Prolog
IN DEN SCHOTTISCHEN HIGHLANDS, 1058
Tod lag in der Luft.
Ébha fühlte das genau, obwohl sie nicht wusste, wie der Tod roch. Gewiss nicht süß, obwohl die verwesenden Leiber irgendwann süßlich stanken. Nicht salzig wie die Tränen derer, die zurückblieben. Nicht bitter, obwohl der Tod oft so ungerecht war. Vielleicht roch er nach gar nichts - erst recht nicht, wenn er ein Kind holte, das noch keine Ahnung davon hatte, wie das Leben duftete.
Ébha hatte schon vielen Kindern auf die Welt geholfen und manches sterben sehen, aber nie war sie so überzeugt gewesen wie an diesem Tag, dass es die Geburt nicht lange überleben würde. Die Mutter im Übrigen auch nicht. Tuathla hieß diese, und sie quälte sich schon seit Stunden. Nichts brachte Linderung - nicht einmal das Stück Koralle, das Ébha irgendwann aus dem dunklen Meer gefischt hatte, das sie seitdem wie einen Schatz hütete und von dem schon die Römer gesagt hatten, dass es das Böse banne. Sie hatte es Tuathla in die schweißnassen Hände gedrückt, doch es war diesen ebenso entglitten wie das Stück Eisen, das Ébha in ein Geißblatt gewickelt hatte, um damit die Elfen fernzuhalten. Auch der Kranz aus Vogelbeeren half nichts und erst recht nicht der Urin, mit dem Ébha die Bettstatt besprenkelt hatte, weil das für eine leichtere Geburt sorgen könnte.
Was sie noch nicht gemacht hatte, war, einen Pfeil von Osten nach Westen zu schießen, damit dieser den Schmerz wegtrüge, aber sie hatte nun mal keinen Pfeil und war insgeheim überzeugt, dass auch das nicht helfen würde.
Seufzend massierte Ébha die Schultern der Gebärenden. Deren Stöhnen war mittlerweile etwas leiser geworden, es riss dennoch nicht ab, und die Luft stand zum Schneiden dick. Es war ein niedriges Gebäude, in dem sie sich befanden, mit Wänden aus Torf, einem Dach aus Gestrüpp und Tierhäuten und einem eiskalten Boden, der im Winter die Vorräte frisch hielt, auf dem sich in diesem verregneten Frühling jedoch tiefe Pfützen gebildet hatten. Das zuckende Herdfeuer spiegelte sich darin und färbte das Wasser rot.
Kein Wunder, dass die Gebärende es für Blut hielt. Denn obwohl Ébha damit rechnete, dass sie jeden Moment das Bewusstsein verlieren würde, fuhr Tuathla plötzlich hoch, deutete auf die Pfützen und kreischte: »Er verblutet! Er verblutet langsam! Er hat keine Kraft mehr, um die Krähen fernzuhalten. Sie kommen in großen Schwärmen, du musst sie verjagen, verjag sie doch!« Und dann begann sie, wild um sich zu schlagen und sich das Gesicht zu zerkratzen.
»Ruhig, ganz ruhig .« Ébha umfing rasch ihre Handgelenke und drückte sie wieder aufs Lager.
Du dumme Frau, dachte sie, wenn hier jemand verblutet, dann bist du es.
Allerdings war es auch kein Wunder, dass die Arme im Wahn von Krähen schwafelte. Die hatten schließlich auch den Himmel über Alba durchpflügt, als einige Monate zuvor König Macbeth unter dem Schwert seiner Feinde gefallen war, und es waren noch mehr gekommen, während sein Stiefsohn Lulach ebenfalls besiegt worden war. Im März war das geschehen, und obwohl sie mittlerweile wie jedes Jahr Anfang Mai Belthane gefeiert hatten, hörte der Himmel nicht zu weinen auf . Desgleichen Tuathla nicht zu stöhnen.
»Krähen . so viele Krähen . der Himmel ist finster .«
Wieder begann sie wild um sich zu schlagen, und dieses Mal reichten Ébhas Kräfte nicht, sie festzuhalten. Sie bekam einen schmerzhaften Faustschlag zu spüren. Herrgott! Schlimm genug, dass die Frau verbluten würde und das Kind in ihr sterben - wenigstens sie selbst wollte die Geburt ohne Blessuren überstehen!
Ébha erhob sich. »Ich sorge für etwas mehr Licht. Es wird die Krähen vertreiben.«
Sie stand auf und blickte sich um. Neben der Feuerstelle lagen ein paar mit weißlichem Moos überzogene Zweige, doch als sie sie ins Feuer warf, zischten sie und spuckten nur Rauch - kein Wunder, hatten sie doch die Feuchtigkeit des Bodens aufgesogen. Ébha sah sich nach einer anderen Lichtquelle um. In jenem Regal, das mit zwei Haken an der Decke befestigt war, fand sie Kräuter, Äpfel mit bräunlichen Flecken und eine Öllampe. Sie war mit ranzig riechendem Fischöl gefüllt, ihr Docht war aus einer Moorbinse hergestellt worden. Nun gut, das war besser als nichts.
Ébha brauchte eine Weile, bis sich eines der Zweiglein am Herdfeuer entzünden ließ und bis auch der Docht, an den sie dieses hielt, fauchend Feuer fing. Der Lichtschein war nur schwach, dennoch versuchte sie frohlockend zu klingen, als sie sich wieder der Gebärenden zuwandte.
