Schweitzer Fachinformationen
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Ich saß in dem kleinen Büro des leitenden Hauptkommissars des KK11 im Polizeipräsidium Buer und schaute durch den Mann hindurch, der auf mich einredete wie auf einen kranken Gaul. Blödes Büro, klein und schäbig, ganz anders als die Büros von Bella Block und Co. Ein vergammeltes Weihnachtsbäumchen mit kitschig bunter Lichterkette stand auf dem Schreibtisch.
»Lass mich gehen, du Erdenwurm«, hätte ich ihm am liebsten an den winzigen Kopf geschmissen.
Doch er war zäh. Es würde eine lange Nacht werden. Eine lange Heilige Nacht.
»Frau .?«
»Krause. Das sagte ich schon«, fuhr ich ihn genervt an.
»Wohnhaft?«
»Sagte ich auch schon.« Schnaufend leierte ich noch einmal meine Adresse herunter.
»Geboren?«
»Na klar, bin ich geboren. Säße ich sonst hier?«
»Ein kleiner Scherzkeks, was?« Der Hauptkommissar stand auf und lief durch den Raum, knetete dabei sein Kinn. »Erzählen Sie doch mal, wie alles begann!«, forderte er mich auf.
Ja, wie war das damals im Jahre 1965, als ich eingeschult wurde? War sie meine Freundin? Tatsächlich? Inge war aus Resse zugezogen, in die alte Zechensiedlung. Am Einschulungstag setzte sie sich neben mich. Ich schaute sie an, diese magere Gestalt mit den Riesenaugen und der fahlen Gesichtshaut. Renate und Martina gefielen mir besser. Inge war eine Außenseiterin. Sie wohnte bei uns schräg gegenüber. Nachmittags beobachtete ich sie, wenn sie draußen auf der großen Wiese mit ihrem kleinen Bruder spielte und ihn grundlos ohrfeigte.
Der Kommissar blickte gelangweilt auf seine Uhr. Er wollte die Sache abkürzen, mich zu einem Geständnis zwingen, wollte nach Hause zu seinen Lieben, die um den Tannenbaum saßen und auf ihn warteten. Stöhnend setzte er sich wieder auf seinen Stuhl und goss sich Mineralwasser in ein Glas.
»Was passierte während der Schulzeit?«, fragte er. Er spielte mit einem Radiergummi, der auf dem Schreibtisch lag.
Was sollte ich ihm erzählen? Dass wir recht bald Freundinnen wurden? Beide Außenseiter, die andere ärgerten und ihren Spaß dabei hatten?
Inge wurde immer fordernder, bestimmte, wann was gespielt wurde, wer zu unserem Kreis gehörte und wer unbedingt gemieden werden musste. Ich durfte mit keinem anderen Mädchen befreundet sein. Da verstand Inge keinen Spaß.
Da war dieser dicke Knüppel. Ein Stück Ast, ungefähr 50 Zentimeter lang, an den Enden glatt geschliffen. Kam sie mit Worten nicht weiter, kam ihr Kumpan, der Knüppel, ins Spiel, mit dem sie erbarmungslos zuschlug. Tagelang zierten blaue Flecken meine Knie und ich konnte schlecht laufen. Inge kannte keine Gnade. Mit zusammengebissenen Zähnen und weit aufgerissenen Augen schlug sie von der Seite auf meine Knie, was ihr ein sichtliches Wohlgefühl bereitete. Die nebenstehenden Kinder schwiegen vor Angst. Keine Entschuldigung folgte Inges Schlägen. Nichts. Sie machte irgendwann da weiter, wo sie vor den Schlägen aufgehört hatte. Klar, ich hätte es meinen Eltern erzählen können. Die hatten jedoch andere Sorgen. Es war die Zeit der Zechenschließung. Mein Vater sollte seine Arbeit verlieren. Ich wollte sie nicht mit meinem Kinderkram belasten.
