Schweitzer Fachinformationen
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Als ich Robert nach den großen Ferien wiedersah, traf mich fast der Blitz.
«Alter», rief er, ohne sich mit einer konventionellen Begrüßung aufzuhalten, «warum kommst du so spät?»
Er musste mir aufgelauert haben, denn ich war gerade erst aus dem Fahrstuhl gestiegen in der siebten Etage und hatte meine drei Mitbewohner in 702 begrüßt, denen es gelungen war, unser gemeinsames Zimmer in eine Halde aus Klamotten, technischen Gerätschaften, feinmechanischen Werkzeugen und Unmengen von Lebensmitteln zu verwandeln. All das musste im Laufe des Abends aus ihren Koffern und Reisetaschen gequollen sein, und nun war es also da.
Doch statt das Zeug auf Wandschränke, Regalbretter und Schreibtischschubladen zu verteilen, lagen meine drei Kommilitonen in den Doppelstockbetten und lasen: Volker eine voluminöse Schwarte der Reihe Spannend erzählt, mit einer Karawane im Sonnenuntergang vorne drauf, Bernd die aktuelle Jugend und Technik und Jens eine Broschüre namens The show must go on aus der Reihe nl konkret.
Eine Schrift, wie ich später beim Durchblättern feststellte, die unsere Jugend vor der Zwiegesichtigkeit der westlichen Populärkultur warnte, welche darin bestehe, dem jungen Publikum zwar echte Gefühle vorzugaukeln, mit diesen aber hauptsächlich Geld verdienen zu wollen, wie jeder andere dahergelaufene Fabrikbesitzer, der Autos herstellte oder meinetwegen Haarbürsten.
Das Ganze war vermutlich nicht mal falsch, aber wann immer ich neuerdings den Eindruck hatte, jemand habe nur zur Feder beziehungsweise Schreibmaschine gegriffen, um mich zu belehren, damit ich am Ende seine abgestandenen Weisheiten zu meinen eigenen machte, klappte ich das Buch sofort wieder zu.
Ab diesem neuralgischen Punkt war für mich regelmäßig Schluss. Keine Ahnung, wann das losgegangen war mit diesem Spleen. Ende der Zehnten, würde ich aus der hohlen Hand schätzen, als wir angefangen hatten, freiwillig Bücher zu lesen, Michael und Dirk und ich, ein halbes Jahr vor den Prüfungen zirka.
Nicht, wie es weiterging, wollte ich dann wissen, und ob die schiefe Bahn wieder gerade wurde, auf die einer geraten war. Nicht, wer sich in wen verliebte, falls sich denn wer in jemand anderen verliebte, was aber so gut wie immer vorkam, und - straft mich Lügen! - in den langweiligsten Büchern tummelten sich sogar die meisten Verliebten.
War dieser Punkt erreicht, konnten mich auch gelungene Details nicht mehr überzeugen: Pech gehabt. Das war jetzt eben zur Masche von mir geworden, ein Buch wegzulegen, sobald ich den ersten erhobenen Zeigefinger entdeckte. Nennt es meinetwegen Trotz, aber davon wich ich nur ab, wenn es um quasi dienstliche Lektüre ging, ich meine, wenn wir etwas in Staatsbürgerkunde lesen mussten, wie letztes Jahr dauernd diese Lenin-Sachen, Staat und Revolution und Materialismus und Empiriokritizismus, oder wenn wir einen sozialistischen Entwicklungsroman im Deutschunterricht durchnahmen.
Dann schob ich die Lektüre zwar bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf, aber ich las die Bücher letztendlich doch. Es sei denn, ich fand irgendwo eine brauchbare Zusammenfassung. Dann las ich natürlich lieber die.
Aber ich schweife ab.
Es war nicht zu übersehen: In unserem Wohnheimzimmer hatte das Chaos des Ankommens die Herrschaft übernommen, über welchem wiederum ein komischer Geruch lag: eine Mischung aus dem Wofalor-Duft der frisch gewaschenen Sachen von zu Hause und dem Odeur von Jens' Thüringer Wurstwarenspezialitäten, die als monumentales Paket in Wachspapier auf unserem Gemeinschaftstisch in der Zimmermitte thronten, direkt unter der leise surrenden Neonröhre, und darauf warteten, endlich in kühlere Gefilde fortgeschafft zu werden, sprich: in den Kühlschrank der Etagenküche.
Ich hatte meine Reisetasche auf ein noch freies Stück des roten Linoleumbodens fallen lassen und wollte eben meinen Recorder auf das Wandbord überm Schreibtisch stellen, hinten rechts am Fenster, unter dem in der Tiefe die Wilde Saale floss, als es heftig klopfte und, ohne dass einer von uns «Herein!» gesagt hatte, sofort die Tür aufging.
Vorsichtig, würde ich behaupten. Zögerlich geradezu angesichts des forschen Klopfens zuvor.
«Alter», rief Robert also, ohne ein bourgeoises Guten Abend vorauszuschicken. «Warum kommst du so spät?»
Er stand im schwach beleuchteten Wohnheimflur und grinste schief, fast ein bisschen verlegen, aber mal ehrlich: Er hatte wirklich allen Grund, unsicher zu sein, so wie er hier vor mir stand.
