Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
KAPITEL 1Der Dritte
Allen war es aufgefallen. In manchen Nächten hatte Licht hinter den Fenstern des alten Hauses gebrannt. Im Winter kam es vor, dass das Eis auf den Fensterscheiben schmolz. Jemand feuerte im Haus den Kachelofen an. Alle wussten es, aber nie wurde jemand gesehen.
Das Haus war in traditioneller russischer Art aus Lärchenholz gebaut. Man sah, dass die Handwerker sich bei den Türfassungen, der kleinen Veranda und den Fensterrahmen Mühe gegeben hatten. Vielleicht war die sorgfältig gearbeitete Vertiefung, die unter dem Dach verlief, einmal lackiert gewesen, doch inzwischen wirkte alles nur noch grau und verfallen. Die Lage verstärkte den trostlosen Eindruck: Das Haus stand abseits an einer unbebauten Stelle des Abhangs, zwischen der Siedlung und den hässlichen Lagerhäusern unten am Kai.
Niemand wohnte dort, das war offensichtlich. Die Haustür stand häufig offen und schwang in ihren schiefen Angeln im Wind. Eine Reparatur des Dachs wäre nötig gewesen. Die nach alter Sitte zugeschnittenen Dachpfannen aus Holz waren morsch, vom Wetter zerfressen. So lange jemand sich entsinnen konnte, hatte das Haus so dagestanden und war langsam verfallen.
Aber irgendjemand musste sich in dem alten Schuppen wohlfühlen. Irgendjemand reparierte das Haus heimlich. Es war nicht zu übersehen, dass jemand die lockere Türangel festgeschraubt hatte. Ein zerbrochenes Fenster wurde mit einem Stück Pappe abgedichtet. Und als vor ein paar Jahren im Winter der Schornstein aus Ziegelsteinen einstürzte, hatte irgendjemand ihn wieder aufgebaut.
Das Haus wurde selten betreten. Es gab keine Veranlassung dazu, welchen Grund hätte es auch geben sollen? Und wenn jemand hineinging, dann höchstwahrscheinlich ein Tourist, der es eigentlich besser wissen sollte, als an Orten herumzuschnüffeln, an denen solche Leute nichts verloren haben. Ein zufälliger Besucher hätte allerdings auch bemerken können, dass die Einrichtung des Hauses in Stand gesetzt und gut erhalten war. Der ungebetene Gast hätte sich wahrscheinlich über den sauberen Flur und den gefegten Boden gewundert. In der Küche gab es weder Staub noch Dreck, und das Wohnzimmer wirkte so merkwürdig . bewohnt. Als sei jemand gerade noch im Zimmer gewesen und hatte vergessen, die Teetasse mit in die Küche zu nehmen - eine alte, gesprungene Tasse mit abgenutztem Dekor, aber hergestellt aus dünnem, feinem französischen Porzellan. Was hatte eine solch hübsche Teetasse hier zu suchen, in einer kleinen russischen Bergarbeitersiedlung in der Nähe des Nordpols?
Noch stand die Tasse unberührt im Zimmer. Noch hatte kein neugieriger Tourist sie als unverdientes Souvenir mitgenommen.
Selten stieg eine dünne Rauchsäule aus dem Schornstein. Meist im Winter und häufig mitten in der Nacht. Und obwohl man nie jemanden sah, gab es viele unter den knapp achthundert Einwohnern von Barentsburg, die wussten, wer sich im Haus an dem runden Kohleofen wärmte, süßen Kuchen aß und dazu echten russischen Tee mit Himbeermarmelade trank und vorsichtig mit winzigen Gläsern voller Wodka der feinsten Marke anstieß.
»Ah, Ljuda, endlich . War es schwierig herzukommen?«
Die Frau war nicht jung. Nach westlichen Maßstäben hätte man sie wohl als alt bezeichnet. Doch die Stimme des Mannes war herzlich, ein zärtlicher Blick begleitete sie, als sie sich vorsichtig in den zerschlissenen Sessel niederließ und sich dabei mit beiden Händen auf die Armlehnen stützte. »Hast du wieder Schmerzen?«
Sie schüttelte den Kopf und lächelte ihn an. »Es ist dieser Winter. Ich habe solche Angst zu stürzen. Du weißt, ich bin groß und schwer. Stell dir vor, ich würde die Treppe von der Stadt bis zum Kai hinunterfallen. Stufe um Stufe, wie eine breite Kommode.« Er lächelte zurück, ein Goldzahn blitzte auf.
Sie kümmerte sich um den Samowar, er besorgte frisches Wasser. Den Tee, die Kekse und die Marmelade brachte sie mit, eingepackt in ein weißes Küchentuch, das sie in eine fleckige, schmutzige Schultertasche gelegt hatte. Den Wodka steuerte er bei, diesmal eine halbe Flasche original Stolichnaya, geschmuggelt vom Festland und aufgespart für solche Gelegenheiten.
Als sie aufstehen wollte, sprang er auf. »Bleib doch sitzen, ich hole die Gläser.« Er war flink und unerwartet beweglich, trotz des schweren Körpers und des dicken Bauchs, der sich unter dem Hemd und der Strickjacke wölbte. Erst holte er kleine Teller und Gläser aus einem Eckschrank, dann stellte er vorsichtig die Teetassen auf den Tisch - die alte französische Tasse stellte er vor ihren Platz, die henkellose Tasse aus dickem weißen Porzellan vor seinen.
