Merode - wie alles beginnt
Harper von Laufenburg hielt sich nicht für hochmütig, und wenn er es doch einmal war, so vertraute er diese Sünde demütig seinem Beichtvater Prior Peter von Wenau an. Das Gefühl aber, der mächtigste und stärkste Mann der Gegend zu sein, genoss er dessen ungeachtet. Daran war nichts Hochmütiges, fand der Ritter, war es doch allzu menschlich, dass man auf irgendetwas stolz sein durfte auf Erden. Er war Dienstmann des Herzogs von Limburg, und der Herzog wusste, was er an dem Laufenburger hatte. Harper war seine Bastion im Osten des Herzogtums, hier herrschten Friede und Ordnung.
Hochmütig mochten andere sein, er, Harper, war es nicht. Allerdings hatte er Prior Peter neulich eine ganz andere Sünde beichten müssen: Er war eifersüchtig. Nicht wegen einer Frau, um Himmels willen, darüber war der fast Vierzigjährige seit dem Tod seiner geliebten Gemahlin hinaus. Nein, den Begriff Eifersucht verband er nicht mit einem Weibsbild, sondern mit Werner von Merode.
Vor drei Jahren war dieser Ritter, dessen Vater noch Ministeriale gewesen war, von Kaiser Friedrich höchstpersönlich mit dem Hofgut Echtz belehnt worden. Werner hatte, anders als Harper, keinen Herrn über sich als allein den Kaiser. Der Meroder war kaum jünger als der Laufenburger, hatte sich aber ein jugendhaftes und stattliches Aussehen bewahrt, zumindest behaupteten das jene, die ihm bereits begegnet waren. Harper gehörte nicht zu diesen Leuten, musste ihnen aber wohl Glauben schenken. Am anderen Ende des Waldes, kaum eine halbe Wegstunde entfernt, gab es also einen Mann, der mindestens so mächtig war wie Harper. Zwar stand Werner nicht in Diensten des Limburgers und war somit kein Konkurrent um dessen Gunst. Aber immerhin residierte er in nächster Umgebung. Welcher prächtige Gockel duldete schon einen anderen Gockel in seiner Nähe? Und damit nicht genug: Werner hatte den Ruf, tüchtig, waffengewandt und von gewinnendem Wesen zu sein. Vor zwei Jahren hatte er damit begonnen, sich einen neuen Sitz auf einer Rodung anzulegen, bei Merode, einem Nest, das bis dahin nur aus einigen windschiefen Bauernhütten und einem verlausten Wirtshaus, das sich Pilgerherberge nannte, bestanden hatte. Doch aus Echtz, seinem früheren Sitz, hatte Werner neue Bauern mitgebracht, vermutlich gelockt durch das Versprechen verminderter Abgaben. Innerhalb von achtzehn Monaten war mit Hilfe dieser Bauern und einer Handvoll Steinmetze Werners Gutshaus entstanden. Im Vergleich zur Festung des Laufenburgers war es zwar nur eine bescheidene Behausung, doch der ehrgeizige Werner hatte anklingen lassen, seinen Sitz zu einer trutzigen Feste auszubauen. Angeblich hatte er darüber hinaus behauptet, seine Burg werde einst alles in den Schatten stellen, was jemals in dieser Gegend des Reiches erbaut worden sei, die Burg des Harper werde dagegen wie ein armseliges Krähennest anmuten.
Ein armseliges Krähennest! Wenn das kein Hochmut war. War es nicht eine Kampfansage, an der Grenze zu Limburg eine Trutzburg zu errichten? Harper strich sich gedankenvoll durch den Bart. Dieser Werner sollte ihn noch kennenlernen.
Seit Tagen grübelte Harper darüber nach, wie er dem Meroder eine Lektion erteilen könnte. Da Werner ihm jedoch außer großspurigem Gerede noch keinen wirklichen Anlass dafür geboten hatte, hieß es abwarten.
Der fröhliche Vogelgesang vermochte Harper nicht von seinen düsteren Gedanken abzubringen. Reglos, die Hände auf dem Rücken verschränkt, stand er vor dem Fenster und starrte hinaus. Weit unter ihm wuchs graues Felsgestein in das grüne Tal hinein, gesäumt von einem üppigen Wald, zwei Rehe ästen auf einer Wiese, aber Harper nahm nichts davon wahr. Erst als er hinter sich die Schritte des Burghauptmanns hörte, löste sich seine Starre.
»Man könnte denken, ein Heer von Teufeln belagere die Burg, so finster wie Ihr aus dem Fenster stiert«, beschied ihm Walter.
