Ich hockte in meinem Zimmer und fragte mich, was das für eine Trulla sein musste, die mit einer so idiotischen Unterschrift eine ganze Familie sprengte und noch nicht einmal dabei war, wenn die Bombe hochging. Falls sie schwanger war, mussten ihr zwei, drei Hirnwindungen fehlen, falls nicht, zehn, zwölf. Ruhe drinnen ging nicht mehr, überall war jetzt dieses beschissene Draußen, das ich trotz unendlicher Mühen weder verstand noch ändern konnte.
Am Montag warteten wir vergebens auf die Fortsetzung der Überzeugungsarbeit. Es kam kein Sterbenswort mehr über das Thema. Die unheimliche Stille hielt drei Tage. Dann stand in der ersten Stunde die Schulsekretärin in der Tür und holte die FDJ-Sekretärin, den Agitator und den Kulturfunktionär zur Schulleitung.
Als wir das Büro betraten, saß Ober-Rached in ihrem Lederthron hinter einem Schreibtisch aus den 70er Jahren. Die massigen Schubläden und eine unverhältnismäßig wuchtige Schreibtischplatte ruhten auf dünnen Metallbeinchen. Wie im richtigen Leben, dachte ich unwillkürlich.
Die Sekretärin schloss geräuschlos die schalldichte Doppeltür hinter uns. Ober-Rached sah nicht auf. Sie hatte einen Stift in der Hand und sortierte Papiere auf ihrem Schreibtisch. Wir warteten an der Tür.
"Setzen Sie sich!", befahl sie den Papieren und wies auf den Sessel hinter dem Schreibtisch.
Als ich mich niederließ, gab die Sitzfläche nach. Ich rutschte hastig auf die vordere Kante, um nicht abzutauchen. Trotzdem landete ich nicht auf Augenhöhe und musste zu ihr hochgucken.
Ich konnte nicht viel erkennen, denn sie saß im Gegenlicht. Die Haare waren streng nach hinten gekämmt, das Gesicht ein dunkler Fleck.
Andreas und Karsten standen hinter mir. Hoffte ich jedenfalls. So wie die Situation sich jetzt darstellte, würde ich anscheinend für sie mitsprechen, was ich nicht wollte, weil ich nicht mal Lust hatte, für mich selbst zu sprechen. Während ich noch überlegte, ob diese merkwürdige Konstellation Taktik war, legte Ober-Rached das letzte Blatt auf den Stapel, sah mich pseudonachdenklich an und sprach: "Mir sind da Dinge zu Ohren gekommen, die mir gar nicht zu ihrem Persönlichkeitsbild passen wollen. Wir schätzen Sie im Allgemeinen als eine intelligente Schülerin mit einem festen Klassenstandpunkt ein, die die Politik der Partei als FDJ-Sekretärin vertritt und ihren Mitschülern Vorbild ist. Wie lässt sich das mit Ihrer Weigerung, für den Frieden einzutreten, vereinbaren?"
Wir lebten auf verschiedenen Planeten, aber Kraft welchen Gesetzes auch immer war Ober-Rached die Repräsentantin auch meiner Gegenwart und wahrscheinlich sogar Zukunft. Was sollte ich dazu noch sagen?
"Nun?", drängelte die Repräsentantin.
Ich könnte meinen Text aus der Freitagsdiskussion wiederholen. Brachte nichts, ging aber erst mal.
"Ich find das nicht so einfach", sagte ich aus dem Gedächtnis auf. "Ich habe Zweifel und Ängste, die ich übergehen würde, wenn ich unterschreibe. Was ist mit der ganzen Technik, die hier bei uns steht. Da können Unfälle passieren. Alles wird scheinbar immer perfekter und kann angeblich technisch hundert Prozent überprüft werden. Aber ein kleiner Fehler genügt, und wir alle fliegen hoch."
Prompt kam die Antwort: "Die Fachkräfte, die an den entscheidenden Stellen ihre Arbeit tun, sind speziell dafür ausgebildet. Wir haben ein hochqualitatives Leistungsauswahlverfahren, das uns garantiert, dass nur die fähigsten Mitarbeiter an den entscheidenden Stellen sitzen. Darauf können Sie sich verlassen."
"Aber irgendwann geht das doch hoch! Wenn im Theater eine Pistole auftaucht, wird die am Ende auch benutzt!"
Das war jetzt eindeutig Notwehr.
Die Repräsentantin starrte mich an. "Was?"
Notwehr! Aber ich wartete erst mal und dann machte sie ziemlich laut von selbst weiter: "Wir sind doch nicht im Theater! Das ist das reale Leben, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen ist! Da machen wir keine Fehler. Der Kapi-talismus, der macht welche, weil da Profit das einzige Ziel ist. Aber vielleicht haben Sie ja einen Vorschlag zur Lösung der Abrüstungsprobleme. Bitte, ich höre!"
Hatte ich nicht.
Die Repräsentantin hob den Kopf und sah aus dem dunklen Fleck heraus jetzt vermutlich die Jungs an.
Die hatten auch keine.
Zufrieden klappte sie die Mappe mit den Papieren zu und betonte abschließend:
"Vertrauen Sie auf unsere Abrüstungsexperten, auf unsre Politik, das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Und überlegen Sie sich gut, ob Sie als FDJ-Sekretärin hinter dem Großteil Ihrer Klasse zurückstehen wollen. Das wirft kein gutes Licht auf Sie."
Als wir hinausgingen, fragte ich mich, wer denn überhaupt noch Wert auf ein Licht aus dieser Ecke legte.