Sie brauchten nicht viele Worte, seit etlichen Jahren schon trafen sie sich hier ein paar Mal im Monat. Häufiger wagten sie es nicht. Sie waren sich im Klaren, dass viele von ihren eher bedauernswerten Begegnungen wussten und sie gutmütig akzeptierten. Und ihnen war auch klar, dass ihr heimlicher Treffpunkt nicht mehr sicher wäre, wenn sie diese stumme Loyalität ausnutzen und sich nicht angemessen benehmen würden.
»Na, Vanja, wie steht es um die Zeche?« Ihr Ton war feierlich, als würden sich bedeutende Persönlichkeiten über Dinge unterhalten, die sie ändern könnten, sollte ihnen ihre Entwicklung nicht gefallen. Ein leises Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht, sie lag nicht ganz falsch.
»Es sind schwierige Zeiten, das will ich nicht leugnen. Aber nicht so schlimm wie früher. Erinnerst du dich an den Herbst 1996? Was für eine Tragödie, dieses furchtbare Flugzeugunglück . Das ganze Jahr dachte ich, dass das Bergwerk in Barentsburg geschlossen wird.«
»Und der 23. September im vergangenen Jahr?« Sie sprach das Datum leise aus, weil sie wusste, dass er nicht gern darüber redete.
»Ja.«
»Dreiundzwanzig Tote und sieben Männer waren in den Stollen eingeschlossen. Es muss doch mal ein Ende haben mit dieser miserablen Führung. Haben sie uns auf dem Festland vergessen? Die Versorgung reicht nicht aus . Wovon sollen wir im Winter leben? Von Almosen aus Longyearbyen?«
Er antwortete nicht, sondern beugte sich mit zwischen den Knien gefalteten Händen vor.
»Du bist ein Held, Ivan Sergejewitsch. Sie sehen zu dir auf. Nach allem, was du für sie bei dem Grubenunglück getan hast . unter Lebensgefahr. Die ganzen Kumpel, die du gerettet hast, viele von ihnen auf eigene Faust. Wärst du nicht gewesen . Kein Wunder, dass sie dir vertrauen und niemandem sonst.«
»Solches Vertrauen ist gefährlich, Ljuda! Der Direktor ist ein schwieriger Mann . Wir dürfen ihn nicht zu sehr unter Druck setzen. Viele in der Gruppe sind ungeduldig, aber . das System lässt sich nicht ohne weiteres verändern. Wir müssen Geduld haben, an unseren Prinzipien festhalten. Wir dürfen nicht vergessen und uns nicht von Gier und Egoismus zerstören lassen. Wir müssen zusammenstehen, Schulter an Schulter.«
»Du bist doch vorsichtig, Vanja?« Sie sagte es so leise, dass er es gerade noch verstehen konnte.
»Vorsichtig? Ein echter Don Kosak wie ich?« Er drehte ihr den Kopf zu und lächelte. »Nein, Mütterchen. Ich will nicht vorsichtig sein. Ich muss für die Forderungen der Arbeiter kämpfen, das ist meine Pflicht als Gewerkschaftsvorsitzender. In diesem Winter werden wir hier in Barentsburg nicht hungern und frieren. Ich habe mit dem Direktor .«
Plötzlich erstarrte er und streckte seine Hände in ihre Richtung. »Pst, hast du das gehört?«
»Nein . Ist draußen jemand?« Sie flüsterte und sah ängstlich aus.
»Ganz ruhig jetzt. Ich werde nachsehen.« Er schlich durchs Wohnzimmer in die dunkle, kalte Küche. Blickte durchs Fenster auf die langen Treppen, die hinunter zum Kai führten. Nichts zu sehen. Er hielt den Atem an. Kein Laut. Dann ging er durch den engen Flur und öffnete vorsichtig die Haustür. Um das gesamte Haus zog sich eine schmale Veranda. Er hielt sich im Schatten, dicht an der Wand. Ging einmal um das ganze Haus. Kein Mensch, nirgendwo.
»Offenbar sind wir ein wenig schreckhaft. Schlechtes Gewissen?« Er bemühte sich um einen spöttischen Tonfall, doch es gab tatsächlich einiges, was er ihr nicht erzählte. »Vielleicht sollten wir uns einen anderen Ort für unsere Verabredungen suchen?«
Ihre Augen wurden dunkel vor Enttäuschung. »Oh nein, Vanja . es ist so gemütlich hier . genau wie .«
»Genau wie das Zuhause, das wir in Lugansk hätten haben können?« Mit schweren Schritten ging er durchs Zimmer und setzte sich wieder in den zerschlissenen Sessel. »Ich habe dir . ein ganzes Leben genommen.«
Sie berührten das unzulässige Thema. Ihr Ton wurde streng. »Das ist aus Güte passiert, ich will nichts anderes hören. Du hast sie aus einem elenden Dasein mit Armut, Beleidigungen und vielleicht Lebensgefahr gerettet . Es konnte doch niemand sicher sein, dass sie sich nicht eines Tages an alles erinnern würde. An alles, was du für sie getan hast .«
Er schüttelte den Kopf, beugte sich über den Tisch und rührte süße Himbeermarmelade in den Tee. Zwischen ihnen stand das Wissen um die andere Wirklichkeit, die Wirklichkeit außerhalb dieses verfallenen Holzhauses.
Die heimlichen Verabredungen folgten mit ihren kleinen Ritualen einem eingespielten Muster. Sie aßen Kuchen, tranken Tee und prosteten sich mit Wodka zu. Dann folgte die erwartete Überraschung.
Er sagte jedes Mal dasselbe. »Denkst du etwa, es gibt nichts mehr davon? Oder dass ich es vergessen hätte?«
Aus seiner Jackentasche zog er eine kleine rote Flasche Streleskaya, den bittersüßen starken...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.