»Was nicht ist, kann noch werden«, brummte Harper und wandte sich um. »Willst du mir auf die Nerven fallen?«
Walter grinste. »Nein, Herr. Im Hof steht ein Bittsteller. Einer der Bauern.«
»Was will er?«
»Sein Weib sei krank, jammert er. Fleht Euch an, ihn für heute von der Feldarbeit freizustellen. Außerdem kann er das Huhn nicht entbehren, das er Euch schuldet. Was soll ich mit ihm anstellen?«
»Meinethalben stell' ihn frei. Muss ich mich denn um alles kümmern?«
»Und das Huhn?«
»Was weiß ich? Setz ihm eine Frist. Du bist doch sonst nicht zimperlich.«
Walter kratzte sich den Bart. »Ich kann prüfen, ob der Kerl die Wahrheit sagt. Wäre nicht das erste Mal, dass jemand Euer Mitleid missbraucht.«
Harper sah wieder hinaus und dachte nach. »Lass nur. Für heute habe ich eine ganz andere Aufgabe für dich. Du wirst nach Merode reiten. Dich dort ein wenig umschauen.«
»Aha?«
»Werners Sitz, sieh ihn dir genau an. Gibt es neue Baustellen? Was denken die Bauern über ihren Herrn? Vielleicht kriegst du ihn sogar selbst zu Gesicht. Wie sieht er aus? Mich interessiert alles über dieses Großmaul.«
Das war ein Auftrag ganz nach Walters Geschmack. »Ihr könnt Euch ganz auf mich verlassen.«
»Das tue ich. Aber stell' es nicht zu plump an. Niemand muss wissen, dass du in meinem Auftrag dort herumschnüffelst. Dein Schwert lässt du daheim. Kein Waffenrock, einfache Kleidung, hast du verstanden?«
»Kein Schwert?« Der Hauptmann rümpfte die Nase.
»Fürchtest du dich vor ein paar Bauern? Auch wenn's dir schwerfällt, fordere niemanden heraus. Keine Prügeleien. Nur beobachten sollst du, so unauffällig wie möglich. Verstanden?«
»Dieser Merode ist Euch ein Dorn im Auge, nicht wahr?«
»Wenn du's schon weißt, wozu fragst du?«
»Glaubt Ihr, dass wir ihm eines Tages tüchtig einheizen werden?«
»Das hoffe ich. Aber noch ist es nicht soweit. Heute wirst du nur beobachten.«
»Verstanden, Herr.«
»Wirst du ausnahmsweise einen Tag ohne Bier und Schnaps überstehen?«
»Für wen haltet Ihr mich?«
»Für einen Mann, der niemals nein zu einem Tropfen sagt.«
»Zugegeben, da ist was dran. Aber Ihr wisst auch, dass Ihr auf mich zählen könnt, wenn's drauf ankommt.«
Harper nickte. »Das will ich nicht abstreiten, mein Guter. Übrigens, mein Sohn wird dich begleiten. Es ist gut für ihn, wenn er mal was anderes sieht.«
»Zum Beispiel das Auge des Feindes.«
»Wiegle ihn nicht auf, er ist schon Heißsporn genug. Vielleicht kann er ja sogar etwas von dir lernen - wenn's mir auch schwerfällt, das zu glauben.«
»Seid unbesorgt, ich werde ganz Lamm sein. Was bleibt mir auch übrig ohne mein Schwert?«
»Macht euch sofort auf den Weg. Sieh zu, dass er sein Pony gut behandelt, du weißt ja, wie jähzornig er sein kann.«
»Weder um Euren Sohn noch um das Tier müsst Ihr Euch sorgen.« Walter grüßte und verließ mit weiten Schritten den Raum.
Reinhard mochte Walter ganz gut leiden, denn bei ihm durfte er sich alles erlauben. Nie tadelte der Hauptmann ihn, wenn er ihn bei wilden Prügeleien entdeckte, ganz im Gegenteil. Hinterher gab es stets gute Ratschläge, wie Reinhard es besser machen konnte. Dank Walter kannte er nun alle empfindlichen Körperteile eines Wesens, drohte er also zu unterliegen, wusste er manchen Trick, um sich der Bedrängnis zu entziehen. Diese Methoden mochten nicht immer ritterlich sein, aber ritterlich hieß mitunter auch töricht, behauptete Walter. Und der musste es wissen, hatte er doch schon viele Kämpfe überstanden und bis auf einige Narben keine bleibenden Schäden behalten.
Beim Ritt nach Merode legte Walter keine Eile an den Tag, gemächlich ließ er seinen Rappen traben. Reinhard aber war voller Tatendrang. »Lass uns um die Wette reiten, Walter!«
»Warum sollten die Tiere unnötig Kraft vergeuden? Wir haben es nicht eilig. Außerdem hättest du mit deinem Pony nicht den Hauch einer Chance.«
»Du könntest mich gewinnen lassen.«
»Etwas Dümmeres, als den sicheren Sieg zu verschenken, kann ein Mann nicht tun.«
»Ich will endlich ein richtiges Pferd.«
»Du musst erst noch ein gutes Stück wachsen, fürchte ich.«
Reinhard mochte es gar nicht, wenn man ihn daran erinnerte, dass er noch ein Knabe war. »Was machen wir eigentlich in Merode?«, fragte er grimmig.
»Nichts, außer uns gründlich umschauen und die Ohren offen halten. Hinterher erstatten wir deinem Vater Bericht. Alles, was wir über Werner von Merode in Erfahrung bringen können, ist interessant für ihn.«
»Wie langweilig.«
»Ja. Aber notwendig.«
Reinhard schob die Unterlippe vor. An diesem Tag machte es keinen Sinn, mit Walter zu streiten.
Die Laufenburg. Ab dem 12. Jahrhundert diente sie den Limburger Herzögen als Bollwerk gegen die Grafen von Jülich und die Kölner...