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»Er hat Deutsch gesprochen. Ich habe versucht, Spanisch mit ihm zu reden, aber ich habe dann gemerkt, dass er mich nicht verstanden hat. Ich wollte nicht Deutsch reden.«
Veronika sagte es etwas zu schnell, unter der Entschuldigung schimmerte etwas durch, das Anton schon ausgelöscht geglaubt hatte. Er blies Luft durch die Nase. Er hat Deutsch gesprochen. Und wenn schon. Sie würden ihn nicht wiedersehen.
Anton musste daran denken, wie oft Veronika den Satz früher gesagt hatte. Der hat mit uns Deutsch gesprochen, schau, diese Familie pflegt auch noch Deutsch als Haussprache. Aber er hatte damals beschlossen, nur noch die Sprache der neuen Welt zu sprechen, und sie hatte sich gefügt. Er wollte nicht mehr an die alte Welt erinnert werden, an all das, was zurücklag, und sie hatte in das Vergessen eingewilligt. Anfangs, als sie das Verbot manchmal nicht beachtete, sagte er dann Sätze wie: Denk an die Armut und das Elend, das du zurückgelassen hast. Denk daran, wie du als Kind gehungert hast. Denk daran, wie aussichtslos alles war. Deutsch wird uns immer an die Armut erinnern. Hier ist unsere Zukunft, Spanisch ist ein Teil davon. Zehn, zwölf Jahre musste das her sein, mein Gott.
Und es hatte nur wenige Monate gebraucht, um die Sprache auszumerzen. Kurz hatte sich nach einigen Jahren ein Schlupfloch aufgetan: Als Anita ihre ersten Wörter brabbelte, musste Deutsch für Geheimnisse herhalten, vor Weihnachten oder wenn sie über Affären von Bekannten tratschten. »Warum redet ihr so komisch?«, fragte Anita zum ersten Mal, als sie fünf war.
»Ein Spiel von Mama und Papa«, sagte er anfangs. »Weißt du, wir spielen auch manchmal, mit Worten, einfach so. Es bedeutet nichts.« Dann hatte sie zu fragen aufgehört. Und die deutschen Worte wurden seltener und starben schließlich ganz.
Und jetzt wieder dieser Satz. »Er hat Deutsch gesprochen.«
Veronika reichte ihm ein Stück Papier.
»Das ist seine Karte. Ich finde es nett, dass er uns geholfen hat. Er hat die Rettung verständigt, ich musste ja bei Anita bleiben. Er hat mit uns gewartet, bis die Ambulanz eingetroffen ist.«
Anton musterte das Stück Papier, das sie ihm vor die Nase hielt, blickte auf seine Frau, die vor ihm stand, blickte auf seine Tochter, die auf dem Diwan lag, das rechte Bein in Gips. Nur wenige Minuten vor ihm waren sie nach Hause gekommen, Unfall beim Spielen. Er war völlig ahnungslos gewesen, Veronika hatte keine Zeit gefunden, ihn über den Vorfall zu verständigen. Er war in Erwartung von Essensgeruch aus der Firma gekommen und das Erste, was er sah, als er die Tür zur Wohnküche öffnete, war seine Tochter, die mit einem Gips am Bein auf dem Diwan lag. Warum musste sie ausgerechnet auf einen Baum steigen? Von ihm konnte sie das Draufgängerische nicht haben.
»Franz Steiner«, las er. »Fa. Foerster - technische Zeichnungen.« Die Adresse lag in Belgrano, ein paar Straßen weiter.
Anton wusste nicht, was er mit der Karte anfangen sollte.
Er wandte sich von Veronika ab, legte die Karte auf die Anrichte und ging zu Anita.
»Komm, ich trage dich in dein Zimmer!«
Sie legte die Arme um seinen Hals und ließ sich aufheben.
Schwer war sie geworden, dachte Anton, als er die Treppe in den ersten Stock hinaufstapfte. Er öffnete die Tür mit dem Ellenbogen. Ein Mädchenzimmer mit weißen Möbeln, rosa Tapete und Rüschenvorhang. Er legte sie ins Bett, deckte sie zu und setzte sich an die Bettkante.
»Es wird schon wieder. Tut es noch sehr weh?«
Anita schüttelte den Kopf, aber er merkte, dass sie die Zähne zusammenbiss. Sie wird jeden Tag größer, ich habe zu wenig Zeit für sie, dachte er.
»Das kommt bald wieder in Ordnung. Weißt du, ich habe mir auch einmal den Fuß gebrochen, da war ich schon etwas älter. Da war kein Arzt weit und breit. Aber bei jungen Menschen heilt das schnell. Und es ist ja nur angebrochen, nicht durch, hat Mama gesagt.«
Er versuchte linkisch, die Liegende zu umarmen.
