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Wo war ich stehen geblieben? - Ach so: Es war Montag, der zweite September des Jahres 1985, und der erste Tag des neuen Schuljahres hatte begonnen.
Mein Vater, der über die Sommermonate in Genf gewesen war, um am Verhandlungstisch für den Weltfrieden zu kämpfen, hatte noch ein paar Tage Urlaub und mich mit unserem Wartburg in den Harz gefahren, wo nicht nur meine Großeltern seit Menschengedenken lebten, sondern sich auch dieses komische Ferienlager-Areal befand, in dem sich alle künftigen Insassen unseres Internats eine Woche lang kennenlernen mussten.
Vielleicht erinnert ihr euch: Ich sollte nach dem Abitur nichts Normales studieren wie Chemie oder Agrarwissenschaften oder Journalismus, sondern war verdonnert worden zu einem obskuren Fach namens Organisation der materiell-technischen Basis, und weil eine solche Rarität in heimischen Breiten nicht angeboten wurde, musste ich deswegen extra ins Ausland, sprich: mein Studium in zwei Jahren würde mich nach Moskau führen, Hauptstadt der ruhmreichen Sowjetunion.
Weshalb ich das Abi auch nicht in Potsdam machen konnte, wie jeder normale Mensch und alle meine Freunde, sondern auf diese Spezialeinrichtung namens ABF delegiert worden war, die sich weit abseits meiner Heimat befand, in Halle an der Saale.
Was heißt: verdonnert worden?
Ich hatte eher den Zeitpunkt verpasst, die ganze Sache wieder abzublasen, nachdem ich einmal auserkoren worden war für diesen Sonderposten. Der Mann im Schulamt, oder wie das hieß, hatte mir seinerzeit mit wichtiger Miene erklärt, dass es mir eine Ehre sein solle, weil dafür wirklich nicht jeder in Frage käme.
Ich leider schon.
Denn dummerweise war ich nicht nur gut in der Schule, ich verfügte außerdem über keine direkte Westverwandtschaft, und mein Vater bekleidete obendrein irgendeinen Posten in der Partei. So was wie Kassierer oder Wandzeitungsredakteur, keine Ahnung, was für verschiedene Ränge es da bei den Erwachsenen genau gab.
Sagen wir's mal so, ich war in diese Sache reingeschlittert wie die Jungfrau mit dem Kinde, und deshalb also saß ich nun seit mehr als zwei Stunden vor dem Ferienlager-Eingang, denn mein Vater in seinem Pünktlichkeitswahn hatte mich mal wieder viel zu früh abgesetzt.
Ich war überhaupt der Allererste!
Wie bestellt und nicht abgeholt!
Ich rauchte eine Club nach der anderen.
Ich hörte Musik mit dem Walkman und wartete ansonsten nur, dass diese dämliche Veranstaltung endlich losging, bei der ich mich fünf Tage lang mit meinen künftigen Mitschülern bekannt machen sollte und wo mir nebenbei vielleicht endlich mal jemand erklärte, was für eine komische Organisation das eigentlich genau war, ich meine, die der materiell-technischen Basis.
So gegen vierzehn Uhr kam endlich etwas Bewegung in die Sache. Immer mehr Autos hielten jetzt vor dem Ferienlagereingang und spuckten Jugendliche aus, Mädchen und Jungs. Manche kamen auch zu Fuß den Berg hoch, auf dem das Ferienlager platziert war, vermutlich von der Bushaltestelle unten im Dorf. Die Eltern, die sie begleiteten, waren rot im Gesicht und keuchten.
Jetzt also geht es los, dachte ich und merkte, wie meine Hand auf einmal zitterte, als ich mit einem Streichholz die nächste Club anstecken wollte.
Weil mir langsam der Schädel dröhnte von der lauten Musik, setzte ich die Kopfhörer ab: Ein leichter Wind rauschte durch die Kronen der Bäume, die hier überall rumstanden, weil das Ferienlager natürlich mitten in den Wald hineingehauen worden war. Kiefern oder Tannen und auch solche mir richtigen Blättern gab es, also: Laubbäume. Die Vögel zwitscherten, und ich konnte sogar einen Kuckuck heraushören und das Pochen von mindestens zwei Spechten.
Statt direkt reinzugehen, standen die Neuankömmlinge noch eine Weile mit ihren Eltern auf dem Vorplatz beisammen, Kraxen, Reisetaschen und Koffer zu den Füßen. Alle ließen irgendwie die Köpfe hängen, und die Gespräche schienen auch nicht gerade zu sprudeln. Da war noch echt gut dran, wer sich wenigstens an einer Zigarette festhalten konnte.
Ein wirklich seltsamer Anblick war das: Ihr müsst euch einfach diese vielen, unregelmäßig verteilten Menschengrüppchen vorstellen und wie sie stumm dastanden auf dieser staubigen, zerfurchten Fläche vor dem Ferienlager, eine Mischung aus Wüste und Parkplatz. Ein bisschen erinnerte mich die Szene an ein Gemälde von Dalí, dieser surrealistische Maler da, der ein bisschen aussah wie d'Artagnan, Anführer der Musketiere. Man hätte nur ein riesiges Spiegelei auf alles draufpacken müssen oder zwei, drei Handvoll geschmolzenen Käse.