Immer wieder krochen wir zusammen. Ich verzieh ihr jedes Mal, rächte mich verbal, rief ihr aus unserem kleinen Klofenster Schimpfworte hinterher. Dort konnte der Knüppel mich nicht treffen. Ich kannte Inges Schwachstellen, wusste, was ich ihr an den Kopf knallen musste. Wütend schob sie mit dem Knüppel ab, den sie im Stall deponierte, bevor sie das chaotische Haus betrat, in dem sie wohnte. Meistens drehte sie sich auf der großen Wiese noch einmal um und drohte mir, indem sie eine ihrer Hände zur Faust ballte, unter das Kinn hielt und dabei ihre Augen weit aufriss.
»Hatten Sie es geplant?«, holte der Kommissar mich mit seiner Frage aus meiner Zeitreise.
»Nein, natürlich nicht. Sie hat eines Abends an meiner Tür geklopft.«
»Ihre Freundin hat an Ihrer Wohnungstür geklopft? Gab es keine Klingel?«
»Es hat geklopft. Oben an meiner Tür. Es war der erste Advent. Als ich öffnete, stand da ein eigenartiges Männchen. Eine Art Dämon. Ganz fürchterlich sah es aus. Der Teufel persönlich. Das Männchen trug die Gesichtszüge von Inge und hatte das gleiche hässliche Lachen.«
»Und was wollte dieser Beelzebub von Ihnen?« Der Kommissar sah mich an, als hielte er mich für verrückt.
»Das Männchen hat nur gelacht. Es war eindeutig Inges hämisches Lachen. Wut stieg in mir hoch. Ich stürzte mich auf den kleinen Kerl und wollte ihn würgen, klammerte meine Hände um seinen dünnen Hals und drückte zu. Die Kreatur war zäh und quiekte ganz grausam, ähnlich wie ein getretener Hund. Plötzlich war sie weg.«
»Wieso sollte Ihre alte Freundin nach über 40 Jahren auf so eigenartige Weise Kontakt zu Ihnen aufnehmen? Und ausgerechnet am ersten Advent? Hatten Sie sie nach der Schulzeit völlig aus den Augen verloren?«
»Beruflich ging jeder seinen Weg nach der Schulentlassung. Ich war froh, ihren Klauen endlich entkommen zu sein, sah sie gelegentlich mal in der Stadt, habe sie jedoch nicht gegrüßt. Ich wollte nicht an diese Zeit erinnert werden, war froh, sie endlich los zu sein. Hin und wieder hörte ich, wenn ich meine Eltern besuchte, von Nachbarn, was aus ihr geworden war. Es erfüllte mich mit großer Schadenfreude, dass sie viel Pech im Leben hatte. Nicht einen Funken Mitgefühl konnte ich empfinden, als sie mehrmals ihre Arbeitsstelle verlor, ihre Beziehungen scheiterten und sie zwei Mal fast den Löffel abgegeben hat, als sie sehr krank wurde.«
»Und wie ging es dann weiter?«
»Nach einigen Tagen, es war der zweite Advent, hat dieses Männchen wieder an der Tür geklopft. Diesmal hartnäckiger, fordernder. Als ich öffnete, gab es fiepende Laute von sich und kam mir ganz nah ans Gesicht gekrochen. Die Augen glubschten ihm fast heraus, seine Zähne waren gelb, die lange Nase feuerrot. Ich hatte mich, als ich das Hämmern an der Tür vernahm, mit einem Fleischklopfer bewaffnet, den ich ihm nun gnadenlos auf seinen Kopf schlug. Erst auf den Kopf, dann auf die Augen. Wieder und wieder. Ich verspürte keine Angst, mir ging es mit jedem Schlag besser. Das Männchen gab wieder nur Urlaute von sich und verschwand. Schweißgebadet setzte ich mich in meinen Fernsehsessel, um mich zu erholen. Meine Knie schmerzten und brannten.«
Der junge Kommissar konnte das Gähnen kaum mehr unterdrücken und fragte mich, ob es vielleicht nur böse Träume gewesen wären.
