Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
«Isses nicht herrlich, Ändie?», sagte Ulrike, ohne den Blick von den weiten Feldern zu nehmen, die sich rechts der Allee bis an den Horizont dehnten.
Sie hatte ihre Stirn an das Seitenfenster des Ello gelehnt, als müsse sie gekühlt werden. Es waren die ersten Worte, die sie sprach, seit wir südlich von Cottbus von der Autobahn abgefahren waren, um auf einer der ruhigen, wenn auch holprigen Landstraßen Neu Buckow zu erreichen. Für einen Sonntagnachmittag herrschte mäßiger Verkehr. Die Leute, die unterwegs waren, schien es, fuhren alle ihre neuen alten Westautos spazieren.
Ulrike hatte recht, dachte ich, es war wirklich herrlich hier draußen. Die saftig grünen Getreidetriebe, die dicht beieinanderstanden, ließen die Äcker aussehen wie einen endlosen englischen Rasen. Hin und wieder standen ein paar dekorative Rehe darauf herum, und in der Luft kreisten majestätische Greifvögel, die ich als Kind der Stadt leider nicht näher bezeichnen konnte. Waren es Milane? Oder Falken?
«Was sind denn das für Vögel da oben?»
«Weiß ich nicht, Ändie», sagte Ulrike. «Adler, würd ick mal tippen.»
«Adler! Na klar!», kam es höhnisch vom Fahrersitz.
«Mensch, Arnd, das war doch nicht ernst gemeint», sagte ich.
«War es wohl», maulte Ulrike. Dann zog sie einen Schmollmund, aber nur für ein paar wenige Sekunden, bevor sie fortfuhr: «Haste denn 'ne bessere Idee, Bruder?» Jetzt grinste sie schon wieder.
«Geier, liebe Schwester», sagte Arnd, «das waren bestimmt Geier», und Ulrike sagte: «Idiot», und wandte sich wieder dem Seitenfenster zu, an dem die Landschaft vorbeizog, als sei die Niederlausitz ein einziger Golfplatz.
Gleich nachdem wir das Ortsschild von Potsdam hinter uns gelassen hatten, war völlig unerwartet die Sonne hervorgebrochen. Sie schien plötzlich schräg von vorn in die Ello-Fahrerkabine herein, wo Ulrike und ich zusammengezwängt auf dem Beifahrersitz saßen. Für einen Moment kniffen wir die Augen zu, um uns an das viele Licht zu gewöhnen. Arnd, als hätte er den Wetterumschwung geahnt, zog eine Sonnenbrille aus der Innentasche seiner Lederjacke. Ich probierte, durch die Lider zu blinzeln, Ulrike dagegen behielt ihre Augen einfach zu, so als genieße sie die Wärme auf dem Gesicht. Es sah lange aus, als schliefe sie.
Ich weiß nicht, ob es an dem jähen Lichtschlag lag oder der kurzen Blindheit, die auf ihn folgte, doch noch ehe ich wieder mehr erkennen konnte als ein paar Schemen, dachte ich, dass es gelingen könne, jene Sorgen zurückzulassen, mit denen die Menschen hinterm Ortsschild sich plagten. Ich konnte jetzt, die flache Hand über den Augen als Sonnenschutz, nicht mal mehr sagen, welcher Art diese Sorgen waren, dabei hatte ich sie doch bis eben mit den anderen geteilt. Ich wusste nur, dass ich die Sorgen, wie auch immer sie beschaffen waren, ob wichtig oder banal, ob berechtigt oder eingebildet, nicht mitnehmen wollte.
Die Stadt ist ein Hort der Sorgen, dachte ich, während ich noch immer nicht scharf sah, und mir fiel natürlich selbst auf, wie schal diese Überlegung war. Aber sofort fiel mir als Nächstes auch ein, dass die Furcht, nicht originell zu sein oder schlagfertig oder ausreichend ironisch, im Grunde nur eine weitere der Sorgen war, die besser jenseits des Ortsschildes blieben, und deshalb wiederholte ich, um das Thema erst einmal abzuschließen, den schalen Einfall gleich noch ein zweites Mal: Die Stadt ist ein Hort der Sorgen, und wir gehen aufs Land.
Die Sonne war also rausgekommen, und sie hatte die Autobahn zu einem leuchtenden grauen Band gemacht, dem wir nur zu folgen brauchten. Und als wir die schöne Lausitzer Allee entlangfuhren, schien sie immer noch, hing jetzt nur ein wenig tiefer am Himmel, doch die ganze Zeit ließ sie Ulrikes honigblonde Haare funkeln, die heute zu zwei Schnecken aus akkurat geflochtenen Zöpfen gedreht waren.
Schon an der erweiterten Oberschule war Ulrike berühmt gewesen für ihre Haare. Oder besser gesagt: berüchtigt. Die lässigen Mädchen trugen damals, vor fünf, sechs Jahren, toupierte Haare, Nacken und Seiten ausrasiert. Die mehr als lässigen färbten sich die Haare schwarz und ließen sie zu einem Bob schneiden, die Mädchen der Jungen Gemeinde hatten zentimeterlange Igel, die perfekt zu ihren Nickelbrillen passten und zu den Friedensliedern ihrer Wanderklampfen. Nur Ulrike mit ihren strengen Zopffrisuren wirkte an unserer Schule wie aus der Zeit gefallen. Große teutonische Ingenieurskunst stecke hinter diesen perfekten Zöpfen, spottete Arnd damals, und manchmal redete er seine Schwester mit mein deutsches Mädel an, wobei er seine Stimme durch die Nase schnarren ließ. Dabei sah er meist selber aus wie ein frischgeschorener Pimpf, nur fiel ihm der Scheitel bis zum Kinn.