Nach so zirka zehn Minuten Herumstehen stiegen die Eltern wieder in ihre Trabis und Wartburgs und fuhren ab, während aus dem Tal immer neue Autos mit neuen Eltern und Kindern eintrudelten, die sich dann ihrerseits wieder in sprachlosen Grüppchen aufstellten. Es herrschte ein sogenanntes Kommen und Gehen, und wenn ich ein bisschen genauer darüber nachdachte, verstand ich diese Trauermienen und hängenden Köpfe sogar ganz gut.
Denn irgendwie war das hier schon so was wie ein Abschied für immer. Zwei Jahre würden wir von nun an im Internat leben, und nur alle zwei Monate mal durften wir für ein Wochenende nach Hause fahren. So wenigstens hatte es in der Gebrauchsanleitung für die ABF gestanden, die vor zirka einem Dreivierteljahr im Briefkasten gelegen hatte. Dort hatte auch gestanden, dass wir uns am heutigen Tag hier einzufinden hätten und was wir mitbringen sollten: Sportzeug, Kulturbeutel und diesen ganzen Krempel und gegen die Langeweile auch ein Buch: Staat und Revolution.
Kennt ihr nicht?
Ist von Lenin, Wladimir Iljitsch.
Mehr brauche ich wohl nicht zu sagen.
Wir Jungs jedenfalls mussten im Anschluss ans Abitur auch noch acht Monate zur Fahne, zur Asche, wie die langhaarigen Hippies im Café Heider die Armee nannten, ihr wisst schon, diese Typen mit Shell-Parkas und Klettis an den Füßen, knöchelhohe Wildlederschuhe ohne direkte Form.
Und dabei hatten wir noch Glück!
Alle normalen Jungs nämlich mussten anderthalb Jahre dorthin, und jeder, der studieren wollte - also hier, meine ich, bei uns, und nicht im Ausland -, musste sogar drei Jahre zur Asche, und zwar freiwillig.
Also: freiwillig in Gänsefüßen.
Rabatt kriegte man nur, wenn man sich was aussuchte, was sonst keiner studieren wollte, für die Volkswirtschaft aber wichtig war, Informatik, sagen wir mal, oder Lehrer für Mathematik.
Wenn wir dann zwei Jahre Internat und die Zeit bei der Asche rumhatten, ging es ja auch schon direkt nach Moskau oder Rostow am Don oder, wenn man Pech hatte, nach Nowosibirsk, und das für weitere fünf Jahre.
Versteht ihr, was ich sagen will? Das war eine lange Zeit der Entfremdung zwischen Eltern und ihren Kindern, die bis dato doch praktisch jeden Tag aneinandergeklebt hatten wie Klettverschlüsse, weshalb es also kein Wunder war, dass sie jetzt in diesen traurigen Grüppchen im Staub vor dem Ferienlagereingang rumstanden und nicht wussten, was sie reden sollten.
Ich merkte ja selber, dass heute etwas tot war, das gestern zumindest noch in den letzten Zuckungen gelegen hatte.
Und wisst ihr, was das war?
Die Kindheit!
Punkt fünfzehn Uhr erhob ich mich von meiner Reisetasche, die vom langen Rumsitzen eine richtige Delle gekriegt hatte. Ich konnte nur hoffen, dass meine Bücher nicht zerknittert waren oder die Hüllen meiner Kassetten angeknackst.
Unmengen an Jugendlichen waren unterdessen an mir vorbei ins Ferienlager gesickert, und bei allem Mitleid, das ich für sie empfand zwecks Trennungsschmerz, Entfremdung und allem, war meine Stimmung nach und nach ins Ärgerliche umgeschlagen. Denn egal ob Mädchen oder Junge, jeder, wirklich jeder von ihnen hatte mich im Vorbeigehen angestarrt.
Klar, ich saß strategisch ungünstig, so direkt neben dem Eingang, aber sie glotzten mich an, als sei ich der Allmächtige, ich meine, als sei ich der Leibhaftige, und erst durch ihre stierenden Blicke fiel mir wieder ein, in welchem Zustand ich eigentlich war.
Ich erinnerte mich, wie mir am Morgen im Bad der Kajalstift in die Hände geraten war, den mir Connie bei unserem Abschied im Orion überreicht hatte, damit ich ihn Mario zurückgab, was ich vergaß. Stattdessen hatte ich ihn heute selber benutzt, vorsichtig nur, und ehrlich gesagt, konnte ich jetzt auch nicht mehr sagen, warum, aber man sah natürlich trotzdem, dass was nicht stimmte mit meinen Augen.
Dann wurde mir bewusst, dass ich diese schwarze, leicht abgeranzte Ramones-Lederjacke trug, die ich in den Ferien auf dem Flohmarkt in Kaltennordheim gekauft und auf die Connie mit weißem Reparaturlack «What you cannot have sir, you must kill» gepinselt hatte, hinten auf Schulterhöhe, ganz klein, weil ich doch so am Boden gewesen war wegen der Trennung von Bianca.
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