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Mareike Krügel
Seit einiger Zeit weiß ich es: Ich lebe auf Resten von Skandinavien. Wenn ich von meinem Wohnhaus aus den Feldweg entlang unseren etwas außerhalb liegenden Kirchenhügel hinaufspaziere, gehe ich auf schwedischem Gestein, vor Jahrmillionen hier zusammengeschoben, abgelegt, zurückgelassen und nach und nach zu einer welligen, freundlichen Landschaft gewandelt. Etwas skandinavisch kann Schleswig-Holstein einem natürlich leicht vorkommen. Wegen der dänischen Hotdogs zum Beispiel, die man in vielen Fußgängerzonen an kleinen Buden mit Dannebrog-Flagge kaufen kann. Oder wegen der baumwollenen Vorhangstoffe an den Fenstern, der Vorgärten voller Bauernrosen, der vielen Brittas, Ingas und Oles, die hier nicht erst neuerdings ganz selbstverständlich herumlaufen. Aber nicht nur oberflächlich ist es hier so nordisch, sondern auch irgendwie unsichtbarer, atmosphärischer - grundlegender eben.
Bereits in der Grundschule lernt man bei uns, die dreifaltige Struktur der schleswig-holsteinischen Landschaft zu benennen. Von West nach Ost: Marsch, Geest und Östliches Hügelland. Man lernt, dass all das, was wir täglich sehen, von Eiszeiten geformt wurde. Wenn ich als Kind von meinem Wohnort bei Kiel aus mit dem Fahrrad zum nächsten Strand fahren wollte, kam ich durch eine Senke, die einfach nur »das Urstromtal« hieß. Die Steine, die ich am Fuß der Steilküsten an der Ostsee fand und aufsammelte, ein Stück mitschleppte und wieder fallen ließ, sobald ich einen hübscheren sah, hatten skandinavische Namen - Oslobasalt, Schonengranulit, Larvikit.
Aber erst als Erwachsene, als es anfing, mich wirklich zu interessieren, wurde mir klar, dass dort, wo jetzt Schleswig-Holstein liegt, kein Land wäre - abgesehen von einer Insel aus Gipsgestein, dem Segeberger Kalkberg, der aus dem Wasser ragen würde -, wenn nicht Schweden und Norwegen aus Felsen beständen. Und wenn die Gletscher während der Kaltzeiten auf ihrem langsamen, unbeirrbaren Weg nach Süden nicht jede Menge davon mitgenommen hätten. Das Land, auf dem ich stehe, wenn ich vom Kirchenhügel meines Wohnortes aus Richtung Küste blicke, ist insofern eigentlich nicht geformt durch Eiszeiten, wie ich in der Schule lernte. Es ist entstanden durch Eiszeiten.
Schleswig-Holstein ist längs gestreift. Zwar sind die Farben Blau, Weiß und Rot auf der Flagge quer aufeinandergeschichtet, wenn man jedoch aus der Vogelperspektive auf das Bundesland blickt, erkennt man seine klare vertikale Dreiteilung. Und die Streifen, die von Norden nach Süden verlaufen, sind derart unterschiedlich, dass man beim Querdurchfahren von einem Meer zum anderen deutlich merkt, in welchem von ihnen man sich gerade befindet.
So hat die Geest, der mittlere Abschnitt, einen sandigen, wenig fruchtbaren Boden, denn die Gletscher haben hier alles Gestein unter sich zermahlen. Auf diesem Drei-K-Boden - nur geeignet für Kiefern, Kartoffeln und Karnickel - braucht die Landwirtschaft Erfindungsreichtum. Und das Grundwasser kratzt wegen des dringend nötigen Düngens ständig an der Grenze zur bedenklichen Nitratbelastung. Der Name dieser Region kommt von dem niederdeutschen Wort für »trocken« und »unfruchtbar« - gest. Einen Katzensprung nördlich der Elbe, bei St. Michaelisdonn, sieht man den Rand der Geest ganz deutlich: eine 40 Meter hohe, steile Abbruchkante mitten im Land, dort, wo irgendwann im Pleistozän einmal eine Gletscherzunge endete. Davor lag früher das Meer. Und heute liegt dort die Marsch.
In der Marsch hatten die Gletscher nichts mitzureden. Dort ist der Boden dem Meer abgetrotzt, entweder neu hinzugewonnen, zurückerobert oder mit aller Kraft festgehalten. In der Marsch sind die Böden nährstoffreich und fruchtbar, sie eignen sich gut für Gemüse, aber sie müssen entwässert werden, denn das Wasser von oben und das von unten streben zueinander und wollen sich vereinen. Wenn man am Strand ein Loch buddelt, braucht es nur wenige Handbreit tief zu sein, bevor es sich mit Wasser füllt. Probiert man dieses, stellt man fest, dass es sich um Süßwasser handelt. Am Strand und in den Wiesen der schleswig-holsteinischen Marsch im Westen spürt man, wie dünn das Land sein kann, das einen trägt.
