Schweitzer Fachinformationen
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»Vorsicht ist das, was wir bei anderen Feigheit nennen.«
Oscar Wilde
Es war schon lange klar, dass ich eines Tages den Rhein mit dem SUP befahren würde. Die Idee kam mir - wie so viele Ideen - unterwegs: Ich paddelte für ein paar Tage mit Freunden auf dem Hudson; der Fluss war dreckig, der Gegenwind ließ uns nicht von der Stelle kommen, immer wieder durchnässte uns der Regen, und ich wünschte mich nach Hause. Nach Deutschland. Dieses Gefühl nennt man wohl Heimweh. Ich hätte heulen können und ein Buch schreiben mit dem Titel: »Was mache ich hier?« Ich wollte nicht mehr in diesem verfluchten Amerika sein, wo die Menschen nur so tun, als ob sie nett seien. Wo die Natur gewaltiger und feindlicher ist als zu Hause - selbst die Regentropfen sind größer. Wo das Lebensgefühl auf einem großen Traum basiert, in dem alles möglich ist, und wo in Wahrheit mehr Menschen im Elend leben als in allen Industriestaaten zusammen, wo täglich Dutzende erschossen werden und die Bildung katastrophal ist.
Vor mir paddelte Justin, ein alter Freund aus England - klein, muskulös und mit unglaublichem Durchhaltevermögen. Ein Kraftwürfel. Er bahnte uns den Weg, pflügte durchs Wasser wie ein Landwirt über Äcker bei nahendem Gewitter. Justin fühlt sich am wohlsten, wenn er kämpfen muss. Wenn sein Körper an seine Grenzen geführt wird. Vielleicht wohler als an Land, wo er sich unterhalten muss. Neben mir paddelte John, ein amerikanischer Freund, der sich durch seine Gelassenheit auszeichnet. Er stach sein Paddel stumpf in den Hudson, machte einen Schlag nach dem anderen und schien nur körperlich anwesend zu sein. Sein Geist war vermutlich an einem anderen Ort, wo es weniger unwirtlich war. Hatte er überhaupt die Augen geöffnet, oder blinzelte er in den Regen? Es schüttete so stark, dass uns das Wasser durch das Ölzeug in die Unterhosen floss.
In herrlicher Flusslandschaft bei Wagenhausen versteckt sich ein kleiner Zeltplatz.
Irgendwann tauchte eine Werft auf, und wir beschlossen, dort Unterschlupf zu suchen, bis das Schlimmste ausgestanden war. New York war noch drei Tage entfernt - bei dem Wetter weiter weg als der Mond.
Die Werft bestand aus einer gewaltigen Schwimmhalle, in der ein paar Boote lagen. Als wir uns auf unseren Brettern dem Ende der Halle näherten, kam ein Mann auf uns zu und fragte nicht unhöflich, was genau unser Plan wäre. John erklärte ihm unsere Lage, und der Typ bot uns Kaffee an. Wir plauderten ein wenig über das miese Wetter und den verfluchten Hudson, der seit dem Wehr in Troy einen gigantischen Tidenhub aufwies und im Moment nur frühmorgens oder abends zu paddeln war. Tagsüber hätten wir im Moment die steigende Flut gegen uns.
DER RHEIN HAT ALLES, WAS EIN FLUSS BRAUCHT: NATUR, GESCHICHTE, ABENTEUER.
Als der Mann meinen Akzent hörte, fragte er, was ich hier in diesem gottverfluchten Amerika machen würde, wo ich den schönsten Kontinent des Planeten meine Heimat nennen dürfe. Ich hasse es, wenn ich meinen deutschen Akzent nicht vertuschen kann. Aber der Kerl hatte feine Ohren. »Warum paddelst du diesen verbauten denaturierten Hudson runter, an dessen Ufern nichts von der alten Geschichte der Ureinwohner übriggeblieben ist? Wo die ursprüngliche Größe und Anmut der Natur gar nicht mehr zu erkennen sind?« Ich zog unsicher die Schultern hoch - abgesehen vom Wetter fand ich den Hudson bisher gar nicht so schlimm. Immerhin wurde er in Seemannskreisen wegen der steilen Schluchten der Rhein Amerikas genannt. Warum ich nicht zu Hause auf den Rhein gehen würde, diesen Fluss, den wir »father« nennen. Dort hätte ich doch alles, was ein Fluss braucht: Natur, Geschichte, Abenteuer. Ich nickte lange und wusste, dass der Mann nicht ganz Unrecht hatte. Ich habe in den vergangenen Jahren alle Kontinente dieses Planeten bereist und kenne mich vor meiner eigenen Haustür nicht aus.
Vielleicht würde mich der Rhein in eine neue Dimension versetzen. Vielleicht würde ich seinem Mythos erliegen und ganz neue Seiten an meinem Land und damit an mir entdecken. Eine SUP-Tour auf dem Rhein wäre ein Ritt durch Vergangenheit und Gegenwart, durch Geschichte und Geografie, durch sechs Länder und mehr als tausend Kilometer.