Ich verneinte vehement. Was bildete sich dieser Schnösel nur ein?
»Sie hatten also nach der Schulzeit keinen Kontakt mehr zu Ihrer alten Freundin? Über 40 Jahre lang war Ruhe, bis diese Frau in Teufelsgestalt an Ihrer Tür geklopft hat. Ausgerechnet in der Adventszeit. Angerufen hat sie bei Ihnen auch nicht?«
Ich dachte nach. Ja, sie hatte tatsächlich bei mir angerufen, wollte sich mit mir treffen, auf einen Kaffee, um alte Erinnerungen aufzufrischen. Wieso war mir das entfallen? Wusste er davon?
»Kann schon sein. Ich habe sie am Telefon abgewürgt. Null Interesse an einem Wiedersehen hatte ich. Das Kapitel war für mich abgeschlossen. Dachte ich zumindest.«
»Und was war weiter? Klopfte das Männchen noch einmal an Ihre Tür? Vielleicht am dritten Advent? Oder war es eher so, dass Sie an ihrer Tür klopften? Oft ist auch der Wunsch der Vater des Gedanken?«
»Wieso sollte ich an ihrer Tür klopfen?«
Was erzählte dieser Jüngling, der mein Sohn sein könnte, da? Ich sollte bei ihr an der Tür gewesen sein? Der spann.
»Ja, es klopfte einige Tage später erneut an meiner Tür. Es war einen Tag nach dem dritten Advent. Ich hatte einen harten Tag hinter mir und wahnsinnige Knieschmerzen. Mein Orthopäde, bei dem ich an diesem Morgen war, fragte mich, ob ich in der Kindheit mal auf die Knie gefallen wäre oder einen Unfall gehabt hätte. Bisher hatte ich meine Knieprobleme nie in Zusammenhang mit den Schlägen von Inge gebracht. Sollte sie tatsächlich Schuld daran tragen, dass es mir heute so dreckig ging?, fragte ich mich. Wären all die Spritzkuren und Akupunkturbehandlungen gar nicht nötig, wenn es Inge und ihren Knüppel nicht gegeben hätte? Meine Wut schäumte an diesem Abend über. Als es klopfte, bewaffnete ich mich mit einem scharfen Messer aus der Küchenschublade und riss wütend die Tür auf. Da stand das Männchen wieder grinsend auf der Matte, den Inge-Blick voll auf mich gerichtet. Dieses hässliche Grinsen und Grunzen machte mich verrückt. Ich musste dem ein Ende bereiten und stach erbarmungslos zu. Ich zielte auf den Hals, genau auf die Gurgel. Wieder und wieder stach ich auf den hüpfenden Punkt. Ich rammte das Messer tief in den dünnen Hals. Hatte ich gehofft, das Männchen würde blutüberströmt zusammenbrechen, sollte ich mich getäuscht haben. Es wurde grün im Gesicht, stapfte mit den verhältnismäßig großen Füßen, die mit Hammerzehen bestückt waren, auf und verschwand.«
Der Kommissar schlug mit der Faust auf den Tisch. Scheinbar war seine Geduld am Ende. Mit Sicherheit dachte er an die Weihnachtsgans, die zu Hause im Ofen schmorte. Er wischte sich den Schweiß mit der blanken Hand von der Stirn. »Nun ist aber Schluss mit der Märchenstunde. Was geschah wirklich am vierten Advent?«
Märchenstunde? Was wusste er denn?
Geplant? Vorsatz? Ja, oft, wenn ich sie sah, dachte ich, warum lebte dieses Aas noch. Von wegen 40 Jahre nicht gesehen.
Nach mir hatte sie Erika gequält. Ich wusste es und...
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