Im Osten dagegen finden sich Hügel und Seenplatten - nicht umsonst heißt eine Gegend dort Holsteinische Schweiz -, Steilküsten und Steinstrände. Ehemalige End- und Seitenmoränen bestimmen das Aussehen der Landschaft. Der lehmige Boden, auf dem im Frühsommer Raps bis zum Horizont gelb blüht, drückt Jahr für Jahr Gesteinsbrocken an die Oberfläche: kleine Feldsteine, die in mühsamer Handarbeit in den späten Wintermonaten von den Äckern gesammelt werden müssen, damit die Pflüge und Eggen keinen Schaden nehmen. An den Feldrändern werden sie zu Haufen aufgeschüttet, und nicht wenige, die ihren Garten neu anlegen, bezahlen viel Geld für eine Ladung davon. Aber auch die sogenannten Findlinge, die übermannshoch sein können, arbeiten sich nach oben. Manche von ihnen sind als örtliche Attraktion zu besichtigen, andere bekommen eine Inschrift und dienen als Denkmal, und wieder andere bilden die Grundlage für die übliche, immer gleiche Legende: Ein Riese (interessanterweise ist es in manchen Geschichten auch ausdrücklich eine Riesin) warf in seiner Wut mit einem Stein, und wo der landete, liegt er noch heute. Eine andere Version erzählt, dass es der Teufel selbst war, der den Stein warf, um eine Kirche zu zerstören. Immer warf er zu kurz. Mehrere große Findlinge, die vor der Küste Angelns, Schwansens und der Landschaft Dänischer Wohld, die zwischen Eckernförder Bucht und Kieler Förde liegt, aus dem Wasser ragen, tragen den Namen Teufelstein. Viele der Kirchen sind wiederum aus genau solchen Feldsteinen erbaut und stehen wie kleine Burgen immer auf der höchsten Stelle eines Dorfes. Der Weiße Stein vom Windebyer Noor hingegen, einer vom Meer getrennten ehemaligen Bucht, die jetzt einen großen See bildet und nur noch unterirdisch mit der Ostsee verbunden ist, heißt so, weil er von Seevögeln gern als Rast- oder Aussichtsplatz benutzt wird. Der Stein stammt ursprünglich aus dem schwedischen Värmland, und eigentlich ist er auch nicht weiß, sondern rötlich, aber das lässt sich unter den generationenalten Schichten von Kormorankot nicht mehr erkennen.
Und nicht wenige der riesigen Steine sind zu kleinen Häuschen aufgeschichtet und geben Zeugnis von einer Zeit, in der ohne Maschinen Gräber für die Toten mit so viel Mühe gestaltet wurden, dass sie buchstäblich für die Ewigkeit geschaffen sind. Die steinzeitlichen Gräber Schleswig-Holsteins gehören zu den ältesten erhaltenen Bauwerken Europas.
Das Wasser, das im Östlichen Hügelland aus den Leitungen kommt, ist hart und ausgesprochen wohlschmeckend. Es wird aus tief in der Erde liegenden Wasserdepots hochgepumpt, in denen es, durch Erdschichten gereinigt, seit den Eiszeiten lagert.
Man geht also im weitaus größten Teil Schleswig-Holsteins auf klein gemahlenem skandinavischen Festland. Entweder durch Gletscher zusammengeschoben, platt gewalzt oder abgeschliffen, durch Abflüsse zerfräst und von Toteisvorkommen zerlöchert. Oder hochgehoben durch das Salz, das tief unten im Boden lagert und die darüberliegenden Schichten nach oben drückt.
Eines der ersten Dinge, die man daher tun sollte, wenn man Schleswig-Holstein verstehen möchte, ist, sich mit der Bodenbeschaffenheit zu beschäftigen. Denn wenn man die Wirtschaft, die Politik, die Mentalität, die Landwirtschaft, den Städtebau und die Animositäten untereinander begreifen möchte, kommt man um die Geologie des Landes kaum herum, die in all diesen Belangen stets genauso kräftig mitbestimmt hat wie das Wetter.
Es ist jener skandinavische Schutt, der es mir mitunter schwer macht, bei einem Spaziergang an den schmalen Stränden unter den Steilküstenabschnitten zwischen Lübecker Bucht und Flensburger Förde entlang der Ostsee, so hübsch, dramatisch oder beeindruckend sie sich auch präsentieren mag, den Blick nicht auf den Boden geheftet zu halten. Wonach ich in der Hauptsache Ausschau halte, sind Butterstullen. Ob man das im Norden überall so nennt, bezweifle ich. In meiner Familie, deren einer Teil brandenburgische Wurzeln hat, weiß allerdings jeder, was gemeint ist: flache, glatte Steine, die man »flitschen« lassen kann. Die Technik ist nicht ganz einfach, und je nach Wellengang gelingt das...
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