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MATTHIAS BORMUTH: Herr Krüger, Sie haben einmal von sich gesagt: »Ich bin ein Schriftsteller, der einfachen Verhältnissen entstammt und das Verlegen der Bücher auch als Handwerk betrachtet.« Diese Selbstbeschreibung verdankt sich nicht zuletzt den ersten Lebensjahren, die Sie bei Ihren Großeltern verbrachten.
MICHAEL KRÜGER: Das Bestellen eines Ackers und die Leitung eines Verlages haben vieles gemeinsam. Auch der Bauer träumt natürlich davon, zweimal im Jahr ernten zu dürfen, im Frühling und im Herbst. Mein Großvater mütterlicherseits war Landwirt, der in der Nähe von Zeitz einen größeren Hof, ein Rittergut, bewirtschaftete. Dort kam ich im Dezember 1943 zur Welt. Mein Vater, damals Postbeamter im besetzten Polen, meinte ohne jede Illusion: »Irgendwann wird Berlin bombardiert, so dass das Kind auf dem Land erst einmal gut aufgehoben ist.« Die drei älteren Geschwister blieben in der Stadt.
MB Wie verlief Ihr Leben mit den Großeltern?
MK Als sich die Amerikaner bald nach Kriegsende aus Sachsen zurückzogen, wurde der Großvater von heute auf morgen von der nun russischen Besatzung ohne Gerichtsurteil enteignet und erhielt eine Dachkammer als letztes Refugium. Er konnte von Glück sagen, dass er nicht erschossen wurde! Im Zusammenleben habe ich, ohne es wirklich begreifen zu können, erstmals gespürt, dass ein Mensch regelrecht schrumpft, wenn man ihm seinen Lebens- und Gestaltungsraum nimmt.
MB Was passierte mit dem Hof?
MK Das Gut verfiel, weil der neue Verwalter ohne Kenntnisse war, die man für die Bearbeitung der relativ kargen Böden im Schlagschatten des Harzes benötigte. Er gehörte zu den politisch opportunen Leuten, die natürlich wussten, dass sie nichts wussten, und deshalb besonders arrogant auftraten.
MB Es fehlte eine kundige Hand zur Bewirtschaftung?
MK Für den Großvater bestand die größte Demütigung nicht in der Enteignung, sondern in der Erfahrung, dass alle seine Fertigkeiten nun brachlagen und er verurteilt war, vom Fenster seines Dachzimmers aus zuzusehen, wie die Sache schiefging. Als er sah, wie der ehemalige Verwalter vom Hof ging, fiel seine große, knochige Hand in den Schoß. Von nun an umgab meinen Großvater eine tiefe Traurigkeit, die ihn nicht mehr verließ. Die Erfahrung der großen Ungerechtigkeit war die stärkste Lektion, die ich aus dieser Zeit bewahrt habe. Man darf nicht ohne Begründung jemandem etwas wegnehmen, vom dem her er lebt. Es gab kein Maß, das die Enteignung gerechtfertigt hätte. Sie war Ausdruck politischer Willkür, die auf ganz andere Weise zuvor schon geherrscht hatte.
MB Als kleines Kind erlebten Sie diese ersten Lebensjahre mit den Großeltern allerdings ganz anders.
MK Es herrschte in unserem gemeinsamen Leben eine ursprüngliche, liebevolle Atmosphäre. Mit dem Großvater ging ich gerne über das Land. Er erklärte mir die verschiedenen Vögel an ihren Stimmen, und er führte mich in die weitere Fauna und Flora ein. Die Natur war etwas Elementares, uns Beglückendes, auch wenn wir ein beengtes, ärmliches Leben führten. Für mich sind bis heute Spaziergänge durch den Wald notwendig, um mich als Person ganz zu fühlen.
MB Neben dem Erleben der Ungerechtigkeit und den Natureindrücken erfuhren Sie im Leben mit dem Großvater eine dritte Dimension, es war das Erlebnis der Frömmigkeit.
MK Eine der seltsamsten Erfahrungen war das Vaterunser. Und vergib uns unsere Schuld - ein Kind versteht nicht, was damit gemeint ist. Welche Schuld? Damals gab es, vor allem auf dem Lande, noch ein protestantisches Leben im Zyklus des Kirchenjahres. Der Glauben hatte seinen Ort in der kleinen Dorfkirche, schlug sich in Predigt und Musik nieder. Die Frömmigkeit litt unter der geschichtlichen Katastrophe ungeheuer. Für die Großmutter brach eine Welt zusammen. Ihr Gottvertrauen hatte einen schweren Schlag erlitten. Ihr war nicht nur der äußere Besitz genommen worden, sondern auch ihr treusorgender Gott: »Du warst da, und jetzt bist du plötzlich unsichtbar. Du warst anwesend, und plötzlich bist du abwesend. Wir sperren die Tür auf, aber du kommst nicht. Wir decken für dich am Tisch den vierten Teller, aber du kommst nicht zum Essen. Und du suchst uns auch nicht mehr so richtig in unseren Träumen heim.« Gott war über dem ganzen Unglück in die Ferne gerückt.
