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Mila Ehlers wusste in diesem Moment ziemlich wenig. Aber eine Sache wusste sie ganz genau: Selbst Justin Timberlake war von ihr enttäuscht.
Er starrte auf sie herab. Seine Haare umrahmten in kleinen, blonden Löckchen sein Gesicht, das so viel jünger war als in echt. Er grinste. Und trotzdem war sie sich sicher, dass ein Vorwurf in seinem Blick lag.
Er sah sie an und erkannte, dass sie gescheitert war. Auf jeder Ebene.
Sie konnte nicht länger Blickkontakt mit ihm halten und wandte sich ab. Was sie auf der anderen Seite ihres Zimmers entdeckte, munterte sie aber auch nicht gerade auf.
Sie war dreiunddreißig Jahre alt und stand in ihrem Kinderzimmer im Haus ihrer Mutter, das diese in den fünfzehn Jahren nach Milas Auszug kein bisschen verändert hatte. Milas Kindheit war zwischen diesen vier Wänden konserviert worden. Das NSYNC-Poster über ihrem Bett, die verstaubte Nähmaschine in der Ecke unter dem selbst genähten Vorhang, den sie mit zwölf gefertigt hatte und dessen pinke Farbe von der Sonne ausgeblichen und an manchen Stellen in altrosa verwandelt worden war, waren noch hier. Genauso wie die vielen Fotos, die sie an einer Korkwand über ihrem Schreibtisch fixiert hatte. Sie traute sich nicht, näher heranzutreten und sich den Erinnerungen zu stellen, die dort festgehalten waren.
Dieser Ort, der in der Zeit stehen geblieben war, während vor dem Fenster das Leben weitergegangen war, hätte etwas Nostalgisches oder Schönes an sich haben können, wenn Mila nur zu Besuch wäre.
Doch während sie zwei Koffer neben sich abstellte, in denen sich alles befand, was sie noch besaß, fühlte sich dieser Raum wie ein Gefängnis an. Denn sie war nicht zu Besuch. Sie zog wieder ein.
Nur vorübergehend, sagte sie sich in Gedanken. Das tat sie schon seit Tagen, obwohl es nicht half. Nur vorübergehend. Es wird sich etwas ergeben.
»Mila, ich hab uns Tee gemacht.«
Sogar die Stimme ihrer Mutter hatte den gleichen Klang wie damals, als sie von unten aus der Küche in den ersten Stock hinaufrief, wie sie es früher immer getan hatte.
Mila schloss kurz die Augen, wünschte sich an einen anderen Ort und musste zu ihrem Unbehagen feststellen, dass sie sich noch immer an derselben Stelle befand, als sie sie wieder öffnete. In ihrem Kinderzimmer. Im Haus ihrer Mutter. In der Stadt, die sie mit wehenden Fahnen und mit dem Versprechen, es besser zu machen als alle anderen, hinter sich gelassen hatte.
»Mila«, rief ihre Mutter erneut.
Früher hätte sie ihren CD-Spieler angemacht und laut irgendwelche Pop-Songs gehört, nur, um ihre Mutter nicht verstehen zu können - und um diese in den Wahnsinn zu treiben. Ein kleines Grinsen legte sich auf ihr Gesicht.
Heute ließ sie den CD-Spieler aus - wer wusste, ob der überhaupt noch funktionierte. Außerdem war sie nicht mehr achtzehn, traurig und verzweifelt.
Dafür bin ich dreiunddreißig, wütend und verbittert, dachte sie und verdrehte sofort über sich selbst die Augen. Sie ermahnte sich, nicht zu dramatisch zu sein. Diese Attitüde hatte ihr vielleicht vor fünfzehn Jahren gestanden, aber nun sicherlich nicht mehr. Genauso wie die Jeans aus ihrer Schulzeit würde sie dieses Verhalten im Schrank hängen lassen und nicht wieder anprobieren.
Bevor ihre Mutter sie ein drittes Mal rufen konnte, lief sie hinab.
Auch im Rest des Hauses hatte sich nur wenig verändert. An den Wänden hingen die gleichen Familienfotos. Sie zeigten alle nur Mila und ihre Mutter und taten - genauso wie Milas Mutter - so, als hätte es ihren Vater nie gegeben. Früher hatte Mila immer gedacht, ihre Mutter führe sich auf, als wäre sie die Jungfrau Maria persönlich und als hätte sie Mila ohne die Hilfe eines Mannes empfangen.
Gilda Ehlers vermittelte gern den Eindruck, als bräuchte sie bei nichts die Hilfe anderer - schon gar nicht die eines Mannes.
Als Mila im Erdgeschoss ankam, saß Gilda auf einem Hocker an der Kücheninsel, hinter ihr die Küchenschränke aus dunklem Holz und die Fliesen mit dem gelben Muster, das schon unmodern gewesen war, als sie vor dreißig Jahren in dieses Haus gezogen war.
Ihre früher braunen Locken waren leicht ergraut und nicht mehr so voll. Um ihre Augen waren mehr Falten hinzugekommen, um ihren Mund nicht so viele.
Mila betrachtete ihre Mutter so aufmerksam, als hätte sie sie tatsächlich fünfzehn Jahre nicht gesehen, obwohl das nicht stimmte. Gilda hatte sie zweimal im Jahr in Hamburg besucht. Aber in der großen Stadt hatte sie irgendwie anders gewirkt als in diesem Haus, in das Mila seit ihrem Schulabschluss nicht zurückgekehrt war.
»Hier«, meinte ihre Mutter und schob ihr eine dampfende Tasse schwarzen Tee hin. Milch und Süßstoff waren schon drin, wie immer.
