Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Die Straßenlaternen beleuchten die überfrorenen Büsche rechts und links der Straße. Es ist eisig, ich kann nicht so zügig fahren, wie ich gern möchte. Im Labyrinth des Neubaugebietes, in dem Cindis Elternhaus steht, fällt mir plötzlich wieder Costas' SMS ein, und ich fahre rechts ran, um sie zu lesen. Er schreibt: Leerlauf. Zu müde zum Arbeiten, zu hungrig, um aufs Büfett zu warten. Mit dem Zug wärst Du in drei Stunden hier - überleg es Dir. Heinz kann doch nach den Kindern gucken. Ich sterbe vor Langeweile ohne Dich heute Abend. C
Ich fühle mich matt und gleichzeitig furchtbar gehetzt. Was soll ich ihm antworten? Offenbar hat er vergessen, dass ich heute Besuch bekomme. Ich tippe: Mit dem Zug wärst DU in drei Stunden hier. Deine Kollegin kann doch nach dem Büfett gucken. K
Tief drinnen bin ich gerührt, dass er das Du in seinen SMS mit einem großen D schreibt. Ich fühle mich dadurch ernst genommen, und es evoziert zärtliche Gefühle in mir. Mein Costas, der sich in Kleinigkeiten genauso viel Mühe gibt wie im Großen. Ich stelle die CD an und fahre weiter, um Helli ihre Tasche zu bringen.
Kilian steht jetzt am Bahnhof. Joseph Protschka singt »Die alten bösen Lieder«, und ich merke zu spät, dass ich die Augen geschlossen habe, und fahre mit dem rechten Reifen über den Kantstein. Es ist das letzte Lied des Zyklus, und der Text hat eine Art, traurig zu sein, die mich nicht zum Heulen bringt, das schätze ich sehr. Das Klaviernachspiel ist anders, es kriecht mir direkt in die Seele und verbreitet dort eine eisige Kälte. Heine wusste genau, was er tat, und Schumann wusste es auch. Ich lausche dem Gesang und stelle die CD ab, bevor das hinterhältige Klavier mit seinem Alleingang anfängt und die trotzige Entschlossenheit des Sängers, seinen Schmerz zu bewältigen, mit Hoffnungslosigkeit kommentiert, indem es das Motiv des zwölften Liedes anklingen lässt. Vielleicht sollte auf meinem Grabstein kein Spruch stehen, der auf mich gemünzt ist, sondern einer an Costas adressiert: Sei unsrer Schwester nicht böse, du trauriger, blasser Mann.
Vor Cindis Haus steht eine einzelne Laterne und flackert unregelmäßig. Ich stelle das Auto direkt darunter ab und gehe mit Hellis Tasche in der Hand in diesem Geflacker zur Tür. Auf mein Klingeln reagiert zunächst niemand, aber beim zweiten Versuch öffnet sich die Tür. Vor mir steht ein mir völlig unbekannter junger Mann, dessen Gesichtsausdruck meine Überraschung spiegelt.
»Nanu«, sagt er. »Wen haben wir denn hier?«
Ich kann hören, dass er nicht mehr nüchtern ist. Er hält sich am Türrahmen fest und schaut mich auf eine Weise ernst und geradeaus an, die zeigt, dass er sich alle Mühe gibt, keinesfalls unfokussiert zu wirken. Gedämpft wummern die Bässe der Musik, die hinter ihm im Haus voll aufgedreht ist.
»Hier haben wir Hellis Mutter«, sage ich. »Mit der Zahnbürste.« Ich hebe die Tasche etwas an, damit er sie sehen kann, ohne seinen Blick allzu sehr senken zu müssen. Hinter ihm taucht Helli auf, schiebt ihn zur Seite auf eine beinahe mütterliche Art, nicht zu grob, aber bestimmt und fest genug, dass er Würde und Gleichgewicht bewahren kann. Sie ist atemlos und hat rote Wangen. Bevor sie die Tür hinter sich bis auf einen kleinen Spalt zuzieht, erhasche ich noch einen Blick auf den Raum jenseits der Garderobe. Er scheint gut bevölkert zu sein. Helli erfasst sofort, was ich denke. Immer wieder macht mich ihre Fähigkeit, mich wie ein offenes Buch zu lesen, sprachlos. Müsste jemand, der etwas hat, das das Wort Aufmerksamkeitsdefizit im Namen trägt, nicht eher Schwierigkeiten haben, die Gefühle anderer Leute zu erraten? Aber Mütter sind keine normalen Leute, nichts, was für andere gilt, muss auch für sie gelten. Womöglich sind alle Mütter offene Bücher für ihre Kinder, aber die meisten Kinder sind einfach zu höflich, es sie spüren zu lassen. Kannte ich meine eigene Mutter in dieser Weise? Mir kommt es eher vor, als sei ich vollkommen blind gewesen, was sie anging.
Helli jedenfalls setzt augenblicklich zu einer Tirade der Mutter-Beruhigung an, die ihre Wirkung nicht verfehlt: »Das ist nur eine kleine Feier, mehr nicht. Roland hat irgendeine Prüfung bestanden und ein paar Leute eingeladen. Die bleiben gar nicht lange. Das ist ganz spontan entstanden. Cindi und ich dürfen ein bisschen mit dabei sein, aber das ist ja Rolands Feier, wir gehen nachher sowieso in Cindis Zimmer und gucken einen Film. Wir wollen noch für alle Pizza bestellen, und das war's auch schon. Cindi und ich haben damit gar nichts weiter zu tun. Der eben an der Tür, Hauke, der spinnt ein bisschen, den darfst du nicht ernst nehmen, aber der ist harmlos, echt, der checkt nur einfach nie was.«
»Auf mich wirkte er ziemlich angetrunken«, sage ich.