Die beiden Geschwister muteten schon ein bisschen seltsam an, wenn sie gemeinsam durchs Wohngebiet liefen. Ulrike in ihren dezent gemusterten, irgendwie ländlich wirkenden wadenlangen Kleidern, den etwas größeren Arnd an ihrer Seite, in schwarzer Hose, weißem, bis zum obersten Knopf geschlossenem Hemd, mit schwarzen Hosenträgern und Lederjacke. Dazu ihre Frisuren und die blonden Haare, die in der schwärzesten Nacht noch leuchteten. Kein Wunder, dass die Leute über ihre Wertvorstellungen spekulierten und darüber, ob nicht womöglich eine extrem reaktionäre Ideologie hinter dem Aussehen stünde.
Ulrike wies solcherlei Unterstellungen mit großer Verve von sich, Arnd dagegen verneinte stets auf eine Art, die offenließ, ob nicht auch das Gegenteil richtig sein könne. Das hielt ihn im Gespräch, und allein darum ging es ihm.
Während Arnd in der Schule zu einem guten Freund wurde, blieb Ulrike blass. Ich hielt sie für schüchtern und in sich gekehrt und verdächtigte sie, klassische Konzerte zu besuchen. In ihrem Mädchenzimmer schrieb sie vermutlich Tagebuch und las ganze Gebirge von Büchern weg. Arnd und ich lasen zwar auch, doch bei uns waren die Bücher anfangs eher Accessoires gewesen, die man ins Café mitnahm, um sich mit ihnen zu zeigen. Und selbst als später unser Interesse aufrichtig wurde, verloren sie diesen Status nie wieder ganz. Ulrike dagegen las wahrscheinlich still in ihrem Kämmerlein Romane über die Liebe, denn sie war eben nur die ältere Schwester meines Freundes, die antiquierte Frisuren auftrug.
So dachte ich noch immer, als ich sie wiedersah im Oktober 89 an der Humboldt-Universität. Sie stand in der Kassenschlange der Mensa, und ich erkannte sie sofort: die blonden Haare, den dicken, akkurat geflochtenen Zopf, das Kleid unter dem Mantel. Sie hatte sich nicht verändert in den drei Jahren, die ich beim Wehrdienst gewesen war. Ich stellte mein Tablett mit Essen voll, und als ich das nächste Mal zur Kasse sah, war Ulrike verschwunden. Schicksal, dachte ich. Ich war weder traurig noch froh darüber. Eine halbe Stunde später rammte mir jemand im Gedränge der Geschirrrückgabe ein Tablett in den Rücken, während ich gerade die Reste in den Schweinekübel kratzte.
Ich drehte mich um.
«Andreas! Was machst du denn hier?», rief Ulrike, und es hörte sich an, als ob sie sich freue, mich zu sehen.
«Ich studiere jetzt auch», sagte ich.
So nah wie in diesem Moment war ich ihr noch nie gewesen. Ich sah jetzt nur ihr Gesicht, nicht den Zopf, nicht das Kleid, und was ich sah, gefiel mir gut. Ich musste sofort an Arnd denken und was der davon halten würde, und ich sagte: «Schön, dich zu sehen, Ulrike, wirklich.»
«Und was studierst du?», fragte sie. Die Umstehenden fingen schon an zu murren, weil wir den Verkehr aufhielten.
«Deutsch und Geschichte», sagte ich und stellte meinen Teller ab.
Wir gingen ins Operncafé auf der anderen Straßenseite und bestellten Eisbecher und Kaffee, ein Glas Sekt und einen Weinbrand. Ulrike erzählte, dass sie Slawistik studiere, auf Diplom, und sie erzählte von ihrer Wohnung in der Stargarder Straße. Aus dem Fenster könne sie die Gethsemane-Kirche sehen und so habe sie alles mitbekommen, was sich dort in den letzten Wochen abgespielt hatte.
Ich berichtete von meinem eigenen kleinen Zimmer in der Choriner Straße. Wie ich eines Sonntagnachmittags einfach losgezogen war, um eine leerstehende Bude zu finden, mit einem Schraubenzieher in der Tasche und einer Kombizange. Es waren ja Tausende in den Westen gegangen im Sommer, da mussten doch auch Tausende Wohnungen leerstehen. Ich erzählte ihr, wie ich das Glück hatte, gar nicht einbrechen zu müssen. Nicht mal ein Werkzeug hatte ich gebraucht, denn die Wohnungstür war nur halb ins Schloss gezogen. Im Küchenwaschbecken stand noch das dreckige Geschirr des Vormieters, aber das Ungewöhnlichste war ein großes Hochbett aus Kiefernbalken, das im einzigen, fast trapezförmigen Zimmer stand und zu dem eine hölzerne Treppe hinaufführte. Aus dem Fenster konnte man das Stadtbad in der Oderberger Straße sehen.
Wir bestellten noch eine Runde Sekt und Weinbrand und beschlossen, heute auf Vorlesungen und Seminare zu pfeifen. Wenn es so etwas gab, nach all den Jahren, in denen wir uns ignoriert hatten, war es Liebe auf den ersten Blick. Jedenfalls was mich betraf.
Eines aber war neu an Ulrike: Sie hatte sich eine große Klappe zugelegt. Ein loses Mundwerk, das sarkastisch sein konnte oder kokett, auch ein bisschen ordinär oder sehr gewählt. Ob das an der Großstadt lag, in der sei seit mehr als zwei Jahren lebte, oder dem Linguistikstudium, konnte ich nicht sagen, Ulrike redete jetzt jedenfalls gerne und laut, und das stand ihr ausgesprochen gut, denn es machte sie unglaublich .
«Träumste etwa, Ändie?»
«Ich musste dran denken, wie wir uns kennengelernt haben.»
«Ooch, das ist süß von...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.