»Danke.«
Danach herrschte Stille. Das war auch wie früher. Mila und Gilda hatten sich nie besonders viel zu sagen gehabt. Vermutlich, weil Gilda sich weigerte über die Dinge zu reden, die Mila wirklich wissen wollte. Früher hatte sie das gestört. Heute akzeptierte sie die bekannte Stille.
»Gehst du zum Klassentreffen?«, fragte ihre Mutter nach zehn Minuten, in denen sie ruhig ihren Tee getrunken hatten.
»Nein«, antwortete Mila knapp. Sie konnte sich den anderen nicht stellen, wenn sie eben wieder in ihr Kinderzimmer gezogen war. Lieber verkroch sie sich für immer dort, ließ sich von einem jungen Justin Timberlake anstarren und hörte alte CDs, als sich diese Blöße zu geben.
Als ihr Zug im Bahnhof mit nur zwei Gleisen angekommen war, war sie direkt ins Auto ihrer Mutter gesprungen. Am liebsten hätte sie sie vorher angerufen und angewiesen, den Motor laufen zu lassen, als wäre Gilda ihre Fluchtfahrerin und als hätte sie selbst eine Bank ausgeraubt.
Wie ironisch, dachte sie sich. Sie hatte die Stadt lautstark verlassen und kehrte jetzt so leise wie möglich zurück.
»Ich würde uns was kochen«, meinte ihre Mutter. »Dann machen wir uns einen schönen Abend.«
Kochen bedeutete für sie fertigen Pizzateig auszurollen, ihn mit dem zu belegen, was zufällig noch im Kühlschrank war - das meiste bereits abgelaufen - und die Pizza dann im Ofen zu vergessen, bis die Ecken steinhart waren.
»Das klingt gut«, sagte Mila trotzdem.
»Könntest du noch den fertigen Pizzateig vom Supermarkt holen?«
Sie wollte reflexartig mit Nein antworten, weil, sobald sie das Haus verließ, die Chance bestand, dass sie Menschen traf, denen sie unter keinen Umständen begegnen wollte. Aber noch im gleichen Moment fühlte sie sich feige. Während sie darauf wartete, dass Firmen auf ihre Bewerbung reagierten, konnte sie sich vielleicht in ihrem Kinderzimmer verstecken, aber sollte sie die nächsten Wochen nicht einmal den Fuß vor die Tür setzen, würde sie endgültig die Achtung vor sich selbst verlieren.
»Okay«, murmelte sie und zwang sich, direkt aufzustehen.
Sie konnte das Pflaster auch jetzt abreißen. Also holte sie sich ihre Handtasche und ging wortlos zur Tür. Zögerlich trat sie über die Schwelle.
Ihre Mutter lebte in einem Wohngebiet ungefähr zehn Minuten mit dem Auto vom Stadtzentrum entfernt, was in dieser Stadt schon eine halbe Weltreise war. Die Häuser hatten meist nur ein Stockwerk, höchstens zwei. Die Vorgärten waren gepflegt, die Autos frisch geputzt, doch nicht besonders teuer oder groß. Die Hausnummern hingen in geschwungenen Zahlen aus Messing über den Türen.
Das Haus hatte Gilda mit dem Erbe, das ihr Vater ihr hinterlassen hatte, gekauft. Im selben Jahr den Vater zu verlieren, die Mutter ins Altenheim bringen zu müssen und eine Scheidung durchzustehen, war viel. Doch Gilda hatte auf ihre ruhige, unaufgeregte Art das Beste daraus gemacht. Dieses Haus war der Beweis dafür. So oft sich Mila auch über ihre Mutter aufregen konnte, sie musste zugeben, dass sie mehr Durchhaltevermögen und einen gestählteren Willen hatte als sie.
Zielstrebig stieg sie die Stufen hinab und ging zügig die Straße entlang. Eine Ehlers-Frau versteckte sich nicht.
Obwohl schon Anfang Juni war, ließ der Sommer auf sich warten. Ein kühler Wind pfiff durch die Straßen und Mila zog ihre Jacke vor ihrer Brust zusammen. Ihren Kopf hielt sie gesenkt, obwohl sie sich doch als überhebliche Achtzehnjährige geschworen hatte, ihn immer hocherhoben zu halten.
Nach fünf Minuten Fußmarsch durch einen hübschen, gut gepflegten kleinen Park erreichte sie den Supermarkt, kaufte schnell ein und bezahlte ein bisschen zu hektisch, um sich Gelassenheit vorgaukeln zu können.
Auf dem Parkplatz vorm Supermarkt holte sie ihr Handy heraus - mal wieder. Und schrieb eine Nachricht an Derya.
»Hier ist es noch langweiliger, als ich es in Erinnerung hatte«, tippte Mila und schickte es ab. Die Nachricht gesellte sich zu vielen anderen, die sie in den letzten Tagen an ihre Freundin geschrieben hatte. Nie erhielt sie eine Antwort.
Sie ist beschäftigt und einfach im Stress, versuchte Mila sich zu beruhigen. Aber eigentlich wusste sie, dass diese Stille mehr bedeutete, als sie wahrhaben wollte.
Schnell steckte sie das Smartphone wieder weg, bevor sie sich auch noch darüber den Kopf zerbrechen konnte. Die Liste war auch so schon viel zu lang.
Sobald sie den Park erreichte, war in ihrem Kopf sowieso kein Platz mehr für Derya. Sie war sofort auf der Hut. Andere Menschen liefen gemächlich über die gepflegten Wege. Mila scannte die Gesichter. Sie war dabei so gründlich, dass sie sich ein bisschen wie eine Agentin fühlte, die sichergehen musste, dass der Feind ihr nicht auf den Fersen war. Das mit dem Nicht-dramatisch-sein klappte ja richtig gut.
Sie wollte sich schon ermahnen, als sie aus dem Augenwinkel eine Person wahrnahm, die...
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