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Die Frau fiel auf die Knie, hob langsam die Hand, zögerte aber noch, die Pflastersteine zu berühren. Endlich fuhr sie mit der Fingerkuppe darüber, die Miene nahezu ehrfürchtig, wie man sie sonst nur an Pilgern sah, die im Petersdom den Fuß der Petrusstatue streichelten.
»Was macht sie denn da?«, vernahm Salome eine Stimme. »Das sind doch nur gewöhnliche Pflastersteine.« Sie drehte sich um, sah einen Mann aus dem Café treten, vor dem sie stand. Das karierte Geschirrtuch, das um seine Schultern hing, wies ihn als dessen Besitzer aus. Als Salome nicht antwortete, fügte er hinzu: »Denkt sie etwa, dass Julius Cäsar auf diese Pflastersteine getreten ist, nachdem er Kleopatra aus dem Teppich gerollt hat?« Salome lachte kurz auf, verkniff sich aber jeden amüsierten Ton alsbald, da sie nicht die Aufmerksamkeit der gesamten Gruppe auf sich ziehen wollte. Die anderen Reisenden knieten zwar nicht nieder, betrachteten die Frau aber mit Wohlwollen. »Oder ist sie der Meinung, dass Nero hier vorbeikam, nachdem er über dem brennenden Rom die Laute gespielt hat?«, fragte der Wirt.
Salome zuckte die Schultern. »Ich habe keine Ahnung, ob Cäsar oder Nero jemals hier vorbeigekommen sind. Wer aber ganz sicher vor einigen Monaten diese Straße entlanggeschritten ist, war Signor Hitler. Im letzten Mai hat er Italien einen einwöchigen Staatsbesuch abgestattet.«
»Aha«, sagte der Mann mit undurchschaubarer Miene, nahm das Geschirrtuch von der Schulter und fächerte sich damit etwas frische Luft zu. »Das ist sicher gut für mein Geschäft.«
Wahrscheinlich war er nicht der erste Café- oder Restaurantbesitzer, der wachsende Einnahmen verbuchte, seitdem zum Anlass von Hitlers Romreise etliche neue Pracht- und Aufmarschstraßen wie die Via dell'Impero oder die Via dei Trionfi angelegt worden waren. Über diese konnte man vom Kolosseum zum Regierungssitz Mussolinis, dem Palazzo Venezia, gehen, ohne die engen, winkeligen Gassen von Roms Altstadt durchqueren zu müssen. Und auch das Reisebureau Sommer, das seit zwei Jahren regelmäßig Romfahrten von Frankfurt aus anbot, zog aus Hitlers Italienreise großen Nutzen - die Anmeldungen waren seit dem vergangenen Mai sprunghaft angestiegen.
»Diese Menschen wollen unbedingt auf Signor Hitlers Spuren wandeln«, murmelte Salome und lehnte sich an die Hauswand. Ihre Füße schmerzten, weil sie seit dem frühen Morgen unterwegs war, und wahrscheinlich würde die Dame sich nicht so schnell zum Weitergehen bewegen lassen. Einige begannen nun Fotos von der Straße zu schießen - mehr als zuvor vom Titusbogen.
»Aber warum«, fragte der Mann neben ihr eben, »berührt sie ausgerechnet diese Pflastersteine?«
»Nun«, sagte Salome, und diesmal konnte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen, »ich habe vorhin erzählt, dass Signor Hitler genau hier stehen blieb, als Mussolini ihm erklärte, das faschistische Italien sei der engste Freund Deutschlands und würde gemeinsam mit ihm bis zur letzten Konsequenz marschieren.«
»Und das stimmt wirklich?«, fragte der Mann skeptisch. »Mein Hund mag diese Stelle übrigens auch. Er markiert sie regelmäßig.«
»Der Führer liebt Hunde.«
»Meiner ist aber eine Kreuzung aus Terrier und Pudel und hat nur mehr ein halbes Ohr.« So undurchdringlich seine Miene bis jetzt gewesen war, der Spott in seiner Stimme war nun unüberhörbar.
»Gewiss wollen Sie Ihrem Hund heut einen ganz besonders großen Knochen kaufen«, sagte sie amüsiert, »ich werde dafür sorgen, dass Sie ein gutes Geschäft machen.«
Sie löste sich von der Wand, klatschte in die Hände, um sich die Aufmerksamkeit der Reisegruppe zu sichern, und riss sogar die kniende Frau aus ihrer Andacht, als sie laut verkündete: »Wir werden in diesem Café eine kurze Pause einlegen. Soeben wurde mir zugetragen, dass unser Führer höchstpersönlich hier einen Kaffee getrunken hat.«
Augenblicklich erhob sich die Frau, und auch die restlichen Reisenden strömten zügig in das Café. Einzig ein Mann, der sich ihr als Herr Otto vorgestellt hatte und dem die südliche Sonne nicht bekam, wurde sein Kopf doch mit jeder Stunde röter, zögerte einzutreten.
»Sind Sie sicher, dass das eine gute Idee ist?«
Salome unterdrückte ein Seufzen. Herr Otto gehörte zu jenen Reisenden, die sich akribisch vorbereiteten und sich selbst zum Reiseleiter berufen fühlten, umso mehr, wenn sich herausstellte, dass ein junges Fräulein die Gruppe durch Rom führen würde. Dass dieses junge Fräulein perfekt Italienisch sprach und seit Jahren für das Reisebureau ihres Vaters arbeitete, machte keinen Eindruck auf Herrn Otto - immerhin, so hatte er erklärt, wisse er, dass man im Italienischen das H nicht ausspreche. Zu Hamburg sage man Amburgo, und wenn jemand statt Heil Hitler »Eil Itler« sage, sei das keine Beleidigung, sondern ein sprachliches Defizit. Die stolze Miene verriet, dass er sich deswegen befähigt fühlte, mit jedem Italiener politische Debatten zu führen. Alles, was Salome sagte, zog er grundsätzlich in Zweifel, und sie wappnete sich instinktiv gegen seinen Einspruch, wonach der Führer niemals Kaffee trinke, sein Blick richtete sich indes misstrauisch auf die schwarzen Locken des Cafébesitzers.