Wortlos schlichen wir den dunklen Schulflur entlang zurück in die Klasse.
Wir waren nicht einmal zwanzig Minuten weg gewesen. Es fühlte sich an wie ein ganzes Leben.
Für Staatsbürgerkunde in der fünften Stunde stand schon die Wirksamkeitskontrolle des Morgentribunals auf dem Plan.
"Wir schreiben eine Stundenarbeit!", ordnete der Staatsbürger triumphierend an. Schwungvoll öffnete er die Tafelflügel, hinter denen die Aufgabe zum Vorschein kam:
"Beziehen Sie zu folgender Aussage Stellung: Die amerikanischen und die sowjetischen Raketen bedrohen gleichermaßen den Frieden. Deshalb ist es am besten, eine pazifistische Haltung einzunehmen."
Die waren wirklich schnell. Genervt schrieb ich jetzt die bereits wiedergekäuten Direktionszimmersätze auf. Immer wieder und wieder und wieder. Ohne weiterzukommen. Wir drehten uns im Kreis. Der Klügere gibt nach. Der Feigere gibt auf.
Eine Woche später setzte ich müde meine Unterschrift unter die Resolution. Sollten die doch gewinnen. Ich hatte Holden und New York.
Und die neuen Brieffreunde. Die bekamen alles ab, was niemand anders hören wollte. Dreizehn brachen sofort unter der Last zusammen und verstummten unverzüglich. Unter den Verbliebenen schrieb sich Georg mühelos an die Spitze. Ich fand ihn klug und sehr originell. Auch wenn vielleicht irgendwo wieder eine ungute Überraschung lauerte, war ich fest entschlossen, den Kontakt mit diesem künstlerisch und geistig so zugänglichen Menschen auszuweiten und zu vertiefen. Am beeindruckendsten war, dass meine langen Briefe ihm nie zu viel wurden. Sein Ton blieb immer liebevoll und geduldig, seine klugen Anregungen und Kommentare lenkten mich wirksam von dem Geschwafel der FDJ-Fuzzis in der Schule ab. Er hatte nur einen Fehler: Er war nicht da. Ich musste alles alleine machen.
Auch die unsägliche Schülervorstellung von Maria Stuart, zu der uns die Töterin angemeldet hatte.
Kann ja so schlimm nicht sein, denkt vielleicht jemand, der noch nie in einer war. Aber neben winwin gibt es auch loselose, und Schülervorstellungen sind das absolut beste Beispiel für Situationen, von denen keiner was hat, Schiller nicht, die Lehrer nicht, die Schauspieler nicht und die Schüler auch nicht.
Aber das merken die natürlich nicht und stürmen grölend das Parkett, um sich per Boxkampf ihre Plätze zu erobern. Sobald das Licht langsam ausgeht, begrüßen sie mit einem ohrenbetäubenden Pfeifkonzert den Beginn der Party. Der Vorhang öffnet sich, die Jungs in der ersten Reihe unterhalten sich mit denen in der fünften, Papierkugeln fliegen kreuz und quer durch den Zuschauerraum, die Mädchen kichern und kreischen auf. Kaum jemand bemerkt die Schauspieler auf der Bühne, die den auf- und abschwellenden Geräuschpegel zu übertönen versuchen. Leise Szenen haben überhaupt keine Chance, alles muss gebrüllt werden und ist trotzdem bei uns in der achtzehnten Reihe nicht zu verstehen.
Schräg vor uns in der zehnten hauen jetzt zwei zornige junge Männer mit den Fäusten aufeinander ein, der eine springt auf und rennt zur Tür, der andere verfolgt ihn polternd, krachend schlagen die Flügel ins Schloss. Auf der Bühne erstirbt jegliche Handlung, die Schauspieler sind raus, einer tritt jetzt an die Rampe und droht, die Vorstellung abzubrechen. Es wird still. Maria Stuart redet weiter, das Parkett auch, der Lärmpegel steigt erneut in kürzester Zeit und verwebt sich über unseren Köpfen zu einem dicken Teppich. Schiller hat endgültig verloren.
Als wir das Theater verließen, standen die beiden Prügelknaben vor der Treppe und rauchten.
"He!" grölten sie, "War doch Scheiße, oder?"
"Ja", grölte ich zurück, "fand ich auch!"
In seinem nächsten Brief lud Georg mich ein und schickte seine Telefonnummer. Ich sollte anrufen. Meine Hände zitterten heftig, der Kopf schwirrte. Ein falsches Wort, ein falscher Tonfall und die Missverständnisse nahmen ihren Lauf. Am Ende einer endlosen Reihe von möglichen worst cases, einer worster als der andere, stand aber zu meiner eigenen Verwunderung felsenfest ein einziger Satz: Na und, es ist Georg.
Mit ihm war mein Spaß am Malen wieder erwacht, er schickte mir Karten mit Federzeichnungen von Picasso und Gedichten von Sappho, er stellte die richtigen Fragen und deckte mich so gut vor der sichtbaren Welt, dass sie unsichtbar wurde und ich die Deckung verlassen konnte.
Mit einer mir selbst unheimlichen Sicherheit ging ich zur Telefonzelle an der Postfiliale und wählte ohne das geringste Zögern die Nummer. Nach dem ersten Klingeln hörte ich eine vertraute Stimme: "So klingst du also."
Als würde er lächeln.
"Wie?", fragte ich vorsichtig.
"Vertraut."
"Ja", sagte ich. "Was machst du gerade?"
"Ich male."
Was sonst. Seine Lieblingsbeschäftigung.
"Wie machst du das bloß, dass du das, was du am liebsten...