Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Keine Ahnung, wer zuerst zu wem kam, die Melancholie zu mir oder ich zur Melancholie. Aber eines stand fest: Seit einem Jahr war sie da. Und das andere: Sie ging seitdem nicht mehr weg.
Nicht mehr freiwillig.
Ich guckte in den Badezimmerspiegel, als mir dieser Gedanke in den Kopf schoss. Nicht dass jemand glaubt, ich würde mir solche Sachen aus den Fingern saugen, um mich interessanter zu machen oder wozu auch immer. Diese Ideen kamen einfach, und zwar aus dem Nichts, sie schlugen dann quasi in mein Gehirn ein wie der sogenannte Blitz aus heiterem Himmel.
Im Moment vorher überlegst du noch, ob du die Haare heute lieber nach links legst oder besser nach rechts wie immer, wo sie das Segelohr, was dort blöderweise wächst, wenigstens ein bisschen kaschieren. Und dann denkst du vielleicht noch so was wie: Nehm ich heute einfach nur Seife, was schneller geht, oder die teure Frisiercreme oder aber beides zusammen, und plötzlich - du hast gerade die Hände voller Schmadder und fuhrwerkst damit in deinen Haaren herum -, zack, ist er da, dieser Melancholie-Einfall oder irgendeine andere komische Idee. Und mit einem Mal ist dir total egal, in welche Richtung deine Haare heute stehen werden, denn mit einem Mal ist dir klar: Mensch, René, es gibt so viel Wichtigeres auf der großen, weiten Welt als den Sitz deiner dämlichen Frisur.
Jedenfalls ein, zwei Momente lang.
Das mit den Blitzeinfällen hatte stark zugenommen, seit wir vor einem Jahr angefangen hatten, diese Bücher zu lesen, Dirk, Michael und ich. Baudelaire und diesen ganzen Kram. Auch unseren Wortschatz hatten die Lektüren ziemlich aufgemotzt. Wir sagten jetzt Equipage statt Kutsche, wir sagten heutzutage, jemand sei impertinent, der uns früher einfach nur auf die Ketten gegangen war, und unser Segelohr, das heißt, meines, versteckte ich nicht mehr unter den Haaren, sondern kaschierte es.
Durch sie.
Nur Mario, den ich schon seit der Krippe kannte und der im selben Aufgang über uns wohnte und fast eine Art Bruder für mich war, weigerte sich nach wie vor, diese Meisterwerke der Literatur zu lesen. Jedes Mal lavierte er rum, wenn wir ihm eines jener unglaublichen Bücher ausleihen wollten, die gerade dabei waren, unsere bisherigen, kleinen und mehr als ordinären Leben total auf den Kopf zu stellen. Und ich meine: im guten Sinne auf den Kopf zu stellen. Vielleicht sogar andersrum: sie vom Kopf zurück auf die Füße zu stellen.
Keine Zeit, behauptete Mario meist, weil er noch seiner Mutter helfen müsse beim Aufräumen oder weil die Hausaufgaben noch nicht erledigt seien oder was ihm sonst an Ausreden einfiel, nur um nichts lesen zu müssen. Denn Mario war ein ziemlich fauler Strick, und wenn er zu uns sagte, er werde für seine Mutter einkaufen gehen, bedeutete das keinesfalls, dass er das wirklich machte, sondern lediglich, dass er zum Beispiel den Ekel von Jean-Paul Sartre nicht lesen wollte, den man hier im Wohngebiet neuerdings an jedem Zeitungskiosk erstehen konnte. Frage mich keiner, warum.
Dabei waren ein paar von unseren Büchern echt selten.
Es gab sie nicht einfach so zu kaufen.
Da konntest du Kohle haben bis zum Gehtnichtmehr, aber wenn's was nicht gab, dann gab's das eben nicht.
Basta.
Da nutzte kein Geld der Welt was, sprich: keine Mark der DDR, logisch. Und ich rede hier nicht von Tomatenketchup, Badezimmerfliesen, Autos und dem ganzen anderen Schwachsinn, den man nicht kaufen konnte. Ich spreche hier nur von Büchern, allerdings von den sogenannten guten.
Baudelaire und Konsorten.
Aber selbst wenn es diese Bücher zu kaufen gegeben hätte, wären sie wahrscheinlich unterm Ladentisch weggegangen.
Das sah man ja bei Karl May, der lange verboten gewesen war, wegen Revanchismus oder so. Und als sich dann vor ein paar Jahren der Wind drehte, weil er nicht mehr revanchistisch genug war oder weil sich die Maßstäbe für Revanchismus geändert hatten, da kamen plötzlich die ganzen Fliesenleger und Klempner und Autoschlosser in die Volksbuchhandlung und schnappten den armen Kindern die Karl-May-Bücher vor der Nase weg. Weil sie ja was nachzuholen hatten zwecks ihrer eigenen Kindheit. Und selbstverständlich kriegten sie die Bücher als Erste, weil ja auch Buchhändlerinnen ein Bad hatten, wo, wie bei den meisten Bürgern unseres Landes, nur Tapete über der Wanne klebte, die nass wurde beim Duschen und sich irgendwann von der Wand schälte. Klar, und weil die Buchhändlerinnen obendrein einen gebrauchten Moskwitsch besaßen, der jeden Winter von zwei Grad plus abwärts nicht mehr ansprang. Und weil auch die Toilette der einen oder anderen Buchhändlerin mal verstopft war und das ausgerechnet am Sonntag.
War ja nur allzu menschlich das Ganze.