»Wem willst du hier begegnen?«, holte mich der Mann zurück. »Die Indianer haben wir umgebracht oder deportiert. Vom Geist der ersten Siedler ist auch nichts übriggeblieben. Und das Amerika von heute ist doch wohl kaum eine Reise wert.« »Na ja«, warf ich ein und wurde sofort unterbrochen. »Bei euch auf dem Rhein - da begegnest du noch den Römern, dem Mittelalter, den großen Kriegen. Da liegen deine Wurzeln. Begegne ihnen, huldige ihnen. Gedenke den Opfern. Den Geistern.«
Sechs Stunden paddle ich heute an meinem Vaterland vorbei, denn es liegt rechts von mir, links die Schweiz. Das, was ich da rechts sehe, ist nicht meine Heimat. Es ist ein Land, das lediglich den gleichen Namen trägt. Meine alte westfälische Heimat und meine neue norddeutsche haben nichts mit dieser Blüte am Bodensee gemein. Lieblicher und einladender kann keine Region unseres Planeten sein. Ich bin schockverliebt und möchte gar nicht mehr weg. Schon als Kind habe ich mich gefragt, warum Menschen überhaupt in Detmold gesiedelt haben. Dort gibt es weder Flüsse noch Seen, keine bedeutende Handelsroute, kein besonders fruchtbares Land und keinen Herrscher, der mit Geldern oder Versprechen lockt. Und warum hat mich der liebe Gott da abgesetzt? Wo es immer regnet, die Menschen eher grummelig sind und die Möglichkeiten so schrecklich begrenzt. Wie vielen Jugendlichen in unserem Land mag es so gehen?
WARUM HAT MICH DER LIEBE GOTT DA ABGESETZT, WO ES IMMER REGNET .?
Kaum setze ich einen Fuß an Land, schwindet das Gefühl des Entzückens: Der Dialekt der Einheimischen ist kaum als meine Muttersprache zu erkennen und besticht nicht unbedingt durch seine Lieblichkeit - die Landschaft hat die Sprache schon mal nicht gefärbt. Freundlichkeit scheint nicht automatisch zur hiesigen Kultur zu gehören - Hafermilch gibt's hier nicht, blafft eine Bäckerin einen Kunden an, und die sauberen Vorgärten mit ihren geschwungenen Kieswegen und den Hortensien flüstern »Hey Junge, hier herrschen noch Recht und Ordnung. Paradiesvögel und Vagabunden wie du benutzen bitte die andere Straßenseite«.
In Stein am Rhein fühle ich mich von den Massen erschlagen. Touristenscharen strömen durch die hübschen Gässchen und reden in allen Sprachen unseres Planeten. Das alte romantische Deutschland aus der Goethezeit scheint hier unbedingt aufrechterhalten werden zu müssen, als hätte es keine Geschichte danach gegeben. Die heile alte Welt als Magnet für die Massen. Eine Scheinwelt, die mir fremd ist.
Im Moment bin ich am liebsten auf dem Wasser. Von dort sieht die Welt nach einem Sehnsuchtsort aus, dessen Anziehung verblasst, sobald ich ihn betrete.
VOM WASSER SIEHT DIE WELT NACH EINEM SEHNSUCHTSORT AUS, DESSEN ANZIEHUNG VERBLASST, SOBALD ICH IHN BETRETE.
Es ist, als würde ich einen Regenbogen sehen und hätte plötzlich die Möglichkeit, ihn zu betreten, und alle Farbe schwindet.
Wenn mich etwas an Land zieht, dann ist es die Aussicht auf ein Eis. Ich laufe also kreuz und quer durch dieses kitschige Stein am Rhein und finde keinen Eisladen; habe auch keine Lust, die Menschen hier anzusprechen und zu fragen, wo es denn wohl ein Eis geben könnte. Ich fühle mich wie ein Eindringling, wie ein Fremder in einem fremden Land. Also kehre ich irgendwann in eine Bäckerei ein, kaufe zwei belegte Brötchen und eine Cola zu horrenden Preisen, setze mich auf eine Treppenstufe und atme kurz durch. Was genau schreckt mich hier eigentlich so ab? Vielleicht die Hitze, die hier zwischen den Gassen hängt, da der Wind auf dem Fluss geblieben ist. Vielleicht die aufgetakelten Menschen bei ihren Sonntagsspaziergängen. Vielleicht die beiden Girlies, deren knallroter Lippenstift in der Sonne schmilzt und den Anschein hinterlässt, als wären sie direkt einem Vampirfilm entstiegen.
Ich verlasse den Bodensee, nehme Verwirbelungen und Strömungen des rasend schnell fließenden Rheins gelassen hin und weiß, dass mir nach dem Alpenrhein nichts mehr Angst macht. Manchmal kann ich den Boden sehen, und es fühlt sich so an, als würde ich über den Rhein fliegen. Im Wasser stehen Pfähle als Markierung für die Schiffsrinne. Ich halte mich am Rand und frage mich, warum jede Strömung auf allen Flüssen, die ich kenne, versucht, den Paddler genau gegen diese Pfähle zu drücken. Sie scheinen schwimmende Gegenstände magnetisch anzuziehen. Ich muss die ganze Zeit achtgeben, nicht gegen einen dieser Pfähle zu prallen, denn bei einer Strömung von fast zehn Stundenkilometern könnte dies das Ende der Reise bedeuten.
Das Grün des Ufers ist so saftig, dass ich mich auch in der Karibik befinden könnte. Mit ein bisschen Fantasie liegen da Krokodile im Sand und keine angeschwemmten Baumstämme. Am liebsten würde ich die Zeit festhalten und mein kurzes Glück in einen Blumentopf pflanzen und mit nach Hause nehmen für kalte, harte norddeutsche Tage nach dieser Reise.
Heute bin ich endgültig auf meinem Rhein angekommen. Vermutlich ist niemand länger auf diesen Gewässern unterwegs als ich. Alle, die mir begegnen, machen Tagesausflüge, sind höchstens übers Wochenende unterwegs. Eine ganze Woche ist niemand auf diesem Fluss.
ICH FÜHLE MICH WIE EIN ALTER GEIST, DER...
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