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Ich bin Deutschlehrer, ich habe kein Unrecht getan.«
Seit seiner Verhaftung hatte Levi diese Worte ständig wiederholt, immer war er auf taube Ohren gestoßen. Diesmal ignorierte ihn sein Gegenüber nicht, doch in dem Blick, der sich auf ihn richtete, stand Verachtung.
»Ein Deutschlehrer willst du sein? Ein Saujude, das bist du!« Levi wollte einwenden, dass das eine das andere nicht ausschloss, aber dazu kam er nicht. »Los!«, brüllte der SA-Mann ihn an, der Stahlhelm und Gewehr trug. »Du gibst alles ab, was du bei dir hast: Uhr, Geld, persönliche Gegenstände!«
»Ich habe keine Uhr . kein Geld . ich habe nur .«
Sein Buch! Er hatte doch ein Buch bei sich getragen, als er vor der wütenden SA-Truppe geflohen war, als man ihn schließlich gestellt und verhaftet hatte. Doch als er erklären wollte, dass er das unmöglich abgeben könne, prasselten Hiebe auf ihn ein.
Ein Schlag traf seine Nase, einer sein Kinn. Er rieb es benommen, während fremde Hände ihn betasteten, ihm nicht nur das Buch abnahmen, auch seinen Bleistift. Hilflos streckte er seine Hände danach aus, doch was der SA-Mann in diese drückte, war nicht sein Eigentum.
»Los, lies!« Er hielt einen Zettel. Schwarze Punkte tanzten darauf, die Punkte waren offenbar . Buchstaben. »Los, lies!«, brüllte der Mann wieder.
Levi konnte nicht lesen, obwohl man ihm die Brille gelassen hatte. Buchstabe fügte sich an Buchstabe. Aber es wurden keine Worte daraus, keine, die Sinn machten.
Schutzhaftbefehl.
Rassenschande.
Die Buchstaben wurden größer, das Gesicht in seinen Erinnerungen wurde größer. Er lächelte das Gesicht an. Das, was Felicitas und ich haben, ist doch keine Rassenschande. Was wir haben, ist etwas Besonderes . etwas Einzigartiges . etwas .
Jemand riss ihm den Schutzhaftbefehl aus der Hand und das Lächeln aus dem Gesicht.
Bis jetzt hatten ihn Faustschläge getroffen, doch dabei blieb es nicht. Levi hatte kaum hochgeblickt, als ein Schulterriemen, der Teil der SA-Uniform war, in sein Gesicht schnalzte. Er spürte, wie seine Unterlippe platzte, hatte auch das Gefühl, sein Auge würde platzen. Der dritte Schlag wurde ihm auf die Stirn versetzt, der vierte auf den Hinterkopf. Aus dem roten Bild wurde ein schwarzes. Nicht nur er versank in der Schwärze, auch Felicitas' Gesicht.
Die Welt lag in Scherben, aber irgendwann konnte er Konturen sehen, von Bettgestellen, etwa einem Dutzend, von Garderobenhaken, Bänken, einer Toilette. Und da war ein Wasserhahn, aus dem es tropfte. Plitsch, platsch. Erst als er sich aufrichtete, bemerkte er, dass er auf einer stinkenden Matratze lag. Blut tropfte auch. Plitsch, platsch.
Wie von weither nahm er einen schrillen Ton wahr, dem endlosen Echo einer Trillerpfeife gleichend. Nach einer Weile wurden Stimmen daraus. Auch seine Stimme war zu hören.
»Deutschlehrer .«
Es blieb das einzige Wort, mehr brachten seine verkümmerten Gedanken nicht zustande. Ehe er ihm eine Bedeutung geben konnte, wurde es zerrissen - von Schmerzen, die von seinem Kopf in den ganzen Leib jagten, von Erinnerungsblitzen.
Die schreckliche Nacht vom 9. auf den 10. November, als das jüdische Hamburg in Scherben zerfallen war . die Tage danach, als er auf der Flucht gewesen war . der Moment, als man ihn verhaftet hatte .
Auf dem Polizeiwachtlokal in der Humboldtstraße hatte er zum ersten Mal beteuert, dass er nichts Unrechtes getan hatte. Im Alten Stadthaus, dem Präsidium der Hamburger Polizei, hatte er es wiederholt. Er war nicht der Einzige, den man dorthin gebracht hatte, so viele Männer mit verstörten Blicken, Schrammen und blauen Flecken hatten auf ihr Verhör gewartet. Levi hatte nicht verstanden, warum der Strom der Inhaftierten nicht abriss, man offenbar alle Juden der Stadt eines Verbrechens anklagte.
Die Frage schwebte immer noch über ihm, doch die Antwort war unerreichbar. Er sah nach oben, wo ein Lichtpunkt hin und her schaukelte. Seit wann bebt die Sonne?, fragte er sich. Allerdings: Wie sollte die Sonne auch über dem neuen Deutschland scheinen, ohne zu beben?
Er presste die Augen ganz fest zusammen, versuchte, sie wieder zu öffnen. Es war nicht die Sonne, sondern eine Glühbirne, die über ihm schaukelte, vor allem, wenn sich die Tür öffnete und weitere Gefangene in das Verlies gestoßen wurden.
Einer von ihnen trug nur einen Schlafanzug, man hatte ihn wohl aus dem Bett heraus verhaftet.
Als er begann, die Menschen zu zählen, schien die Glühbirne auf seinen Kopf zu fallen, dort zu zerspringen. Etwas stieg ihm säuerlich die Kehle hoch, trat über seine Lippen, brannte. Nur das Wort, das er ausstieß, brannte nicht, es war die einzige Labsal.
