Dämonen-Selfie
von Stephen Kruger
Covent Garden! Ursprünglich ein Klostergarten, in dem die Mönche der Westminster Abbey Obst und Gemüse anbauten, hat sich der Londoner Bezirk zum Hotspot für Shopping, Gastronomie und Unterhaltung entwickelt. Unzählige Besucher schlendern Tag für Tag durch die Markthallen und kehren in umliegende Lokale, Boutiquen und Theater ein.
Auch Kendra Wolters hatte sich an diesem Freitagabend ins Getümmel gestürzt. Gemeinsam mit ihrer Freundin Miriam trat die junge Londonerin gerade aus dem Apple Market auf die Piazza, als sich ihnen ein Mann in den Weg stellte.
Fassungslos starrte Kendra ihn an. Genauer gesagt, seinen Kopf. Denn den trug der Fremde nicht auf dem Hals, sondern unter dem rechten Arm ...
Kendra konnte nicht glauben, was sie da sah!
Die Supermarktangestellte war knapp über eins siebzig groß, normal gebaut, hatte schulterlanges schwarzes Haar und trug am liebsten ebenfalls schwarze Klamotten. Schon seit ihrer Kindheit hatte sie mit innerer Unruhe zu kämpfen, die es ihr schwer machte, still zu sitzen oder zu stehen.
Jetzt aber stand sie starr und betrachtete fassungslos ihr Gegenüber.
Der Mann befand sich etwa zwei Armlängen von ihr und Miriam entfernt und war eigentlich ganz normal gekleidet. Also so, wie sich Männer höheren Alters eben oft kleideten. In seinem Fall waren das dunkelbraune Kordhosen, ein weißes Hemd, darüber eine Strickjacke aus grobem Rippenstrick, deren Knöpfe nicht geschlossen waren. Vor der Brust baumelte ein rotes Amulett, das an einer goldenen Kette um den Hals des Mannes hing.
Den Hals, auf dem kein Kopf saß.
Kendra wollte sich bewegen und auch etwas sagen, doch es blieb beim Wollen. Aus irgendeinem Grund erreichten die Anweisungen ihres Gehirns nicht die entsprechenden Körperteile. Ein bisschen fühlte es sich an, als würde sie neben sich stehen und alles nur als unbeteiligte Zuschauerin beobachten.
Erst als ein Passant sie von hinten anrempelte, riss sie das aus ihrer Erstarrung. Scharf atmete sie ein und wäre um ein Haar auf das nass schimmernde Kopfsteinpflaster geknallt, hätte Miriam sie nicht im letzten Moment festgehalten.
»Hoppla!«, rief ihre Freundin lachend. Miriam Finch war das genaue Gegenteil von Kendra: klein, zierlich, rot gefärbtes kurzes Haar, grellbunte Klamotten. »Pass auf, sonst verbringen wir deinen Geburtstag am Ende noch im St. Thomas Hospital.«
»Muss nicht sein«, murmelte Kendra und schüttelte den Kopf.
»Aber vielleicht sollten Sie mal dorthin, Mister!«, rief Miriam nun lachend dem Kopflosen zu. »Womöglich ist da noch was zu machen, und die Ärzte können Ihnen Ihre Rübe wieder annähen.« Sie kicherte. »Cooles Outfit übrigens. Echt.« Sie nickte anerkennend und wandte sich dann Kendra zu. »Hast du ein paar Münzen?«
Kendra blinzelte. »Münzen?«
»Ja, für unseren Künstler hier. Wo er sich doch solche Mühe mit seinem Outfit gegeben hat.«
Künstler, na klar! Kendra lachte erleichtert auf und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Zweifellos war der Typ einer der zahlreichen Straßenkünstler, die auf der Piazza und teilweise auch in den Markthallen für Unterhaltung bei den Besuchern sorgten. Da gab es allerlei verrückte Sachen zu sehen: in der Luft schwebende Menschen, Feuerspucker, Einradfahrer, die berühmte Dame ohne Unterleib - und eben auch scheinbar Enthauptete ...
O Mann, bin ich wirklich für einen Moment darauf reingefallen?, fragte sich Kendra.
Vielleicht lag es einfach an dem ganzen Gedränge hier, dass sie nicht ganz bei sich war. Klar, es war Samstagabend, da ging hier die Post ab. Betrieb ohne Ende. Ein Mix aus Touristen, Nachtschwärmern und Besuchern der umliegenden Theater, die vor der Vorstellung noch was erleben wollten. Die winzigen Läden in den Markthallen waren so voll, dass man sich darin kaum umdrehen konnte. Einen Platz im Pub zu ergattern, war ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, und so waren Miriam und sie schließlich wieder raus auf die Piazza gegangen.
Nicht dass es hier ruhiger zuging. Von den Ständen, die überall aufgebaut waren, drang der Duft von gegrillten Hotdogs und Maronen herüber und vermischte sich mit dem bestialischen Gestank, der aus den überquellenden Mülleimern drang. Das Ergebnis war überwältigend und nicht besonders angenehm.
Aber davon würde Kendra sich nicht die Laune verderben lassen. Immerhin war heute ihr zweiundzwanzigster Geburtstag, und sie war mit ihrer Freundin und Mitbewohnerin hier, um mal auf andere Gedanken zu kommen und Ablenkung von dem ganzen Mist zu finden, der ihr in letzter Zeit das Leben schwer machte.
