Schweitzer Fachinformationen
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Schon von Weitem fallen die Unmengen an Speck auf, in Streifen, Stücken und Scheiben auf den silbernen Vorlegeplatten des Büffets. Der ganze Saal ist in traniges Gelb getaucht, die tief hängenden Tiffanylampen brennen, obwohl es draußen noch gar nicht dunkel ist. Über der Tür das geschnitzte Holzschild mit der Aufschrift Große Laugenspitze, auf dem Fußboden ein burgunderfarbener Teppich, dunkelbraune Täfelung an den Wänden. Matthias Harms hat kurz das Gefühl, direkt in einen Albtraum hineinzuspazieren. Er wünschte, Günther wäre mitgekommen, wie er es vorhatte, der würde jetzt sicher eine richtig bissige Bemerkung zu der ganzen Szenerie machen und ihn damit aufmuntern. Die Zugfahrt von Hamburg war nicht gerade optimal verlaufen. Ein verpasster Anschluss wegen eines Schwindelanfalls auf der Bahnhofstoilette verlängerte die Fahrt unnötig, später ein ausgedehntes Herumstehen auf freier Strecke aufgrund eines Personenschadens, die Telefonverbindung war ständig unterbrochen, und ein Gespräch mit seiner Mutter konnte er beim besten Willen nicht zu Ende führen. Daran waren die Berge schuld, die Tunnel, das schlechte Wetter unterwegs. Immerhin war er rechtzeitig zur Eröffnungsveranstaltung im Hotel eingetroffen, nur hatte er eben noch keine Zeit gehabt, ein Bad zu nehmen und sich die Nacht im Zug abzuspülen wie ursprünglich geplant. Das Gute ist, dass er durch die längere Fahrt auch mehr arbeiten konnte. Außerdem scheint in Meran die Sonne, es ist unerwartet warm. Und schließlich hat er sich auf das Wochenende in den Bergen ja durchaus gefreut.
Ein Kollege, den er bereits von anderen Tagungen kennt, kommt auf ihn zu, Hermann Manfred, oder auch Manfred Hermann, er kann sich das einfach nicht merken. Der begrüßt ihn, als wären sie schon immer dicke Freunde gewesen, zieht ihn am Ärmel hinter sich her in den Saal, und Matthias ist zu gut erzogen, um sich dagegen zu wehren.
Hermann Manfred findet einen Tisch in einer Ecke für sie beide, und Matthias schiebt sich folgsam auf eine Holzbank mit losen Kissen, die sofort verrutschen. Nach und nach füllt sich der Saal.
Zu ihnen setzen sich drei weitere Herren, einer auf die Bank, zwei auf die Stühle, Vorstellen, Händeschütteln. Matthias hört Hermann Manfreds Namen in der richtigen Reihenfolge und vergisst sie sofort wieder, keiner von ihnen am Tisch trägt die Namensschilder, die im Zimmer bereitlagen. Dann sitzen sie alle da und warten, dass es losgeht, mit weit auseinander gestellten Beinen, verschränkten Armen, Kinn auf der Brust, wie Platzhirsche, und Matthias freut sich heimlich, als er sieht, dass die Kellnerin, die kommt, um Getränkebestellungen aufzunehmen, tatsächlich eine lederne Hirschapplikation auf ihrem Rock hat und Hornknöpfe an der Bluse. Sie bestellen alle Bier. Der Programmpunkt dieses Abends heißt »Geselliges Beisammensein«.
Manfred Hermann dreht sich auf seinem Sitzkissen hin und her, späht an den anderen vorbei in den Saal und sagt: »Es sind ganz schön wenig Frauen hier.«
»Auf so einer Tagung hat man eben nichts zu suchen, wenn man mit seinen Patienten immer einer Meinung sein will«, sagt Matthias. Es soll ein Witz sein, aber die Platzhirsche nicken zustimmend. Daraufhin hält er lieber erst mal den Mund. Es ist zu warm, man kommt ins Schwitzen, der Lärm ist beträchtlich - offensichtlich ist ihr Tisch der einzige, an dem Schweigen herrscht. Das Bier kommt und sorgt für Beschäftigung. Auf den Gläsern sind Tannenbäume abgebildet.
Zur Erleichterung der geselligen Runde werden irgendwann die Ziehharmonikatüren zwischen Speisesaal und Lobby zugezogen, und jemand klopft an ein Glas. Ein Mann erhebt sich, er trägt eine Lodenjacke und hält eine kleine Eröffnungsrede. Matthias kennt ihn, sie haben miteinander telefoniert, Huber heißt er, und er leitet diese Tagung. Er grinst viel, während er spricht, fummelt sich im Gesicht herum und behält die ganze Zeit eine Hand in der Hosentasche. An der Sprachmelodie und den Konsonanten hört man deutlich, dass er aus der Gegend kommt. Er bittet darum, auch das Rahmenprogramm zu beachten, stellt besondere Gäste vor - für jeden Tag ist ein Mittagsredner eingeladen -, und alle Köpfe drehen sich, als er in Matthias' Richtung deutet. Nachdem er ein paar Veränderungen im Ablauf aufgezählt hat, macht er einen Witz - Wie viele Psychologen braucht man, um eine Glühbirne einzudrehen? - und fordert zum Schluss alle auf, sich reichlich vom Speck zu bedienen, und für den Fall, dass er irgendjemandem noch nicht aufgefallen ist, wedelt er mit den Armen Richtung Büffet. Er nimmt sich sogar einen Moment, um dessen Herstellung zu erläutern: besonderes Räucherverfahren, Lufttrocknung, Edelschimmel, ganzer Schinken, heimisches Schwein. Es gibt Applaus, dann beginnt die Geselligkeit offiziell. Im Hintergrund dudelt Musik.
