Schweitzer Fachinformationen
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Acht Jahre später
Marie hatte schon die dicke Jacke an, den Helm in der Hand und wollte auf dem kürzesten Weg mit ihrer alten Yamaha XT 500 nach Hause. Welcher Teufel hatte sie eigentlich geritten, als sie am Morgen beschlossen hatte, mit dem Motorrad zur Arbeit zu fahren? Klar, es sollte ein trockener, sonniger Tag werden, aber eben auch nicht wärmer als fünf Grad. Und das am 29. März. Von Frühling keine Spur. Marie hasste den Winter. Vor allem, wenn er so lange dauerte.
In der Tür stieß sie fast mit ihrem Chef Stephan Weide zusammen. Bei diesem Zusammenprall hätte Weide verloren, denn Marie wog locker zehn Kilo mehr als er.
»Marie, schön, dass ich Sie noch treffe«, sagte Weide und lächelte verkrampft. »Wir haben da gerade eine Leiche reinbekommen, die mit Ihnen den Feierabend verbringen möchte.«
»Echt jetzt? Reicht es nicht, wenn Walter das macht? Ich -«
Weide unterbrach sie. »Nein, reicht nicht. Das ist nicht der übliche Suizid oder Unfall, das ist, wie soll ich sagen, bizarrer.«
»Sie machen mich neugierig, Herr Weide.«
Marie hängte den Helm zurück an die Garderobe und steuerte an Weides Seite die Fahrstühle an. Im Lüneburger Polizeipräsidium war nicht mehr viel los. Die Beamten mit Tagesdienst waren längst weg.
Weide sah wie immer gut aus. Die grau melierten Haare mit etwas Gel unordentlich gestylt, das Kinn glatt rasiert. Er duftete selbst nach einem langen Arbeitstag noch nach seinem sicher teuren Aftershave. Sein neuer Wintermantel aus Lammfell hatte bestimmt ein Monatsgehalt von Marie gekostet. Auch wenn der Oberkommissar nun schon ein Dreivierteljahr eine Art Ehepause durchlebte, schien er immer noch vom Reichtum der Düsseldorfer Unternehmertochter zu profitieren.
Im Aufzug fragte Marie ihren Chef: »Was meinen Sie mit bizarr?«
»Bizarr kommt vom französischen bizarre und bedeutet so viel wie merkwürdig, sonderbar.« Er grinste.
Der Klugscheißer, dachte Marie. »Ja, danke, Herr Weide, dass Sie meine Bildungslücken immer so galant auffüllen. Aber jetzt mal ehrlich.«
»Unser Opfer wurde wohl in einem Zustand aufgefunden, den man als absonderlich bezeichnen muss.«
»Wo?«
»In einer Autowerkstatt.«
»Daran ist erst mal nichts Absonderliches. Wir hatten schon häufiger Opfer in Werkstätten. Ich erinnere mich an einen Fall -«
»Dieser Fall ist absonderlicher, glauben Sie mir. Aber fahren wir erst mal hin.«
Er reichte ihr den Schlüssel des Dienst-Golfs und machte damit wortlos klar, dass Marie ihn chauffieren durfte.
»Wohin?«
Weide las von seinem Handy ab: »Goseburg-Zeltberg, ein Gewerbegebiet. Das ist wohl -«
»Ich weiß, wo das ist, Herr Weide, nicht weit«, sagte Marie, als sie am Auto angekommen waren.
Der Feierabendverkehr ließ sie nur langsam vorankommen. Natürlich hätte sie das Blaulicht aufs Dach setzen können. Aber Marie vermied Alarmfahrten, wenn es irgendwie ging. Anders als der Kollege Kriminalmeister Walter Sobchak, der sich freute wie ein kleiner Junge, wenn sich der Verkehr vor ihm in das teilte, was der Durchschnittsautofahrer in Lüneburg für eine Rettungsgasse hielt.
Eile war nicht geboten. Das Opfer war tot, und Mitwirkende an seinem Ableben, sofern es welche gab, waren längst über alle Berge oder von dem Polizeiaufgebot vor Ort festgesetzt.
Die Autowerkstatt lag in einer Seitenstraße in einer Reihe flacher Zweckbauten. Vor dem Gebäude standen mehrere Streifenwagen, ein Rettungswagen und ein Rüstwagen der Feuerwehr. Was wollen die hier alle, dachte Marie. Haben die Langeweile?
Das breite Rolltor war heruntergelassen. »Auto Ludwig - Gebrauchtwagen An- und Verkauf«, stand in großer, schmuckloser Schrift darauf. Dazu eine Telefonnummer.
Weide und Marie betraten die Werkstatt durch eine Tür im Rolltor, die ein uniformierter Beamter ihnen aufhielt. Das einfache Zylinderschloss in der Stahltür war aufgebrochen, das sah Marie auf den ersten Blick.
Der Beamte stellte sich als Mario Weischer vor. Marie bemerkte, wie Weide den Namen gleich auf einen Zettel notierte. Nur so konnte der Kriminaloberkommissar den Namen behalten. In seinem angeschlagenen Gedächtnis blieb nicht viel hängen.
Die Werkstatt war recht groß. Vier oder fünf Autos konnten hier gleichzeitig repariert werden. Es standen aber nur zwei darin. Es gab eine Hebebühne, eine Grube, an den Wänden Werkbänke und jede Menge Werkzeug. Es sah alles sauber und ordentlich aus. Es fehlten, soweit Marie das im spärlichen Licht sehen konnte, auch die üblichen Pin-up-Poster. Als Weischer ihnen ein paar Schritte vorausgegangen war, eröffnete sich ihnen die grausige Szenerie.