MB Die Großmutter bewegte die alte Hiob-Frage, wie Gott das Leiden zulassen kann?
MK Ja, sie sprach abends in ihren Gebeten immer direkt mit Gott. Ich hörte sie beten und kriegte es mit der Angst zu tun, weil ich immer dachte, wenn sie so viel über Gott schimpft, kommt er zur Tür herein und bestraft uns. Ich fand es natürlich sehr interessant, dass es da eine höhere Instanz gab, bei der man sich beklagen konnte. Denn mit den politischen Instanzen konnte man nicht offen sprechen, ohne etwas befürchten zu müssen.
MB Ihre fromme Großmutter zweifelte an Gott, der nicht sichtbar ist und die Ungerechtigkeit zulässt.
MK Aber bei prinzipieller Anerkenntnis seiner Existenz. Und das war für mich die besondere Qualität ihres Glaubens.
MB Verhielt sich dies bei Ihrem Großvater ähnlich?
MK Mein Großvater war ein gebrochener Mann. Er sprach nicht über diese Dinge. Er schwieg. Es war eine unvorstellbare Traurigkeit in ihm. Das einzige, was der Großvater noch hatte, waren seine starken Hände. Die Hände, die etwas griffen, ergriffen, wie er auch mich an die Hand nahm. Alles andere befand sich in Auflösung. Er konnte sich nicht mit der Veränderung abfinden.
MB Während Sie mit dem Blick des Kindes eine ursprüngliche Geborgenheit erlebten, begegnete den Großeltern die Welt als eine Katastrophe.
MK Es war ihnen auf verschiedene Weise der Glauben an eine natürliche und göttliche Ordnung der Dinge verlorengegangen, in der alles seinen Platz hatte und sich einfügte. Zudem war es nicht möglich, die Verluste politisch einzuklagen, da sie im Osten Deutschlands zu den unerwünschten Grundbesitzern zählten. Ich habe davon profitiert: Ich wurde von ihnen so geliebt, als hätte ich persönlich die Liebe in die Welt gebracht.
MB Wann endete diese persönliche Idylle bei den Großeltern?
MK Ich kam zur Familie nach Berlin, als die Einschulung anstand. Meine drei Geschwister waren sieben, fünf und zwei Jahre älter. Wir lebten zuerst in der Nähe des Olympiastadions in Charlottenburg. Meine Mutter sagte immer noch Reichssportfeld. Die Stadt lag in weiten Teilen noch in Trümmern, was für uns Kinder durchaus auch interessant war. Man konnte Altmetall sammeln und verkaufen.
MB Erlebten Sie auch die Blockade Berlins?
MK Ja, ich erinnere mich, dass wir auf dem Schulhof, wenn Flugzeuge über uns hinwegflogen, sagten: Da wird unser Essen gebracht! Unser Essen hieß nach den Gebern Schwedenspeise. Alles war äußerst knapp. Allerdings besaßen wir einen eigenen Garten, den meine Mutter als Tochter aus landwirtschaftlichem Haus mit allem bepflanzte, was zu haben war. Es gab eigene Erdbeeren, Tomaten und Kartoffeln bis hin zu Salat und anderem Gemüse. Wir wurden von unserer Mutter angehalten, Pferdeäpfel zu sammeln. So rannten wir öfter den alten Zugpferden hinterher und riefen: »Bitte, scheißt endlich, damit wir die Äpfel sammeln können!« Die wurden dann im Garten sorgfältig als Düngemittel verteilt. Meine Mutter ging sogar so weit, zu überlegen, ob wir die eigenen Exkremente sammeln sollten, um den Kreislauf perfekt zu machen. Manchen Sommer mussten wir abwechselnd auf einer Luftmatratze im Garten übernachten, weil meine Mutter befürchtete, die Nachbarn könnten uns die Erdbeeren klauen. Sie war stolz, selbst auf dem winzigen Flecken die Früchte noch zu mehren.
MB Wie verstanden Sie sich mit den drei älteren Geschwistern?
MK Wir hatten untereinander ein sehr gutes, an sich liebevolles Verhältnis. Und trotzdem ging jeder seine eigenen Wege. Ich war zum Beispiel nicht für die Schule zu begeistern. Ich ließ sie einfach über mich ergehen und legte als sehr junger Mensch, noch nicht achtzehn Jahre alt, das Abitur mit Hängen und Würgen ab. Erst kurz zuvor hatte ich begonnen, überhaupt etwas zu lernen. Das gefiel meinem Vater wenig, hatte er doch in Koblenz eine gediegene humanistische Bildung erhalten. In seiner Schulzeit war er...
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