Was verbirgt sich hinter Rhetorik?
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ange Zeit verstand man den "zur Kunst gesteigerten Umgang mit Worten" unter dem Begriff "Rhetorik", abgeleitet aus dem Altgriechischen "rhetorike". Die "Kunst der Beredsamkeit" ist eine noch treffendere Bezeichnung. Denn Rhetorik geht schon seit den frühsten Anfängen weit über den schriftlichen Aspekt hinaus. Erst die verbale Umsetzung lässt die Worte lebendig werden und ihre Wirkung entfalten. Rhetorik ist bis heute als Kunstform zu verstehen. Kreativität spielt sowohl bei der Verschriftlichung als auch bei der praktischen Anwendung rhetorischer Werke eine große Rolle.
Doch darüber hinaus ist sie im Laufe der Jahre zu einer Wissenschaft herangewachsen, die sich neben den überlieferten Lehrbüchern der Antike vor allem den aktuellen Erkenntnissen aus Disziplinen wie der Psychologie und der Sprachwissenschaften bedient. Die Ästhetik ist zunehmend in den Hintergrund geraten, während das Augenmerk verschärft auf die gezielte Beeinflussung von Menschen gelegt wurde. Nach diesem Wandel wird Rhetorik eher als Spielen mit Sprache interpretiert, um der eigenen Persönlichkeit und seinen Botschaften mehr Ausdruck zu verleihen. So sollen bestimmte Gefühle oder Handlungen bei anderen ausgelöst werden. Dies umfasst nicht ausschließlich die Ebene des Monologs eines Redners vor Publikum. Daneben ist rhetorisches Geschick auch in alltäglichen Dialogen von Vorteil und gilt nun auch als Mittel, um sein Selbstbewusstsein zu stärken, Gespräche in eine bevorzugte Richtung zu lenken, langfristig Wissen zu vermitteln, Konflikte zu lösen und so weiter. Dass wir durch die bewusste Verwendung von Sprache eine gewünschte Wirkung bei anderen erzielen können, haben die Menschen im antiken Griechenland entdeckt. Sie waren die Ersten, die rhetorische Strategien analysierten, Theorien entwickelten und festhielten. Anwendung fanden diese vor allem innerhalb juristischer Konflikte in den Gerichten. Außerdem wurde parallel die Idee von Demokratien geboren. Durch solche Systeme war die Fähigkeit, öffentliche Diskussionen zu führen, von hoher Relevanz. Jedem männlichen Bürger in den griechischen Stadtstaaten stand ein Mitspracherecht in politischen und rechtlichen Entscheidungen zu. Darüber hinaus wurde bereits das große Potenzial von Rhetorik für die Anwendung im privaten Umfeld erkannt. Das systematische Erfragen persönlicher Probleme und Anliegen, bis der Gesprächspartner schließlich von selbst zu der Lösung finden würde, wurde als "Seelenlenkung" verstanden.
Korax, der ungefähr 460 vor Christus auf Sizilien lebte, gilt als Urvater der Rhetorik. In der damals griechischen Kolonie ließ er sich erstmalig für Lehrstunden bezahlen. Viele Schüler suchten Lehrer wie ihn auf, denn rhetorische Fähigkeiten wurden schon immer als etwas verstanden, das man sich unabhängig von Talent aneignen kann. Etwa 30 Jahre später wurden viele weitere solcher Schulen eröffnet. Unter anderem führten Isokrates und Platon Rhetorik-Schulen in Athen. Wortgewandtheit wurde schnell Bestandteil der Grundausbildung für die Philosophen. Ein Großteil der aufgestellten Lehren und Regeln sind zeitlos und werden noch immer zurate gezogen.
Auch im alten Rom standen begnadeten Rednern viele Vorteile innerhalb und außerhalb der Gerichtssäle zu. Cäsar schaffte es durch seine Rede zum Beispiel auf die Wahl des Volkstribuns im Senat einzuwirken. Allerdings verlor Rhetorik ihre Bedeutung mit Errichtung des Kaiserreichs wieder und konnte sich somit nicht langfristig als Mittel im politischen Kampf durchsetzen. Dennoch wurden Bücher wie "De Inventione" des römischen Redetalents Cicero Voraussetzung für ein Studium an europäischen Universitäten. Gleichzeitig wurden hier religiöse Predigten im Mittelalter auf rhetorischer Grundlage kunstvoller gestaltet. Die Begeisterung für Rhetorik blühte auf und noch bis ins 18. Jahrhundert war das Schulfach in Kombination mit Latein verpflichtend für jeden, der höhere Bildungsgrade anstrebte.
Erst in der Zeitepoche der Aufklärung gerieten talentierte Redekünstler aufgrund des zunehmenden Stellenwerts von absoluter Wahrheit in Verruf. Rhetoriker wurden von nun an als Betrüger von der Mehrheit angesehen. Während der Romantik spitzte sich dieser Verlauf zu, da der authentische Ausdruck von Gefühlen bedeutender wurde.
Dies ist mit dem damaligen Verständnis von Rhetorik nicht vereinbar gewesen. So sagte beispielsweise Goethe einst, dass eine Rede nicht dank festgelegter Normen gelingt, sondern aus der Tiefe des Herzens kommen müsse. Er beschimpfte Rhetorik als "Schule des Verstellens" und auch Immanuel Kant war der Ansicht, es handle sich um eine "hinterlistige Kunst". Folglich strichen Schulen und Universitäten das Fach von dem Lehrplan. Doch schon lange zuvor warnten überzeugte Rhetoriker der Antike vor genau diesen Gefahren. In Hinblick auf Gerichtsverhandlungen hielt Aristoteles ausgesprochen wenig von dem Auslösen von Emotionen im Publikum, die nichts mit dem sachlichen Tatbestand zu tun hatten. Darunter zählte er unter anderem das Vorführen der Familie des Angeklagten, um Mitleid zu erregen. Seiner Meinung nach dürften Gefühle ausschließlich in dem Sinne geweckt werden, dass bestehende Fakten besonders hervorgehoben werden.
