Schweitzer Fachinformationen
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Johanna Kluge stand inmitten der Zerstörung. Das Skelett des großen Fensters, das in den ehemaligen Dielenbogen gebaut worden war, hing schief in den Angeln. Sie ging vorsichtig einen Schritt weiter in das ausgebrannte Haus, das zerborstene Glas knirschte unter ihren Stiefeln. Das Dach des Kottens war intakt, die Feuerwehrleute hatten ihr Zugang gewährt, es bestand keine Einsturzgefahr.
Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte sie sich, dass es der Brandmeister war, der hinter ihr stand. Sie hörte seinen schweren Atem, mit dem er durch die Maske die Luft einsog. Auch sie trug eine Mundschutzmaske. Trotzdem roch sie die verbrannte Farbe an den Fenstern, die sich zu Blasen aufgeworfen hatte. Wie Rippen standen die Sprossen in den zum Teil noch erhaltenen Rahmen an allen Seiten vor dem Licht, das von außen auf sie geworfen wurde. In einigen Fenstern staken noch Reste der Scheiben.
Sie erfasste den Raum mit einem Blick um sich selbst. Er erstreckte sich über die gesamte Grundfläche des Hauses. Auf der linken Seite stand ein überdimensionales Sofa, dessen roter Samtbezug fast unversehrt war, die Sprungfedern von einem der beiden Sessel jedoch waren gesprungen. Der beißende Geruch von geschmolzenem Kunststoff stieg ihr in die Nase. Um diese Sitzgruppe herum schien der Teppich zum Teil verkohlt, über die gesamte Fläche verteilt lagen noch gut zu erkennende Reste von Stapeln von Zeitschriften.
Hauptkommissarin Kluge beugte sich vor und hob die obersten Exemplare eines Zeitschriftenstapels an, der wie eine schwarz verkohlte Pyramide wirkte. Es waren »Spiegel«, »Bunte«, »Bild der Frau« und »Eigentümlich frei« darunter - eine unvermutete Mischung. Der geflieste Boden neben den Zeitschriftstapeln war voller Scherben.
»Lauter Flaschen«, sagte der Brandmeister hinter ihr. »Da auch.« Er wies mit der Hand auf ein Metallgestell vor dem nahezu unbeschädigten Sofa, inmitten dessen ein Scherbenhaufen und einige unversehrte Flaschen lagen.
Auf der rechten Seite des Raumes war der Rahmen eines weiteren Sofas auszumachen. Verkohlt stand es etwas schief inmitten eines Durcheinanders von Balken, an deren Ende es aus den Löchern der Verzapfungen ab und zu zischte und Wasserdampf aufstieg.
Die Leiche lag in grotesker Verzerrung an die gebrochene Rückenlehne gelehnt, die Arme wie im Schlaf angewinkelt, die Beine zum Kinn gezogen. Auf Höhe der Brust war das Muster des Norwegerpullovers zu erkennen, der sich wie eine neue Haut um den Brustkorb des Mannes gelegt hatte. Die Augen in dem völlig verbrannten Gesicht waren Höhlen, die Nase ein glatter Klumpen, der lippenlose Mund weit geöffnet. Das Ganze wirkte wie eine moderne, bösartige Inszenierung.
Hauptkommissarin Johanna Kluge beugte sich vor und betrachtete den Schädel. Der Mann war offensichtlich kahl gewesen. Es gab keine geschmolzenen Haare am Kopf. Sie blickte auf die Scherben hinter sich. Mit Sicherheit hatte er eine natürliche Glatze gehabt. Er hätte sich wohl nicht die Mühe gemacht, seinen Schädel zu rasieren.
»Das war Walter-Hermann Budde«, sagte der Brandmeister.
»Kannten Sie ihn?«, fragte sie und ging vorsichtig um die Reste des Sofas herum, um den Schädel von hinten betrachten zu können, ohne ihn berühren zu müssen. Mit ihrer Lampe leuchtete sie den Hinterkopf ab, aber mit bloßem Auge war nichts zu erkennen. Sie schluckte, der Geruch des verbrannten Fleischs stieg ihr in die Nase. Sie ekelte sich.
»Jeder hier im Dorf kannte den alten Budde«, sagte der Brandmeister in so selbstverständlichem Ton, dass Johanna Kluge stutzte.
Sie mochte es nicht, wenn sie auf zu viele vorgefasste Meinungen über einen Menschen traf. Das würde ihre Ermittlungen nicht erleichtern, weil sie sich zudem dagegen wappnen musste, nicht selbst mit Abwehr zu reagieren. Die stereotype Meinung über eine Person erleichterte möglicherweise das Leben der Menschen im Alltag untereinander, weil sie sich nicht mehr die Mühe machen mussten, genauer hinzuschauen. Der Brandmeister hatte - so vermutete sie - seine feste Meinung über Hans-Hermann Budde gewonnen und sie ihr mitteilen wollen, als er sie auf die vielen Flaschen aufmerksam gemacht hatte.
»Er ist der Besitzer von BudSol.«
»BudSol? Sie meinen dieses Großunternehmen?« Johanna blickte auf. Sie ärgerte sich, dass sie wieder einmal in ihre eigene Falle getappt war und ihm stereotypes Denken vorwerfen wollte, obwohl sie es war, die nicht unbefangen war. Dass in diesem Haus etwas aus dem Ruder gelaufen war, hatte sie auch ohne den Hinweis des Brandmeisters auf die vielen Flaschen wahrnehmen können.