»Du wirst bald elf, bist ein tapferes Mädchen.«
Er wusste schon lange nicht mehr, was er mit ihr reden sollte. So wenig Zeit. Was interessierte elfjährige Mädchen? Zuckerwatte? Pferde? Unter der Woche kam er immer spät aus dem Betrieb, und auf den sonntäglichen Ausflügen in den Palermo-Park oder in den Zoo zum Ponyreiten sprachen sie oberflächlich über die Schule, den schönen Tag und über die Dinge, die sie im Moment taten: eben spazieren oder Ponyreiten. Die Wochenenden waren für ihn wertvoll, mühsam erkämpftes Familienterrain nach so vielen Jahren der Plackerei und des Verzichts.
Er streichelte ihr übers Haar und blickte auf das Muster des Polsters. Rosen und Girlanden, rosa, weiß und grün.
Die Tür öffnete sich, Veronika kam herein. Sie trug einen Wasserkrug in der Rechten, mit der Linken stemmte sie eine Waschschüssel in die Hüfte.
»Komm, ich löse dich ab. Anita soll schlafen. Ich mache vorher noch Katzenwäsche.«
Anton erhob sich, dankbar.
Zwei Stunden später trat Veronika durch die Küchentür.
»Sie schläft jetzt.«
Sie sah müde aus. Anton schlug die Zeitung nieder. Er genoss es, abends im Lesesessel die Artikel zu überfliegen, auch wenn selten Gutes darin stand. Der Krieg war vorbei, jetzt übernahmen die Kommunisten Osteuropa.
»Gut.«
Veronika setzte sich an den Tisch und räumte die Rezepte weg.
»Es wird schon wieder, meinst du nicht?«
»Sicher.«
Er nahm die Zeitung wieder hoch. Diese banalen Dialoge! Was sollte man auf solche Fragen antworten?
Sie erhob sich, trat an den Herd und stellte einen Topf auf das Gaskochfeld.
Er blickte von der Zeitung auf und sah Zucker und Milch auf der Anrichte stehen. Bald würde der süße Karamellduft von Dulce de leche die Küche erfüllen.
Er schüttelte die Zeitung, um das Papier zu richten. Sowjetunion lehnt Marshallplan für Osteuropa ab.
Anita hatte einen Unfall gehabt. War einfach nur gestürzt. Nach drei Wochen würde sie wieder im Garten herumspringen, bei Kindern ging das so schnell. Er erinnerte sich an das Gesundbeten seiner Mutter. Wenn er sich einen blauen Fleck zugezogen hatte, spuckte die Mutter darauf, verrieb den Speichel und blies ihm Kühlung zu. Wenn etwas sehr wehtat oder er Fieber hatte, bat sie einen Heiligen um Beistand, Marija, poma'aj!, oder betete ein Gesätz des Rosenkranzes.
Er wollte die Zeitung lesen. Er hörte, wie Veronika die Milch in den Topf goss.
»Sollten wir uns diesem Steiner erkenntlich zeigen?«
Ihre Frage überraschte ihn. Er senkte die Zeitung.
»Wir könnten ihn zum Kaffee einladen«, sagte Veronika.
»Ja, wenn du meinst. Ich hätte ihm sonst eine Karte geschrieben und mich bedankt.«
Veronika hielt kurz inne, rührte und goss wieder Milch in den Kochtopf.
»Wir könnten wirklich einmal jemanden zum Kaffee einladen. Andere machen das auch.«
Anton hob den Kopf. Er grübelte, ob aus dem Satz ein Vorwurf herauszuhören war. Er schlug die Zeitung zusammen, erhob sich, drückte Veronika an sich und gab ihr einen Kuss.
»Meinetwegen. Wenn du es möchtest.«
Er setzte sich an den Schreibtisch im Wohnzimmer. Selten genug saß er da und schrieb private Briefe. Er überlegte.
Veronika hatte ja recht, sie kannte ihn zu gut. Er wollte mit anderen Menschen nur zu tun haben, wenn es unbedingt nötig war. In der Firma war es unumgänglich. Aber darüber hinaus? Wozu sich anderen Menschen anbiedern, er brauchte nichts von ihnen. Ihm hatte niemand etwas geschenkt, daher wollte er auch nichts von anderen. Außerdem wusste man nie, wem man trauen konnte in diesem Land. Das war in all den Jahren nicht anders geworden.
Hatte er Freunde? Damals, auf der Farm, ja, gemeinsam schuften und darben schweißt zusammen, das waren vielleicht Freunde gewesen, später dann Hugo. Aber jetzt? Die Leute in der Firma waren Untergebene, die vor ihm duckten. Die Zeiten, in denen er mit ihnen gefeiert hatte, waren lange vorbei. Mit den Österreichern in Belgrano, die vor zwei Jahren noch an den Endsieg geglaubt hatten, wollte er nichts zu tun haben. Er nahm Papier und Füllfeder.
Sehr geehrter Herr Steiner!
Ich danke Ihnen, dass Sie so freundlich waren, den Krankenwagen zu rufen und sich um meine Frau und meine Tochter zu kümmern, als diese neulich einen Unfall hatte.
Da ich gehört habe, dass Sie auch Österreicher sind, möchte ich...
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