Letztendlich seien es die Eigenschaften glaubwürdigen Wohlwollens und Tugendhaftigkeit, die einen Redner überzeugend machen. Ähnlicher Ansicht war auch Cicero, der Rhetorik ohne ein ausgeprägtes Bewusstsein für Moral als "Zeitbombe für die eigene Psyche sowie im Leben" bezeichnete. Dass er mit dieser Vermutung richtig lag, könnte kaum deutlicher gezeigt werden als anhand der Ereignisse im dritten Reich. Die tickende Bombe ging in Deutschland tatsächlich mit dem Beginn des Nationalsozialismus hoch und vernichtete das einst gute Ansehen von Redekünstlern endgültig. Führungsfiguren wie Adolf Hitler und Reichspropagandaminister Joseph Goebbels missbrauchten die Macht der Rhetorik für Propagandazwecke. Menschenmassen wurden landesweit manipuliert und in Angst und Schrecken versetzt, um verachtende Ideologien durchzusetzen und die Judenverfolgung möglich zu machen. Es ist erschreckend, dass im Zuge dessen tatsächlich Tausende bereit dazu waren, dem "totalen Krieg" jubelnd zuzustimmen.
Wirklich erholt hat sich der Ruf von Rhetorik im Laufe der Jahre nicht mehr. Immer noch setzen die meisten Bürger unseres Landes sie mit mieser Manipulation gleich. Außerdem herrschen falsche Annahmen bezüglich der Kategorisierung in weiße und schwarze Rhetorik. Viele würden das Vorgehen der nationalsozialistischen Regierung wahrscheinlich der schwarzen Rhetorik zuordnen. Diese ist jedoch zuerst einmal nur dadurch gekennzeichnet, dass das Hauptmotiv versteckt ist. Typischerweise werden sogenannte Scheinargumente genutzt. Dazu zählt zum Beispiel das Heranziehen einer Meinung, die von Mehrheiten oder Autoritäten vertreten wird. Obwohl solche Anhaltspunkte im Grunde genommen gar nichts beweisen, funktionieren sie überraschend gut, teilweise sogar besser als rein sachliche Begründungen. Abgezielt wird auf eine kognitive Verzerrung. Im Gegensatz dazu wird im Rahmen der weißen Rhetorik eine möglichst transparente Kommunikation angestrebt, die sich auf starke Argumente fokussiert. Die Grenzen sind jedoch fließend und so wie weiße Rhetorik nicht immer ethisch korrekt sein muss, ist schwarze Rhetorik nicht automatisch mit bösen Absichten verbunden. Verschiedene Persönlichkeiten und Gegebenheiten erfordern die Kenntnis beider Kommunikationswege, um Botschaften erfolgreich zu transportieren.
Literaturhistoriker Walter Jens vermutete, dass der vorherige Rückgang rhetorischer Bildung die zugrunde liegende Ursache für die Anfälligkeit der Deutschen gegenüber Propaganda gewesen ist. Fehlendes Wissen habe zu einer Unfähigkeit die psychologischen Tricks zu erkennen geführt. Daher richtete er 1967 an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen einen Lehrstuhl für Rhetorik ein. Diese ist inzwischen zwar wieder Bestandteil der Studiengänge Germanistik, Linguistik und Literaturwissenschaften, als eigenständiges Fach wird sie jedoch bis heute ausschließlich in Tübingen angeboten. Mittlerweile ist Germanist Dietmar Till zuständig für die Leitung. In seinen Vorlesungen schafft er Transparenz für die Vorteile gegenüber Rhetorik und möchte diesen auf keinen Fall ausweichen. Von Propaganda könne unterschieden werden, da diese von Totalität und der Verbreitung einer dominanten Meinung mithilfe manipulierter Medien gekennzeichnet sei.
Einen Graubereich gebe es trotzdem, doch letztendlich könne unmoralische Rhetorik nicht ohne die Aneignung des Wissens aufgedeckt werden. Umso bedauerlicher ist es, dass Deutschland diesbezüglich noch aufholen muss. Im Gegensatz dazu ist es in anderen europäischen Ländern wie Frankreich und England weitverbreitet, sich im Rahmen von Debattierclubs und Diskussionszirkeln darin zu üben, Meinungen zu vertreten, logisch zu argumentieren und Überzeugungsarbeit zu leisten. Auch in den Vereinigten Staaten ist Rhetorik durchgehend beliebt, was wahrscheinlich damit zusammenhängt, dass schon so lange ein demokratisches System besteht. Ein bekanntes Beispiel für die politische Relevanz ist Martin Luther Kings Rede "I have a dream" mit der Forderung von Gleichberechtigung für Afroamerikaner, die in die Geschichte eingegangen ist.
Trotz allem ist die Kunst der Beredsamkeit noch immer ein wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft. Zwar haben Politiker im deutschsprachigen Raum nicht mehr wirklich ein Publikum - es gelangen meistens nur kurze Ausschnitte ihrer Reden in die Zeitung oder Tagesschau, wobei die Zeit des Wahlkampfs eine Ausnahme darstellt - doch Rhetorik geht mittlerweile weit über...