»Sieh nur! Die Krähen flattern hinfort!«
Ébha erstarrte. Während sie die Lampe entzündet hatte, hatte sie gar nicht bemerkt, dass das Stöhnen der Gebärenden plötzlich abgerissen war. Die Stille erschreckte sie zwar nicht, war diese doch ein Beweis dafür, dass es die Arme endlich hinüber nach Andernwelt geschafft hatte - umso mehr aber tat das ein Ton, der dem Kreischen eines Vogels glich - keinem schwarzen Vogel wie einer Krähe, sondern einem weißen wie einer Möwe, die ihre Flügel weit ausstreckt und dicht über den Wellen durch die salzige Meeresluft gleitet.
Ébha stürzte auf die Bettstatt zu. Schmerzhaft bohrten sich die Spitzen der Koralle in ihren Fuß, als sie darauf trat, doch sie beachtete es nicht. Zwischen Tuathlas Schenkeln lag etwas - ein roter, schleimiger Klumpen, und was dieses Etwas ausstieß, war kein sehnsuchtsvolles Kreischen, sondern ein hohes Quietschen.
Sie stellte die Öllampe ab und zögerte eine Weile, bis sie den Klumpen berührte. Er war mit rotem Blut und mit gelblicher Schmiere bedeckt, aber so sahen die Menschen nun mal in der Stunde ihrer Geburt aus. Am Anfang glichen sie einem glitschigen Frosch - unvorstellbar, dass am Ende ihres Daseins nur Staub übrig blieb.
Der Frosch hatte zwei Beine, zwei Arme, einen strammen Leib und einen großen Kopf. Am erstaunlichsten war, dass der Frosch noch lebte - und Tuathla auch. Ihre Augen waren weit aufgerissen und unverwandt auf Ébha gerichtet, die ihrerseits die Stirn runzelte.
Wo war nur der Tod, dessen Gegenwart sie so deutlich gespürt hatte?
Ébha nahm ein Stück Leinen, hüllte das Kind darin ein und wollte es der Mutter reichen, doch deren Arme blieben schlaff neben ihrem Leib liegen.
»Rette es!«, presste sie zwischen den Lippen hervor.
Ébha war nicht sicher, ob sie Tuathla richtig verstanden hatte. Retten? Wovor denn? Sie war hier, um es auf die Welt zu holen, doch das hatten Kind und Mutter ganz allein geschafft.
»Vor den Elfen musst du keine Angst haben«, sagte Ébha schnell. »Ich werde ein paar Ästchen vom Vogelbeerbaum im Feuer verbrennen, der Rauch wird das Kleine schützen. Und ich habe bereits einen Trog mit Wasser gefüllt. Ich werde eine Silbermünze hineingeben und etwas Salz, und dann werde ich .«
Tuathla schüttelte den Kopf. »Rette es!«, sagte sie wieder, und ihre Stimme klang unheimlicher als all das Stöhnen und Kreischen zuvor. »Rette es!«
Hilflos zuckte Ébha die Schultern. »Kinder, die im Herbst geboren werden, kriegen die Milch der Haselnuss als erstes Mahl gereicht, damit sie stark für den Winter werden. Wir könnten etwas anderes nehmen und .«
»Nimm es, und verschwinde von hier!« Nun hob Tuathla doch die Hände, um das Bündel an sich zu nehmen, aber nur, um es Ébha gleich darauf wieder in die Arme zu drücken. »Beeil dich, du darfst nicht lange hierbleiben. Sie wird bald kommen .«
»Sie? Wen meinst du denn?« Tuathla sah sie nur panisch an. Das Quieken des Kindes war verstummt, doch sein Leib fühlte sich warm an. »Und wer . wer bist du eigentlich?«, fragte Ébha. »Ich dachte, du wärest eine Bäuerin!«
Eine Bäuerin, die ihr ganzes Leben in diesem einfachen Dorf verbracht hatte, in einem von dessen einfachen Häusern lebte und die davochs, wie man die Landeinheiten nannte, bewirtschaftete. Der Boden war zu trocken, um Getreide anzubauen, doch das Gras, das darauf wuchs, nährte Rinder, die trotz ihrer dürren Leiber würzig schmeckende Milch gaben und deren schwarzes Fell glänzte.
»Ich . ich stamme nicht von hier .«, flüsterte Tuathla. »Ich habe hier nur Unterschlupf gefunden . mich vor ihr versteckt . Aber bald wird sie hier sein . Rette es! Rette mein Kind.«
Unruhig wanderten ihre Augäpfel hin und her, und schließlich war nur mehr das Weiße zu sehen. Ébha befühlte Tuathlas Stirn, doch die war nicht sonderlich heiß. Nein, auf Fieberwahn konnte sie die wirren Worte nicht zurückführen.
»Ich kann doch nicht .«, setzte sie an. Ich kann doch kein Kind mit nach Hause bringen, mein Mann würde das nicht verstehen, hatte sie erklären wollen. Dann war ihr eingefallen, dass es Unglück brachte, einer Sterbenden den letzten Wunsch zu versagen. »Tuathla?«
Sie vernahm keine Reaktion.
Ébha erhob sich seufzend, drückte das Kind an sich und trat nach draußen. Es zu retten hieß ja nicht, auf ewig allein für das Kind zu sorgen, irgendwie würde sie es schon loswerden, wenn sie erst einmal von hier fortgekommen war.
Die anderen Dorfbewohner hatten sich in ihre Hütten verkrochen. Die Einzigen, die sie aus ihren schwarzen Augen bösartig musterten, waren Krähen, wenngleich kein ganzer Schwarm, wie ihn Tuathla zu sehen geglaubt hatte, sondern nur zwei.
Lasst mich bloß in Ruhe.
Ébha beschleunigte ihren Schritt, sobald sie die Hütten hinter sich ließ. Das Kind gab weiterhin keinen Laut mehr von sich, aber sie spürte seinen warmen Atem an ihrer nackten Halsbeuge, und sie labte sich an seiner Wärme....