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Das mit den Uhrzeigern ist so eine Sache: Manchmal bewegen sie sich ganz schnell. Wenn man zum Beispiel schön beim Spielen ist und man hat die Betten im Puppenhaus gemacht und will die kleinste Puppe - die mit der rosa Mütze und dem hellblauen Anzug - gerade schlafen legen. Dann ist plötzlich schon Zeit fürs Abendessen, obwohl es sich so anfühlt, als hätte man eben erst mit dem Spielen angefangen. Heute dagegen ist die Zeit zwischen den kleinen Strichen, die die Minuten anzeigen, viel, viel länger. Dabei mag sie das Klicken, das der große Zeiger macht, wenn er weiterzieht.
Seit mehr als zwei Stunden sitzt sie jetzt hier. Die Uhr hat sie erst vor einigen Wochen gelernt, und zwar ganz schnell - schneller als die anderen in der Klasse. Und deshalb weiß sie das auch. Also, dass der lange Zeiger schon zweimal um den großen Kreis gewandert ist.
Sie schaut wieder auf ihr Heft und schreibt die Zeile mit dem Buchstaben H zu Ende, radiert die letzten drei aber wieder weg. Alle H-Buchstaben sollen ganz genau gleich aussehen. Das wird Papa bestimmt gefallen. Also noch mal. Zwei lange Striche von oben nach unten, einen kurzen dazwischen. Sie sieht wieder auf die weiße Uhr mit dem schwarzen Rahmen über dem großen weißen Tisch, an dem sie sitzt und dessen Tischplatte kalt ist. Sehr kalt. Zu kalt für die schmalen Unterarme. Der lange schwarze Zeiger zeigt auf die Fünf, der kurze sitzt gerade zwischen der Sieben und der Acht.
Das Mädchen gähnt. Sie möchte in den Gang gehen und einen Krankenpfleger fragen, wann ihr Papa kommt. Doch das würde der bestimmt nicht gut finden. Vorhin ist sie kurz auf den Gang gehuscht, zur Toilette gegenüber. Trotz der Dunkelheit draußen vor den Fenstern war da noch alles voller Menschen. Einige wurden in Betten über den Gang geschoben. Die Räder unten an den Gestellen quietschten. Frauen und Männer liefen an ihr vorbei, und das Mädchen musste sich einen Weg zwischen ihnen bahnen, um zu dem Raum mit dem W und dem C zu gelangen. Warum W und C Toilette hieß, überlegte sie, als sie den Gang überquerte, der sich anfühlte wie der Fußgängerweg vor der Schule vor Unterrichtsbeginn.
Als sie die Klinke schon in der Hand hielt, kam ihr Papa vorbei, und sie freute sich. Im Gehen las er etwas auf einem Brett, das er in den Händen hielt. Er hätte sie nicht bemerkt, wenn sie ihn nicht gerufen hätte. Papa blieb stehen, drehte sich um und sah sie an. Verwirrt. Und so, als würde er sie gar nicht erkennen.
»Ich bin müde, Papa. Kommst du bald?«, hat sie vorsichtig gefragt, ein leises Bitte hinzugefügt und sich an der Türklinke der Toilette festgeklammert.
Papa blinzelte und sah sie an. »Ach so, ja. Stimmt.« Er fuhr sich mit den Händen über den Stoppelbart am Kinn. »Noch ein bisschen, nur noch ein bisschen. Hast du deine Hausaufgaben schon fertig? Mach deine Aufgaben, bis ich komme, und wenn du das hinbekommst, dann holen wir uns was bei McDonald's, okay?«
Ihre Antwort wartete er nicht ab, weil da schon wieder jemand nach ihm rief.
Eigentlich ist sie mit ihren Hausaufgaben schon lange fertig. Eigentlich will die Lehrerin auch nicht, dass sie vorarbeiten. Wenn sich das Mädchen aber entscheiden muss, wessen Schimpfen sie schlimmer findet - das von der Lehrerin oder das von Papa -, dann ist das ganz klar.
Deshalb hat sie sich auch an den Buchstaben H gesetzt, obwohl der noch gar nicht dran ist. Doch sie gehen sonst nie zu McDonald's. Deshalb will sie jetzt nichts falsch machen, weil sie auch mal ein Happy Meal möchte. Lisa aus ihrer Klasse hatte letztens eine Spielfigur daraus dabei. Eine Susi aus Susi und Strolch, die in einer kleinen Hundehütte saß und die man mithilfe eines Knopfes nach draußen schieben konnte. So was will sie auch.
Also schreibt sie Buchstabe um Buchstabe. Radiert, korrigiert, spitzt den Bleistift, schreibt weiter. Sie wird wirklich immer besser. Das ist gut, aber noch nicht perfekt. Weil ihr die Augen langsam wehtun. Wie wenn sie sie ganz lange auflässt, um zu sehen, wie viele Sekunden sie es ohne Blinzeln schafft. Ihre Stirn wandert immer weiter Richtung Heft. Bis die Buchstaben verschwimmen und .
»Na, du bist ja immer noch hier!«
Sie erschrickt und dreht den Kopf in Richtung Tür, durch die ein großer Mann in einem weißen Kittel und mit vielen dunklen Haaren tritt. Den kennt sie ganz gut. Er arbeitet nämlich nicht nur für ihren Papa. Er wohnt auch in dem großen Haus neben dem der Großeltern. Sie findet es komisch, dass er schon Arzt ist. Er sieht nämlich gar nicht so aus, und, na ja, welcher Erwachsene wohnt denn noch bei seinen Eltern. Er wirkt eher wie der kleine Cousin von ihrem Papa. Der geht noch in die Schule für Erwachsene, die Universität heißt, und alle nennen ihn den Nachzügler. Was ein komisches Wort ist, findet sie.