Der Brandmeister nickte. »Als er vor zehn Jahren dieses Gehöft gekauft hat, hat er anfangs viel für die Gemeinde hier getan. Das Solardach der Bürgerhalle hat er gesponsert.«
Johanna Kluge stellte den fotoionischen Detektor an, den sie um die Schulter trug. Der Brandmeister beobachtete sie interessiert. Er war bei ihrer Ankunft ein wenig misstrauisch gewesen, dass er einer Frau als leitender Ermittlerin gegenüberstand, die darüber hinaus auch noch die angeforderte Brandermittlerin war. Obwohl seit 30 Jahren zunehmend auch Frauen in den Feuerwehren waren, schien dieser Bereich doch weitgehend eine Männerdomäne geblieben zu sein.
Der Brandmeister hatte sich nach kurzer Vorstellung in seine Rolle begeben und war ihr - immer einen Schritt hinter ihr bleibend, gefolgt. Jetzt stand er neben ihr und wartete, bis sie ihre Messungen beendet hatte. Für Johanna Kluge stand es auf den ersten Blick außer Frage, dass es sich bei diesem Brand nicht um einen Unfall handeln konnte. Wenn auch die Ursache des Brandes noch nicht feststand, so war doch augenscheinlich, dass das Feuer auf der rechten Seite des Heuerhauses ausgebrochen war. Der Brand war eindeutig vom Sofa, auf dem die verkohlte Leiche von Walter-Hermann Budde lag, und seiner unmittelbaren Umgebung ausgegangen. Außerdem - da war sie sicher, war ein Brandbeschleuniger eingesetzt worden. Walter-Hermann Budde auf seinem Sofa war das Zentrum des Geschehens. Von ihm aus hatte sich das Feuer ausgebreitet.
»Er scheint dort oben gewesen zu sein, als das Feuer begann«, stellte Johanna Kluge fest. Mit der freien Hand wies sie auf einen Ständer des Fachwerks im Innenraum, aus dessen Zapfloch es genau in diesem Moment wieder leise zischte. Es war Wasser, das verdampfte, weil im Kern der Balken noch die Hitze steckte.
»Ja, die ganze Hiele ist mit allem, was drauf war, runtergekommen«, stimmte der Brandmeister zu.
Johanna pflichtete ihm bei, obwohl ihr das Wort »Hiele« bis heute nicht bekannt gewesen war. Aber es war offensichtlich, dass der Brandmeister den Raum meinte, der auf halber Höhe der als Wohnraum genutzten Diele auf den ehemaligen Stallungen lag, die im unteren Teil dem Wohnraum zugeschlagen waren. Oben war normalerweise in solchen auf diese Weise umgebauten Kotten ein knapp zwei Meter hoher Raum geblieben, der über eine Stiege zu erreichen gewesen war. Auf diesen ehemaligen Zwischenböden wurden früher Heu und Stroh gelagert, die zur Versorgung der Tiere durch eine Öffnung in der Dielendecke nach unten geschoben werden konnten.
Walter-Hermann Budde hatte dort oben offensichtlich eine Bibliothek gehabt, die samt Regal dem Feuer Nahrung gegeben hatte. Hinter dem Sofa ließ ein Haufen unzähliger schwarzer Quader ahnen, dass es sich um eine umfangreiche Büchersammlung gehandelt haben musste.
»Ja«, stimmte Johanna Kluge dem Brandmeister zu. »Sie haben recht, das Feuer ist dort oben ausgebrochen.« Sie vermittelte den Kollegen gern das Gefühl, sie selbst hätten genau die Erkenntnis gehabt, die sie gerade formulierte. Es war ihrer Erfahrung nach eine gute Art, ein großes Team zu leiten und die unterschiedlichen Menschen mit ihren verschiedenen Neigungen unter einen Hut zu bringen.
»Jau«, stimmte der bärtige Brandmeister zu, »wahrscheinlich hat er dort gesessen und war betrunken, als das Feuer ausbrach.«
Johanna zeigte auf ihr Spektrometer, dessen Messungen so eindeutig ergaben, dass ein Brandbeschleuniger benutzt wurde, dass auf den Einsatz von Brandspürhunden und der Ermittlung einer anderen Brandursache verzichtet werden konnte. Der ovale schwarze Fleck, in dessen Mitte das Sofa des Hausherrn wie eingebrannt lag, ließ vor Johannas Augen das Szenario des Feuers ablaufen.
»Ja, dort oben hat er gesessen. Die Frage ist nur, wer ihn in Brand gesteckt hat.«
*
Mittlerweile war es dunkel. An diesem lauen Septemberabend hätte sie gut in einem Straßencafé ihren Abend ausklingen lassen können. Sie warf einen Blick auf die Uhr, als sie am KTU-Wagen aus ihrem Schutzanzug stieg. Sie roch an ihrem blasslilafarbenen T-Shirt, das den beißenden Brandgeruch angenommen zu haben schien, obwohl sie sich bis zum Hals zugeschnürt hatte. Der Brandmeister sprach mit seinen Leuten, die im Begriff waren abzuziehen, während er sie gleichzeitig interessiert musterte. Johanna Kluge war schlank und athletisch mit ihren 44 Jahren. Seit sie wieder allein wohnte, betrieb sie ein so regelmäßiges Sport- und Joggingprogramm, dass sie das Gefühl hatte, noch nie in ihrem Leben so fit gewesen zu sein. Sie schnüffelte an einer Haarsträhne, der Geruch nach verbranntem Fleisch stieg ihr in die Nase. Sie musste unbedingt unter die Dusche.
»Das ist ein ungeheurer Aufmarsch hier«, sagte Jakob Besser. Er hatte am KTU-Wagen gestanden und ruhig gewartet, bis sie sich aus dem Schutzanzug geschält hatte und ihm mit einem Kopfnicken signalisierte, dass sie fertig war.
Besser überragte sie alle. Mit seinen fast 1,90 war er nicht einmal der größte unter den unzähligen...
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