen. »Haltet den Dieb!«
Marie und ihre Mutter drehen den Kopf. Marie sieht gerade noch, wie zwei rußige Gassenjungen im Bahnhof verschwinden, weiter vorne steht eine Dreiergruppe vornehm gekleideter Männer, von denen einer die Faust zum Himmel reckt.
»Komm weiter«, sagt die Mutter und zieht an Maries Hand.
Marie muss an die Jungen denken, die auf die andere Seite entwischt sind, durch denselben Tunnel, durch den sie gerade gegangen ist. Vielleicht hat sie schon jemand eingefangen. Arbeiterkinder. Angeblich arbeiten in manchen Fabriken Elfjährige. Die werden nie mehr eine Schule besuchen. Marie spürt die Tränen aufsteigen, schluckt den Kloß im Hals hinunter.
Die Einmündung zur Gabelsberger Straße kommt in Sicht. Ihre...
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