Sie kann sich nicht mehr an den Namen des Arztes erinnern, aber dass er nett ist, das weiß sie. Einmal hat sie im Garten der Großeltern geschaukelt, und da haben sie sich über den Gartenzaun hinweg unterhalten. Er war lustig und gar nicht so unfreundlich, wie die Großmutter immer behauptete.
Im Moment lächelt er allerdings nicht. Die dicken Augenbrauen sehen wie die Raupe Nimmersatt aus. Dazwischen ist eine Falte, als er an die weiße Küche tritt und sich einen Kaffee in eine weiße Tasse schüttet. Irgendwie ist hier alles weiß, bemerkt das Mädchen. Sie war noch nicht oft in diesem Raum und nie lange genug, dass sie das mit dem Weiß hätte bemerken können. Aber so ist das. Alles ist glatt und kalt und vor allem weiß. Bis auf die Uhr.
Vielleicht, weil die Uhr und die Zeit für die Leute hier so wichtig sind. Für Papa ist das auf jeden Fall so. Bei seiner Arbeit ist jede Bewegung des großen Zeigers wichtig. Warum, weiß sie nicht genau. Aber sie weiß, dass es so ist.
Der große Mann mit den wilden Haaren kommt zu ihr und setzt sich auf den leeren Stuhl ihr gegenüber. Auf der linken Wange sieht das Mädchen einen großen braunen Fleck, der wie eine Sonne aussieht. Also, er hat keine Strahlen oder so. Aber das hat die Sonne in echt ja auch nicht. Dunkelbraun ist der Fleck drinnen, und draußen wird er heller. Sie mag die Sonne und den Sommer. Und das Freibad, wo sie so gerne hingeht. Was jetzt im Winter nicht geht und sonst auch nicht so oft. Auch wegen der Zeit. Weil Papa nämlich nur ganz wenig davon hat. Und Mama sogar noch weniger.
»Solltest du nicht schon lange zu Hause sein?« Der Mann holt eine Packung Mini-Goldbären aus der Tasche seiner weißen Jacke und legt sie auf das Heft mit den Buchstaben. Ob ihr Papa wohl auch Gummibärchen in seinem Kittel hat? Das kann sich das Mädchen nicht vorstellen. »Ist doch schon fast acht«, spricht der Mann weiter, und sie findet, dass seine Stimme zu tief ist. Also, zu tief dafür, dass er ein bisschen wie der Nachzügler aussieht.
Sie greift nach der kleinen Plastikpackung. Ihr Magen knurrt, aber das mit den Gummibärchen findet Papa bestimmt nicht in Ordnung. Also legt sie die Packung zurück auf das Heft.
»Ich warte auf meinen Papa«, antwortet sie.
Eigentlich will sie noch viel mehr sagen. Dass ihre Mama zurzeit vor allem nachts arbeiten muss, weil sie nämlich einen noch viel wichtigeren Job in ihrer Abteilung bekommen hat und jetzt noch viel mehr gebraucht wird als vorher. Dass sie eigentlich bei ihren Großeltern schlafen sollte. Aber Aga ist zu ihrer Mutter nach Polen gefahren, und deshalb geht das da heute nicht. Aga ist die Haushälterin von Oma und Opa und der liebste Mensch überhaupt. Wenn das Mädchen mittags von der Schule zu ihren Großeltern kommt, hat Aga meistens schon was gekocht. Manchmal mag sie das Essen nicht. Aber sie isst es trotzdem. Weil Aga so lieb ist und sie will, dass sie sie mag. Manchmal gibt es auch selbst gebackenen Kuchen, wenn sie Hausaufgaben macht. Immer denselben, und der ist dick und fest im Mund und sehr süß und lecker.
Manchmal wünscht sie sich, dass Aga keine eigene Familie hätte. Dann wäre sie immer bei Oma und Opa, auch Weihnachten und Ostern und überhaupt für immer und ewig. Aber so was darf man sich nicht wünschen, und laut aussprechen darf man es schon mal gar nicht. Auf jeden Fall ist es nicht schön bei den Großeltern, wenn Aga nicht da ist. Und für die Großeltern sind ihre Besuche ohne Aga auch zu anstrengend, hat Mama gemeint. Als ob sie anstrengend wäre und nicht Oma und Opa. Oma hat ständig Kopfschmerzen, und man muss ganz leise sein, wenn sie im Raum ist. Und mit Opa fühlt sie sich immer so, als wäre da ein großer, runder Ball in ihrem Bauch. Weil sie nicht weiß, was sie mit ihm reden soll. Weil sie glaubt, dass er das irgendwie auch nicht weiß. Und weil das ja irgendwie nicht geht. Also, einfach gar nichts zu sagen. Manchmal macht sie das trotzdem. Wenn er im Wohnzimmer ist und sie auch, weil sie am Tisch sitzt und Hausaufgaben macht, während Aga putzt. Meistens ist Opa zum Glück nicht da. Aber manchmal eben schon, und dann liest er Zeitung direkt neben ihr, und irgendwann fragt er dann was über die Hausaufgaben oder so. Und dann antwortet sie. Aber nicht so, wie sie Aga antworten würde. Was sie sagt, muss sie aus dem Mund pressen, und meistens denkt sie danach darüber nach, dass das, was sie gesagt hat, irgendwie dumm war. Deshalb hat sie sich angewöhnt, nur ganz kurze Antworten zu geben.
Wegen der Sache mit Aga ist sie dann nach der Schule anders als sonst also nicht zu den Großeltern gegangen, sondern zu ihrer Freundin Lisa. Der Papa der Freundin hatte Pfannkuchen gebacken, die er dick mit Erdbeermarmelade bestrich. Sie haben mit...
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