»Das kann sein. Der hat bestimmt vorher schon getankt, ich sag ja, der ist komisch. Wir anderen hören nur Musik und so und feiern ein bisschen, weil Roland diese Prüfung bestanden hat.«
»Was für eine Prüfung?«
»Keine Ahnung. Die haben doch ständig Prüfungen in der Oberstufe. Frag doch Alex. Oder warte mal, ich glaube, es war Karate. Lila Gürtel. Oder braun. Ist mir auch egal, Hauptsache, wir bestellen Pizza.«
»Wie viele Leute sind denn da drinnen?«
»Ein paar. Eine Handvoll oder so.«
»Und wo sind Cindis Eltern, sind die dabei?«
»Weiß nicht«, sagt Helli. Sie dreht sich um, öffnet die Tür ein wenig weiter und brüllt ins Haus: »Cindi! Sind deine Eltern da?«
Aus dem Haus ertönt Cindis Stimme, es klingt, als hätte sie den Mund voll: »Gerade nicht. Aber später. Sag das deiner Mutter. Die kommen nachher noch auf jeden Fall.«
»Gerade nicht«, sagt Helli zu mir und zieht die Tür wieder fast ganz zu. »Aber sie kommen nachher noch auf jeden Fall.«
Das Handy klingelt in meiner Manteltasche, das ist ganz sicher Kilian, der sich wundert, warum er allein bei Frost auf einem dunklen, verlassenen Bahnsteig stehen muss. Ich drücke Helli das Gepäck in die Hand und versuche, sie einzufangen, um sie auf den Kopf zu küssen. Ich erwische ihr Ohr, aber sie ist schon auf dem Weg ins Haus und hat mich in der Sekunde vergessen, in der sie sich von mir abgewandt hat.
Ich hole das Telefon aus der Tasche, drücke die Taste mit dem kleinen grünen Hörer darauf und melde mich: »Katharina Theodoroulakis.« Aber der Anrufer hat bereits aufgegeben. Ich eile zum Auto. Aus reiner Gewohnheit winke ich aus dem Autofenster in Richtung Haustür, während ich starte, aber es sieht mich keiner.
Helli ist erst elf, sage ich mir. Sie ist noch ein Kind. Natürlich findet sie Partys interessant. Vielleicht auch ältere Jungs. Möglicherweise auch Alkohol. Für alles, was über bloßes Interesse hinausgeht, ist es noch zu früh. Aber ich weiß, dass das nicht stimmt, dass ich mich selber belüge. Ich habe das gedacht, ja, bis gestern. Seit heute müsste mir eigentlich klar sein, dass ich den Anschluss verpasst habe an das, was Helli tut oder lässt, und wo sie gerade genau steht auf ihrer Lebensleiter. Irgendwann in der letzten Zeit muss die große Veränderung eingesetzt haben, ohne dass ich sie bemerkt habe, eine Schwelle ist überschritten, und ich habe es nicht gesehen. Mag sein, dass Helli noch immer zwischen den Welten wandert, dass sie sich in dem verwirrenden Niemandsland zwischen Kindheit und Pubertät befindet, ein Zwitterwesen, weder Fisch noch Fleisch. Aber ist nicht gerade diese Zeit besonders gefährlich? Die Zeit, in der das Kind, das sie noch ist, verletzt werden kann, womöglich für immer beschädigt und traumatisiert, weil es Erfahrungen machen muss, die für Jugendliche gedacht sind, die - und das ist das Schlimmste daran - Helli sich selber einbrockt, weil der bereits pubertierende Teil von ihr vorprescht? Ich versuche angestrengt, mich an mich selbst zu erinnern, und das einzige Lebensgefühl, das ich, abgesehen von meiner romantischen Schwärmerei für Dirk aus dem Schulchor, für diese Zeit finde, manifestiert sich in der Angst vor Kotzanfällen und dem Gefühl, einsam auf dem Klo sterben zu müssen. In meiner Übergangszeit zwischen Kindheit und Pubertät gab es keine Partys, nicht für mich.
Der Tag, an dem ich bemerkte, dass ich die Grenze zur Erwachsenenwelt überschritten hatte, war kein schrecklicher Tag. Es war vielmehr so, als hätte ich lange nicht scharf sehen können und endlich eine Brille aufgesetzt. An einem Herbsttag blieb ich länger im Reitstall, weil es windig und kühl war. Ich hatte keine Lust, mit dem Fahrrad nach Hause zu fahren, obwohl die Reitstunde längst zu Ende war. Ich trieb mich in der Sattelkammer herum und lockte die Stallkatzen. Ich stromerte durch die Boxengassen und streichelte Pferde. Fegte ein bisschen in den Gängen, träumte, überlegte, welches der Pferde ich kaufen würde, wenn ich viel Geld hätte. Eine Stute stand in einem der Gänge und wurde für ein Turnier hergerichtet. Die Besitzerin flocht den Schweif ein, lackierte die Hufe, ich schaute eine Weile zu. Irgendwann ging die Stalltür auf, und einer der Zuchthengste wurde hereingeführt. Er trug den Namen Florenz, weil in diesem Stall alle für die Zucht relevanten Tiere nach Städten benannt waren - eine Tatsache, die mir als jungem Mädchen in keiner Weise seltsam vorkam. Florenz wurde einmal durch den ganzen Stall geführt, er war sehr groß, dazu nervös und schreckhaft, ein junger Mann führte ihn am Strick und redete beruhigend auf ihn ein. Florenz stand üblicherweise in einem anderen Stallgebäude, getrennt von den Schul- und Privatpferden und den niederen Schichten des Zuchtbetriebs. Vermutlich machte ihn die ungewohnte Umgebung so unruhig. Aber dann erspähte...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.