Ich war überrumpelt von seiner Erscheinung, und vor lauter Erstaunen fiel mir keine sinnvolle oder ironische Entgegnung ein, und weil ich selber merkte, wie mir gerade die Spucke wegblieb, sagte ich lieber nichts und schlug nur wie ein Roboter in Roberts Hand ein, die er mir entgegenstreckte. Bei ähnlicher Gelegenheit, das fürs Protokoll, hatten wir uns früher durchaus umarmt.
Volker dagegen ließ sein Buch sinken, und über den Stahlrahmen seiner Kastenbrille hinweg, die linke Augenbraue hochgezogen, rief er, und es klang beinahe empört: «Junge, was ist denn mit dir passiert?»
Ehrlich?
Besser hätte ich es in diesem Moment auch nicht ausdrücken können. Und eines ist sicher: Es musste eine Menge passieren, damit ein Mathe-Physik-Heini wie Volker einen Mädchenschwarm wie Robert dermaßen schräg von der Seite anquatschte. Das gesamte letzte Schuljahr hatten sie vielleicht dreißig Worte gewechselt, und das ging dann so:
«Ist René da?»
«Nein.»
«Sag ihm, er soll hochkommen, wenn er zurück ist!»
«Mach die Tür zu, Mensch!»
«Wer redet denn mit dir, du Vogel?», kam es nun von Robert wie aus der Pistole geschossen, und er klang giftig und richtig aggressiv, was normalerweise gar nicht seine Art war und ihm nicht sonderlich gut stand, wie ich merkte. Wahrscheinlich hatte er die Frage heute einfach schon zu oft gehört.
Allerdings durchaus nicht von jedem.
Ich zum Beispiel harrte noch meiner Chance, sie zu stellen. Im Moment aber - das sah ich ein - war es ungünstig.
Damit sein Groll nicht weiter wuchs, legte ich schnell meinen Recorder aufs Bett und sagte zu Robert: «Lass uns eine rauchen!»
Der Fahrstuhlvorraum war einer von zwei Orten auf jeder Etage, wo Rauchen erlaubt war. Der andere war der Gemeinschaftsbalkon hinterm Fernsehraum, der sich über die komplette Hochhausbreite zog und von dem aus man die Silhouette der Stadt sah, wie sie am Horizont mit dem Himmel verschmolz. Die Stadt bestand ja aus einer Fülle von alten und neueren Ruinen: die Trümmer des Zentrums links, rechter Hand die gestapelten Module von Halle Neustadt, Ha-Neu, wie die Einheimischen es abkürzten. Blutrot das alles, wenn die Sonne an klaren Tagen unterging.
Ich holte die Club-Schachtel aus meiner Lederjacke und hielt sie Robert hin.
Robert sagte: «Lass uns in die Bierstube gehen. Ist doch so was wie unser Einjähriges heute.»
«Und Günter?», fragte ich. «Nehmen wir den mit?»
Günter war mein anderer Freund hier im Internat. Zu Hause wäre das unmöglich gewesen, denn dort hätte er als Angehöriger einer verfeindeten Jugendbewegung gegolten, was man ihm ansah, zwanzigtausend Meilen gegen das Licht.
Er hatte lange glatte Haare, die ihm hinten über die Schultern hingen und vorne bis auf die Brust. Er liebte Schlauchhosen, die seine Streichholzbeine schön zur Geltung brachten, und seine schwarzen aus Leder waren die schlimmsten.
Ich wollte nicht wissen, wie es roch, wenn er sie nach einem langen Abend in der Bergschenke abstreifte, um ins Bett zu fallen wie ein Stein. Günter behauptete, ganz normal beziehungsweise gar nicht, und dass Hosen aus Leder sowieso viel gesünder seien und natürlicher als alle anderen, weil sie schließlich selbst von etwas Lebendigem abstammten. Und dass die winzigen Poren darin, die man nur durchs Mikroskop sah, sogar besonders viel Luft an seine Beine ließen.
Seit er angetrunken, aber durchaus im Ernst behauptet hatte, Schweine, ursprüngliche Erzeuger des Leders, würden schließlich auch nicht schwitzen, war ich aus dem ewigen Palaver um sein Hosenklima ausgestiegen. Diese Diskussion fochten Robert und er seitdem unter sich aus.
Günters Jeansjacke passte zu seinen Schlauchhosen wie die Faust aufs Auge. Sie war zugepflastert mit Nieten und Aufnähern von Heavy-Metal-Bands, und selbst ein Eisernes Kreuz war da mal drauf gewesen, wie der Sänger von Motörhead eines trug, aber nur einen Tag lang, in seiner alten Schule in einem Kaff im Bezirk Cottbus.
Noch vor der ersten großen Pause war er zum Direktor bestellt worden, um dann am Nachmittag eine Stellungnahme zu schreiben, in der er beteuerte, dass er, anders als seine Frisur und die Klamotten es vielleicht vermuten ließen, keineswegs den sozialistischen Pfad verlassen habe und erst recht nicht irgendwelche revanchistischen Gedanken hege. Lediglich aus jugendlicher Unreife und Geltungssucht habe er das Kreuz auf seine Jacke genäht, und aufgestachelt worden dazu sei er von einem feindlich-negativen Jugendlichen von woanders.
Im Anschluss hatte Günter sich zwei Wochen lang die Matte mit Wasser zum Scheitel gekämmt, und die Schule, froh, einen der Besten des Jahrgangs nicht an die westliche Dekadenz verloren zu...
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