»Was meinst du, wie der das anstellt?«, fragte Miriam und nickte in Richtung des >Kopflosen<. »Ich kann echt nicht erkennen, wie das funktionieren soll. Du?«
Kendra hob die Schultern, unterzog den Mann aber noch einmal einer genaueren Musterung.
Das da am Hals sah wirklich aus wie eine Wunde, wobei Kendra eigentlich gar nicht so genau hinsehen wollte. Sie hatte es nicht so mit solchen Sachen. Bei Blut und Verletzungen bekam sie schnell zittrige Knie. Sie ekelte sich davor, und es verursachte ihr auch eine Gänsehaut.
Aber das hier war ja nicht echt. Wäre es das, würde der Mann jetzt todsicher nicht vor ihnen stehen.
Ihr Blick wanderte zu seinem Kopf, der schon fast lässig unter dem rechten Arm des Mannes klemmte. Der Mund war leicht geöffnet, und die Augen schienen irgendwie verdreht. Ein unordentlicher, schmuddelig-weißer Bart bedeckte die eingefallenen Wangen, und unter den Augen lagen tiefe purpurne Ringe, sicher mit Make-up aufgetragen. Wobei der ganze Kopf wahrscheinlich fake war - oder wie sollte das sonst gehen? Und der echte Kopf dieses Straßenkünstlers verbarg sich sicher irgendwo hinter oder unter seiner Kleidung. Vermutlich war der Typ eigentlich viel kleiner, als es den Anschein machte, und trug Hemd und Jacke über seinem echten Kopf.
»Sieht auf jeden Fall gruselig aus«, raunte sie Miriam zu, hin- und hergerissen zwischen Ekel und Faszination. »So richtig echt ...«
Sie trat ein Stück näher und suchte in ihrer Hosentasche nach Münzen, zögerte dann aber doch. Irgendwie war ihr der Typ wirklich unheimlich. Vor allem, weil er einfach nur dastand. Die Straßenkünstler von Covent Garden waren normalerweise eher laut und aufdringlich. Klar, sie wollten ja mit ihren Shows und Kunststücken Geld verdienen.
Wobei ... sie konnte bei dem >Kopflosen< nirgendwo einen Spendenhut oder etwas in der Richtung entdecken, was schon irgendwie seltsam war, und ...
Plötzlich machte der Mann einen ruckartigen Schritt auf sie zu.
Erschrocken schrien Kendra und Miriam auf und stolperten zurück.
Vor Schreck hatte Kendras Herz einen Schlag ausgesetzt. Jetzt hämmerte es dafür mit doppeltem Tempo weiter, und das Blut rauschte ihr in den Ohren.
Na, das war ja mal ein Adrenalinschub gewesen!
»Wirklich unheimlich witzig!«, schimpfte Miriam, noch immer ein wenig außer Atem.
Der Mann stieß einen Laut aus, der irgendwo zwischen einem Stöhnen und einem Ächzen lag. Und es klang so gequält, dass es Kendra eiskalt über den Rücken rieselte.
Verdammt, der Typ war ein echt guter Schauspieler. Sie glaubte sogar, ein leichtes Blubbern zu hören, das aus seiner Kehle zu dringen schien. Gruselig.
»Geh mal hin und mach ein Selfie«, sagte Miriam und versetzte ihr einen Stoß zwischen die Schulterblätter, der sie zwei Schritte in Richtung des >Kopflosen< beförderte.
»Bist du bescheuert?«, herrschte Kendra ihre Freundin an.
»Warum? Du hast immerhin Geburtstag. Man wird schließlich nur einmal zweiundzwanzig, und so ein Selfie kriegst du garantiert nie wieder. Gib ihm einfach hinterher ein paar Pfund, dann geht das bestimmt in Ordnung.«
Kendra überlegte kurz, zuckte dann aber mit den Schultern. Eigentlich hatte ihre Freundin ja nicht ganz unrecht.
Der Mann sagte nichts. Er wirkte wieder fast wie versteinert, was Kendra allerdings nicht unbedingt beruhigte. Das letzte Mal hatte er sich auch ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel, bewegt und sie damit fast zu Tode erschreckt.
Als sie sich ihm näherte, stieg ihr ein modriger Geruch in die Nase, der sie das Gesicht verziehen ließ. Das war dann doch ein bisschen too much für ihren Geschmack. Sie musste fast würgen, konnte es aber gerade noch zurückhalten.
Bring es hinter dich, sagte sie zu sich selbst, zückte ihr Smartphone und switchte in den Selfie-Modus. Dann stellte sie sich neben ihn und bewegte sich so nah an den Mann heran, wie sie sich traute, sodass sie beide auf dem Display zu sehen waren und ...
Moment, was war das?
Der Mann, der neben ihr auf dem Bildschirm zu sehen war, sah ganz anders aus als der kopflose Typ. Er war um einiges jünger, allerhöchstens ein paar Jahre älter als sie selbst. Sein Haar war dunkel und voll und reichte ihm in dichten Wellen bis zum Kinn. Sein Hautton war goldbraun, und von seinen Gesichtszügen her ordnete Kendra ihn irgendwie aus dem Mittleren Osten stammend ein.
Er...