An der Rückwand der Halle, auf einer Werkbank, lag ein Körper. Ein männlicher. Bei genauerer Betrachtung erkannte Marie, dass der Körper nicht lag, sondern irgendwie aufgespannt war. Die Arme waren hinter dem Rücken mit Spannriemen an der Werkbank fixiert. Die Beine waren leicht gespreizt. Spannriemen in den Kniekehlen reichten zu einer Stahlstrebe unter der Decke und hoben sie so leicht an.
Der Kopf des Mannes war mit einem weiteren Riemen extrem nach hinten gespannt. Das Gesicht wies einige Hämatome auf, aber keine schwereren Verletzungen. Im halb geöffneten Mund steckte ein Schlauch, der mit einem Gerät an der Wand verbunden war. Marie konnte nicht erkennen, was es war.
Das wirkliche Grauen begann unterhalb der Brust des Mannes. Die Bauchdecke war geöffnet. Blut und Eingeweide hingen wie bei einem überfahrenen Tier heraus. Hemd und Hose des Opfers hingen in Fetzen. Ein fauliger Gestank lag in der Luft. Blut. Exkremente. Viel Blut und Teile von Innereien waren an der Werkbank hinuntergelaufen und hatten auf dem Boden eine schmierige dunkelrote Pfütze gebildet.
Marie war einiges gewöhnt, aber bei diesem Anblick drehte sich ihr der Magen um. Sie trat ein paar Schritte zurück und wandte den Blick ab. Weide ging nicht ganz so nah an die Leiche heran und wirkte fast unbeeindruckt.
»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Marie den Polizisten. Der deutete mit dem Kopf in eine Ecke, wo eine kleine Küchenzeile mit einem Waschbecken stand. Darüber beugte sich ein korpulenter Mann mit Halbglatze. Er würgte, wollte sich übergeben, aber er hatte den Magen offenbar bereits geleert.
»Wer ist das?«, fragte Weide.
»Heinz-Peter Schröter«, las Weischer von einem kleinen Notizblock ab. »Er arbeitet hier als Mechaniker.«
»Ist er ansprechbar?«
»Versuchen Sie es.«
Marie und Weide gingen zu dem Mann hinüber, der sich gerade das Gesicht wusch. Um ihn herum stank es nach Erbrochenem.
»Kriminalkommissarin Marie Gläser von der Kripo Lüneburg. Mein Chef, Herr Weide. Sie sind Herr Schröter?«
Der Mann trocknete sich mit einem fleckigen Handtuch das Gesicht ab und nickte.
»Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen. Wir können gern vor die Tür gehen, wenn Ihnen das lieber ist. Es ist aber sehr kalt.«
»Bleiben wir hier. Geht schon.«
Schröter drehte sich mit dem Rücken zur Leiche und sah die Polizisten erwartungsvoll an. Er trug einen Blaumann, der über seinem voluminösen Bauch spannte. Er war vielleicht fünfzig Jahre alt und sah nicht sehr gesund aus.
»Erzählen Sie mal von vorne. Wie haben Sie den Toten gefunden?«
Schröter atmete tief durch und begann: »Ich bin vor einer Stunde hier angekommen. Habe einen Wagen gebracht, den ich morgen fertig machen wollte. Den da.« Er deutete mit dem Kinn auf einen älteren BMW.
»Sie haben also erst um siebzehn Uhr mit der Arbeit begonnen?«
»Ja. So ungefähr. Ich arbeite hier nicht immer. Nur wenn der Chef was zu tun hat.«
»Und hat sonst jemand heute hier in der Werkstatt gearbeitet?«
»Nein. Hier ist manchmal tagelang niemand.«
»Ist das nicht ungewöhnlich für eine Werkstatt? Bleiben dann nicht die Kunden irgendwann ganz weg?«, mischte sich nun Stephan Weide ein.
»Der Chef, also Herr Ludwig, ist Gebrauchtwagenhändler. Hier werden nur Autos repariert, die er anschließend verkaufen will. Andere Aufträge nehmen wir nicht an. Lohnt sich nicht, sagt der Chef.« Der Mechaniker schien sich etwas gefasst zu haben. Er sprach sachlich und konzentriert.
Marie sah zur Werkbank des Grauens hinüber. »Und als Sie reinkamen, haben Sie den da entdeckt?«
»Erst nicht. Ich bin mit dem BMW reingefahren und wollte dann noch ein paar Sachen zurechtlegen für den nächsten Tag. Der soll einen neuen Auspuff kriegen, und den Lack wollte ich polieren. Als ich dann an den Schrank dahinten ging, habe ich den gesehen. Mann, das ist das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Echt. Ich habe dann sofort die Polizei gerufen und draußen gewartet.«
»Das Rolltor haben Sie dann wieder zugemacht?«
»Ja. Ich wollte nicht, dass es hier drin zu kalt wird.«
»Haben Sie nicht bemerkt, dass die Türe im Tor aufgebrochen war?«
»Nein. Das Tor bediene ich mit einer Fernbedienung. Die Tür habe ich erst mit Ihren Kollegen geöffnet.«
»Kennen Sie den Mann?«, fragte Marie.
»Nein. Nie gesehen. Glaube ich jedenfalls. Kann man ja nicht so lange hingucken.«
»Haben Sie Ihren Chef schon informiert?«
»Ja. Der ist auf dem Weg hierher.«
»Was ist das für ein Schlauch, den das Opfer da im Hals stecken hat?«
»Das ist unser Kompressor.« Mit Blick auf Marie ergänzte er: »Luftdruck für Reifen, Schrauber und so.«
»Danke. Ich weiß, was ein Kompressor ist.« Marie versuchte, nicht beleidigt zu klingen.
Inzwischen war Rechtsmediziner Mohamed Mansour eingetroffen. Allein. Der junge Pathologe wurde vom Rechtsmedizinischen Institut in...
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