Matthias hat keinen rechten Appetit, aber die anderen sind bereits aufgestanden, um sich am Büffet anzustellen, und so allein am Tisch kommt er sich verloren vor. Mit einem Teller in der Hand geht er langsam an den Servierplatten vorbei, er hat keine Ahnung, was er sich nehmen soll. Speck ist eigentlich nichts für ihn, aber er nimmt sich pflichtschuldig ein paar grob heruntergesäbelte Scheiben; der Salat mit Gemüsestückchen und reichlich Mayonnaise besteht zu fünfzig Prozent aus Perlzwiebeln. Die Butterstücke, in Form von Kleeblättern ausgestanzt, kommen aus dem Tiefkühler und schwitzen Wasser aus. Die panierten Schnitzel sind natürlich längst kalt, die Salatkomponenten zum Selber-Zusammenstellen sind großenteils eingelegt und riechen säuerlich (grüne Bohnen, Krautsalat, rote Bete).
Am Ende hat er im Wesentlichen Brot auf seinem Teller, eine Scheibe von dem Mischbrot, das so groß ist wie ein Autoreifen, einen trockenen Fladen mit hubbeliger Oberfläche, von dem er hofft, er werde wie Knäckebrot schmecken, und eine Hälfte von einem flachen, runden Brot, das diverse Gewürze enthält. Er meint, es aus einem Urlaub seiner Kindheit zu kennen, den er mit seiner Familie hier verbracht hat. Er weiß noch, dass sein Vater damals bei einer Wanderung für alle drei Kinder mit seinem Filzhut Wasser schöpfte, als sie an einer Quelle Rast machten. Die Wanderung war mörderisch gewesen. Sonst erinnert er sich an fast nichts mehr. Das Ganze ist gut vierzig Jahre her.
Zum Essen sitzen wieder alle auf ihren Plätzen in der Ecke, die Kellnerin bringt eine neue Runde Bier, einer der Herren am Tisch deutet auf Matthias' Teller und sagt: »Das nenne ich eine ausgewogene Ernährung.«
Matthias schmunzelt freundlich und überlegt währenddessen, wie der Mann heißt. Er hat den Namen vorhin nicht verstanden, weil er so genuschelt wurde.
»Sie sind das also«, sagt ein anderer, der sich wenigstens verständlich als Geierhofer vorgestellt hat, ein Kollege aus Österreich mit einem bemerkenswert glatt rasierten Gesicht, das Hemd bis obenhin zugeknöpft, aber ohne Krawatte. »Der mit den Zwängen. Ich habe neulich diesen Aufsatz von Ihnen gelesen.«
»Wie schön«, sagt Matthias. Er hat Brot im Mund.
»Ist das dann auch morgen Ihr Thema? Beim Vortrag?«
»Welcher Aufsatz war es denn?«
Geierhofer sieht für einen Moment irritiert aus, dann zieht er den rechten Mundwinkel hoch - seine linke Gesichtshälfte bleibt den gesamten Abend über weitgehend unbewegt - und sagt: »Ganz ehrlich, ich kann mich nicht erinnern. Es kam eine Frau drin vor und eine Menge Abkürzungen.«
»Den hab ich auch gelesen«, sagt der Nuschelnde.
»Wo ist denn dann der Vortrag morgen?«, fragt Hermann Manfred.
Matthias überlegt. »Im großen Konferenzraum. Der heißt wie ein Pferd, glaube ich.«
»Hafling«, sagt der Nuschelnde.
»Das ist ein Pferd?«, sagt Geierhofer. »Für mich klingt das eher nach einem Hobbit.«
Danach geht das Gespräch leichter. Sie einigen sich alle bald auf das Du, wobei Geierhofer ihnen den Vornamen verschweigt, er ist ihm offensichtlich peinlich. Matthias' Vorsatz, nicht zu viel zu trinken, ist nach dem dritten Bier unwichtig geworden. Er braucht die Flüssigkeit, er hat viel zu wenig Butter und Aufschnitt für seinen Brotberg, und keines der Brote, die er sich geholt hat, ist auch nur annähernd als saftig zu bezeichnen.
Der Fünfte, der mit ihnen am Tisch sitzt, ist ruhig und zurückhaltend, jünger als sie alle, ein drahtiger, hoch gewachsener Mann mit blondem Schnurrbart (vermutlich schwul). Er heißt Thomas, hat ihnen aber angeboten, ihn Tommy zu nennen, er ist Schweizer, hat trotzdem kaum Akzent und wohnt in Köln, was Matthias nicht überrascht. Er tut alles erkennbar maßvoll: isst nicht zu viel und nicht zu schnell, hält sich länger als die anderen an seinem Bier auf. Er befindet sich in der Therapeuten-Ausbildung, kurz vor dem Abschluss. In einer Gesprächspause wendet er sich an Matthias: »Du bist also vollkommen spezialisiert auf Zwänge, wenn ich das richtig verstehe.«
»Das verstehst du richtig.«
»O Gott, wie anstrengend.« Thomas kichert etwas albern. »Ich hatte vor einiger Zeit einen Fall, da hab ich erst gar nicht gemerkt, dass das ein Zwängler ist, das war ziemlich schrecklich. Der hat die ganze Zeit mit mir diskutiert, und ich fürchte, er war einfach zu intelligent für mich.«
»Das kenne ich«, sagt Hermann Manfred.
Matthias lacht laut auf.
»Trotzdem - irgendwie hat es mich auch fasziniert«, sagt Thomas.
»Zwangspatienten sind eine Pest«, sagt Geierhofer.
»Jawohl«, sagt Hermann Manfred.
»Ich finde sie faszinierend«, sagt Thomas.
»Das wissen wir schon«, sagt Geierhofer.
Matthias senkt den Kopf,...
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