Schemenhaft wie die Glühbirne war das Gesicht, das sich vor seines schob. Er nahm den Geruch von Angst wahr.
»Sag das nicht zu laut. Auf die Intelligenten haben sie es besonders abgesehen. Wer eine Brille trägt, wird nicht nur mit Schlägen malträtiert, auch mit Peitsche, Stock und Rundschläger. Einen haben sie drei Tage lang in einen Spind gesperrt, gerade mal einen Meter breit, weil er ein Gesetzesbuch dabeihatte und daraus zitierte.«
Levi fühlte sich auch wie in einem Spind gefangen. »Sie können doch nicht allen Hamburger Juden Rassenschande vorwerfen.«
»Sie müssen uns gar nichts vorwerfen. Schon seit Jahren wird Schutzhaft ohne richterliche Mitwirkung verhängt. Es genügt, dass sie uns hassen, und nach dem Attentat tun sie das noch mehr als früher.«
Richtig, das Attentat. Ein polnischer Jude hatte es auf einen deutschen Botschaftsmitarbeiter verübt, hatte sich rächen wollen für die Vertreibung der polnischen Juden aus Deutschland. Die Deutschen hatten es nicht nur ihm heimgezahlt, hatten Synagogen und jüdische Geschäfte verwüstet und alles kurz und klein geschlagen . Menschen.
Wieder schaukelte die Glühbirne.
»Wo sind wir hier eigentlich?«
»Im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel.«
»Und was passiert mit uns?«
Der Mann gab ihm keine Antwort, nur noch mehr Ratschläge.
»Verhalte dich unauffällig, sieh ihnen nicht ins Gesicht, befolge jeden Befehl, auch den lächerlichsten. Wenn sie uns Essen bringen, iss es so schnell wie möglich, leck den Napf blitzblank, vor allem den Löffelstiel, wenn wir Glück haben, gibt es nicht nur Brot, manchmal auch Salzhering und Eier.«
Levi konnte sich nicht vorstellen, dass er Salziges noch schmecken konnte. Und um satt zu werden, wirklich satt, brauchte er etwas anderes als Salzhering und Eier.
Er sah das Gesicht des Mannes, der zu ihm gesprochen hatte, nun etwas deutlicher.
»Schreiben .«, brachte er mühsam hervor, »dürfen wir schreiben?«
»Einmal haben sie uns vermeintlich erlaubt, Briefe zu verfassen. Aber hinterher haben sie sie zerrissen und erklärt, sie hätten keine Lust, Judenschweine zu zensieren.«
Levi richtete sich ein wenig auf, und inmitten von all dem Grauen nahm er plötzlich etwas Weißes wahr - ein Stück Toilettenpapier, auf dem ein Häftling die schwarzen Linien eines Damespiels gezeichnet hatte. Kleine Steine aus der Mauer dienten als Spielsteine und Würfel.
»Womit . womit hast du diese Linien eingezeichnet?«
Der Häftling holte hinter seinem Ohr einen Bleistiftstummel hervor. Sein Lächeln war triumphierend, das von Levi auch. Mit diesem Bleistift konnte man nicht mehr viele Linien malen, erst recht nicht viele Worte aufschreiben, aber einige wenige doch. Sie würden für einen Satz reichen, den Satz, den er auf die Rückseite des Toilettenpapiers zu schreiben gedachte.
»>Darin besteht die Liebe: dass sich zwei Einsame beschützen und berühren und miteinander reden<«, murmelte er.
Der andere starrte ihn stirnrunzelnd an. »Vielleicht kann man einen Brief hinausschmuggeln, ein paar der Aufseher sind bestechlich, aber willst du nicht lieber schreiben, was dir widerfahren ist?«
Levi schüttelte den Kopf. Wenn es eine Chance gäbe, Felicitas eine Nachricht zukommen zu lassen, hatte er nichts hinzuzufügen.
Sie hatten das, was sie füreinander waren, immer mit den Worten von Rilke ausgedrückt. Alles, was sie wissen musste, war, dass er noch immer Deutschlehrer war. Und ein Liebender.
Felicitas ging mit gesenktem Kopf durch das Grindelviertel. Knapp drei Wochen waren seit jener Nacht vergangen, in der die mageren Reste eines weltoffenen, liberalen Deutschland zertrümmert worden waren oder sich in Rauch aufgelöst hatten. Es tat immer noch weh, die Spuren der Verwüstungen zu sehen, zerstörte Geschäfte und Wohnungen, mit Hakenkreuzen beschmierte Bürgersteige. Es tat immer noch weh, dass die gegrölten Lieder in ihr widerhallten. Halli, die Synagoge brennt, das Judenvolk, es flieht und rennt. Es tat immer noch weh, an den Orten vorbeizukommen, wo sie sich einst mit Levi aufgehalten hatte, schon damals oft in Sorge um die Zukunft, aber zumindest mit ihm vereint.
Ein Hupen ließ sie zusammenschrecken, Abgase drangen ihr in Kehle und Nase. Wurde das Automobil, das eben von seinem Stellplatz im Innenhof an ihr vorbei auf die Straße fuhr, noch von seinem rechtmäßigen Besitzer gelenkt? Oder gehörte es eigentlich einem Juden, dem man es geraubt hatte? Erst am Tag zuvor hatte sie erfahren, dass nicht nur deren Führerscheine sämtlich für ungültig erklärt worden waren, sondern man ihre Kraftfahrzeuge eingezogen hatte.
Und das war nicht einmal der größte Diebstahl. Als Entschädigungssumme für...
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