»Keine Angst«, erwiderte Salome, ahnte sie doch, was ihm durch den Kopf ging. »Wenn man das Mittelmeer bereist, kommt es des Öfteren vor, dass man Menschen mit jüdischen Merkmalen sieht, und man neigt leicht zu der Annahme, es seien Juden oder Judenmischlinge«, wiederholte sie die Worte, die sie in einem Italienführer gelesen hatte. »Das in zahlreiche Kriege verwickelte Italien unterlag nun mal einem stärkeren Mischungsprozess. Dennoch haben sich die Romanen in ihren Hauptzügen rein erhalten.«
»Hm«, machte Herr Otto. Sein Gesichtsausdruck wurde noch misstrauischer. Immerhin zögerte er nun nicht länger, das Café zu betreten.
In der nächsten Viertelstunde war Salome damit beschäftigt, für die Gäste Bestellungen aufzugeben und sich zu vergewissern, dass sie mit dem bisherigen Verlauf des Tages zufrieden waren. Eine Dame, die sich noch am Morgen über Chaos und ständige Verspätungen beschwert hatte, zeigte sich immerhin über das »Hitler-Wetter« an diesem goldenen Septembertag beglückt. Einen anderen hörte sie schwärmen, dass der Duce es geschafft habe, aus Rom ein pulsierendes Zentrum zu machen, in dem der Geist des imperialen Italiens neu erwacht sei.
»Ich dachte ja schon, wir würden auf Pritschen liegen, aber die Betten in unserem Grandhotel sind weiß und das Bettzeug ist mitnichten verschmutzt und verlaust.«
Salome half, ein paar Gläser mit aranciata oder acquavite an die Tische zu tragen, und bemerkte erst danach, dass Herr Otto nur vor einem Glas Wasser saß und nicht einmal aus diesem einen Schluck nehmen wollte. Himmel, dachte sie, warum legt er ausgerechnet heute Wert darauf, nüchtern zu bleiben?
»Sie gestatten doch, dass ich mich zu Ihnen geselle?«, fragte sie und nahm neben ihm Platz, ohne seine Zustimmung abzuwarten.
Über Herrn Ottos gerötete Stirn perlten die Schweißtröpfchen, während am Nebentisch nicht länger über die Hotelbetten, sondern über die Duschen gesprochen wurde. Aus diesen kam tatsächlich ein dicker Strahl warmen Wassers, nicht wie befürchtet ein Rinnsal. Offenbar hielten die Herrschaften auch das für den Verdienst des Duces.
»Benito Mussolini wird als der letzte Römer in die Geschichte eingehen«, sagte Herr Otto finster, »aber hinter seiner massigen Gestalt hat sich nur ein Volk von Zigeunern verborgen.«
Salome blickte sich kaum merklich um. Ein Vorurteil wie dieses hörte sie nicht zum ersten Mal, doch ihretwegen konnte sich Herr Otto gern darüber auslassen, Hauptsache, er war abgelenkt.
»Heißt es nicht, das Arisch-Römische und das Nordisch-Germanische seien zwei Sonderformen eines gemeinsamen Urtyps?«, fragte sie, um seinen Redefluss anzuspornen.
»Ach was, der Duce ist der einzige Römer in dieser Zeit, aber ich bin nicht sicher, ob er ein würdiges Volk gefunden hat.«
»Die Beziehung zwischen Italienern und Deutschen gilt doch als besonders tief und schicksalhaft.«
»Mag ja sein, dass das italienische Volk edle Vorfahren hat, mittlerweile ist es dennoch derart durchrasst, dass es auf einer deutlich niedrigeren Kulturstufe angekommen ist.« Er beugte sich etwas vor, was bedeutete, dass einer der Schweißtropfen auf ihrer Hand landete, aber wenigstens blickte er sich nicht länger misstrauisch um. »Sind wir doch ehrlich: Das Land der Makkaroni-Esser und schönen Fischerknaben kann nicht mit dem germanischen Volk mithalten. Statt des Bündnisses mit Mussolini hätte sich der Führer um eine Annäherung an England bemühen müssen, vorausgesetzt natürlich, dass die Briten endlich dem Liberalismus und der Demokratie abschwören.«
»Nun«, Salome bemühte sich darum, freundlich zu klingen, »in London wäre ich Ihnen keine große Hilfe, ich spreche kein Englisch.«
Auf dass die Maske der braven deutschen Reiseführerin keine Risse bekam und Ärger hindurchdrang, erhob sie sich schnell. »Wir gehen jetzt in Richtung Cestius-Pyramide«, verkündete sie.
»Zur Cestius-Pyramide?«, fragte die Dame, die zuvor die Pflastersteine gestreichelt hatte. »Was sollen wir denn dort?«
Ähnliches Missfallen hatte durch ihre Stimme gesprochen, wann immer das Mausoleo di Augusto, das Marcellustheater, das Kapitol oder das Pantheon auf dem Programm gestanden hatte. An diesem Tag aber konnte Salome sie beruhigen.
»Oh, ich will Ihnen nicht zumuten, sich mit Roms Geschichte zu beschäftigen. Als der Führer im Mai nach Rom reiste, kam er im eigens für seinen Besuch erbauten Bahnhof Ostiense an. Und dieser befindet sich in der Nähe der Cestius-Pyramide....
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