Wobei ich nicht behaupten will, dass die versammelten Handwerker Baudelaire lesen würden, wenn's den plötzlich in der Volksbuchhandlung geben würde. Da existierte vermutlich kein einziges Loch in einer Schornsteinfeger-Biographie, das sich mit den Blumen des Bösen stopfen ließe. Die Fliesenleger und Klempner würden uns vermutlich in hundert Jahren keinen Baudelaire vor der Nase wegkaufen, so wie sie es bei den Kindern mit den Karl-May-Schwarten machen. Was bedeutet, dass die bedauernswerten Kleinen, wie schon wir in diesem erbärmlichen Alter, sich mit Lederstrumpf und seinen Kumpanen herumplagen müssen, statt in den Blutsbrüder-Geschichten dieses ehemaligen Revanchisten zu versinken, die sie schon aus dem Fernsehprogramm um die Weihnachtstage kannten, und zwar bis zum Abwinken.
An Baudelaire kam man praktisch nicht ran. 73 hatte es mal eine Ausgabe gegeben. Insel Verlag, Leipzig.
Die Blumen des Bösen.
Der Spleen von Paris.
Stand in keiner Bibliothek - immer geklaut.
War in keinem Antiquariat zu finden. Und einen wie Rimbaud kriegte man nicht mal unterm Ladentisch, um erst gar nicht von Mallarmé anzufangen. Die waren quasi verboten, obwohl es keiner so direkt sagte, und zwar nicht wegen Revanchismus, sondern wegen Dekadenz.
Nehm ich jedenfalls an.
Aber vielleicht war auch bloß nicht genug Papier vorhanden, um das ganze Zeug zu drucken, keine Ahnung. Es herrschte bei uns ja ständig ein Überschuss an irgendwelchem Mangel, und vielleicht sah es einfach besser aus, wenn man sagte, ey, wir drucken den Nachmittag eines Fauns nicht, weil uns das zu dekadent ist und weil es unsere Jugend verdirbt und vom Klassenkampf ablenkt, was den Kommunismus noch mal um ein paar Jahrzehnte Richtung Sanktnimmerleinstag verschieben würde, wo wir sowieso schon im Verzug sind, als wenn man mit hängenden Schultern und Dackelblick einfach zugab: Tut uns leid, Freunde der obskuren Literatur, wir würden ja gerne, aber uns ist bedauerlicherweise das Papier ausgegangen.
Iswinitje, paschaluista.
Das war jetzt bloß 'ne private Theorie von mir, ganz klar, ohne jede Garantie auf Gültigkeit.
Aber: trotzdem.
Andererseits hatten Die grausamen Geschichten von Auguste Villiers de l'Isle-Adam durchaus 'ne Weile im Laden gelegen, ein bisschen fast wie sauer Bier, und ich besaß außerdem höchstpersönlich einen dicken Band von Paul Verlaine, Insel Verlag 77, dieser Typ da, der mal mit Rimbaud befreundet gewesen war, sozusagen richtig eng, schon mehr als nur befreundet, was soll ich sagen: quasi schwul. Und der ihn dann anschoss, vermutlich wegen der Liebe oder einem ähnlich lächerlichen Kram.
Das war ja alles dekadente Literatur, das konnte man im Literaturlexikon nachlesen, wenn man wollte und wenn man eins hatte. Die nannte sich sogar selber so.
Auguste Villiers de l'Isle-Adam!
Das musste man sich mal auf der Zunge zergehen lassen, da kam nur noch einer knapp drüber:
Jules Amédée Barbey d'Aurevilly.
Den hatte ich Anfang des Jahres im Antiquariat gekauft, Ausgabe aus den zwanziger Jahren, rotes Leinen, zwölf Mark: Die Teuflischen.
Titel wie ein Manifest.
Diese Namen allein waren schon dekadent bis zum Anschlag. So was konnte sich kein Sterblicher jemals ausdenken.
Ich fragte mich allerdings in letzter Zeit ziemlich oft, was genau die Leute heutzutage immer meinten, wenn sie sagten, dieses sei dekadent und jenes auch.
Was heißt: die Leute?
Irgendwelche selbsternannten Autoritäten meine ich damit, und wenn's nur der eigene Vater war. Das war ja mittlerweile kein normales Adjektiv mehr, dekadent, das hatte ja schon eine ordentliche Karriere als Schimpfwort hinter sich.
Als wir Mitte der Zehnten plötzlich in Anzügen zur Schule gekommen waren, Michael, Dirk und ich, Haare hoch und Broschen aus falschen Diamanten am Revers, hieß es auch sofort, wir seien dekadente Subjekte. Aber wir ließen sie einfach quatschen, die Klassenlehrerin, den Direktor, den bekloppten FDJ-Heini mit seiner gebrauchten Fußballer-Frisur von vor zehn Jahren, dessen offizieller Titel GOL-Sekretär lautete, was immer das ausgesprochen heißt.
Nach zirka einem Monat ging denen schließlich die Puste aus. Sie konnten uns ja eigentlich nichts, denn wir waren ziemlich gut in der Schule. Klar, keine gesellschaftliche Arbeit, die wir leisteten und alles, und durch die Sülz-Fächer immer unter der Ironie-Flagge gesegelt, aber dafür fuhren wir fast makellose Zensuren ein. Anders leider als Mario, der auch spitze Schuhe von seinem Opa trug und einen schwarzen Anzug, der gleichfalls wie ein Weihnachtsbaum behängt war mit den Klunkern aus der Modeschmuck-Boutique in der Klement-Gottwald-Straße. Aber wegen seiner miesen Leistungen stand er immer auf der Abschussliste der Lehrer. Und zwar sehr weit oben.
Na...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.