Kapitel 1
Hektisch schlugen die Scheibenwischer des silbernen Ford Fiesta hin und her, schafften es aber kaum, der vom Himmel stürzenden Wassermassen Herr zu werden. Angestrengt starrte Anja durch die Windschutzscheibe und stieg erschrocken auf die Bremse, als unvermittelt die Bremslichter des vor ihr fahrenden Wagens aufleuchteten.
»Das fängt ja gut an«, schimpfte sie. »Hoffentlich ist das Wetter kein Omen. Wenn das so ist, fällt der Gig heute Abend buchstäblich ins Wasser.«
Das Herz schlug ihr vor lauter Aufregung sowieso schon bis zum Hals. Ihr erster richtiger Auftritt mit ihrer neuen Band stand ihr bevor. Da konnte sie sich Schöneres vorstellen, als vollkommen durchnässt, mit strähnigem Haar und verwischtem Make-up auf die Bühne zu treten.
»Ach, Schwesterlein, sei nicht so eine Schwarzmalerin. Das hier ist Hamburg, nicht München. Der Regen gehört zur Stadt wie die Luft zum Atmen. Aber mach dir keine Sorgen, das ist nur ein kleiner Schauer, der ist gleich wieder vorbei.« Mika grinste frech.
»Ich werde dich beim Wort nehmen. Wenn wir ankommen und es gießt immer noch so, musst du mir einen Regenschirm besorgen.«
Anjas Bruder lachte fröhlich. »Kein Problem. Weißt du, ich kann es immer noch nicht ganz glauben, dass du nun auch in Hamburg wohnst. Dass die Zeiten vorbei sind, in denen wir uns vielleicht zweimal im Jahr ganz kurz sehen konnten. Wir werden es uns richtig schönmachen.«
»Ja. Ich freu mich auch, ich hab dich echt vermisst. Aber erst muss ich den heutigen Abend überleben.«
»Hey, ihr macht das schon. Wer kann schon einem Haufen schöner Frauen widerstehen? Ach ja, die Jungs meiner Band kommen heute übrigens auch. Sie wollen sich euren ersten Auftritt nicht entgehen lassen.«
»Was? Oh je, warum hast du das gesagt? Nun werde ich noch nervöser! Ich werde den Text vergessen oder meinen Einsatz, oder ich werde über den Bühnenrand stolpern .«
»So ein Unsinn! Alles wird super laufen, du wirst schon sehen. Sie werden euch lieben!« Mika grinste zuversichtlich. Zumindest was seine Jungs betraf, könnte es durchaus der Wahrheit entsprechen. Er war Gitarrist der Heavy-Metal-Band Darkest Nights. »Finn und Ben habe ich ja schon kennengelernt«, stellte Anja fest und atmete tief durch. Einmal war sie auf einem Konzert der Band ihres Bruders dabei gewesen, hatte aber nur die beiden getroffen. Sie lächelte, als sie an die Begegnung dachte. Beiden waren fast die Augen aus dem Kopf gefallen.
»Wie kann es sein, dass du eine so wunderschöne Schwester hast?«, hatten sie gestaunt und Mika spöttisch angestarrt. »Du bist doch hässlich wie die Nacht!« Im Chor hatten sie ihn ausgelacht.
Anja hatte Finn und Ben sofort ins Herz geschlossen und sich ein wenig geschmeichelt gefühlt. Nein, sehr.
»Ich bin schon auf Torben und Killer gespannt«, sagte sie, während sie aufmerksam auf den Verkehr achtete. Täuschte sie sich oder wurde der Regen weniger?
Mika lachte. »Von Killer solltest du dich lieber fernhalten. Der macht seinem Namen alle Ehre und legt eine Frau nach der anderen flach.«
Anja grinste. »Da mach dir mal keine Sorgen. Ich bin schon ein großes Mädchen und kann ganz gut auf mich selbst aufpassen.«
Ungeduldig schaute sie aufs Navi. »Noch zwei Minuten. Ich bin schon echt neugierig auf den Club.«
»Er ist klein, aber das Publikum ist cool.« Prüfend betrachtete Mika seine Schwester. Sie versuchte, ihre Nervosität zu tarnen, aber es gelang ihr nicht ganz. »Mach dir keine Sorgen«, setzte er beruhigend hinzu.
»Nun ja, es ist unser erster richtiger Gig.«
»Ihr schafft das schon!« Im gleichen Augenblick wies Mika freudig mit dem Finger. »Und da ist sogar eine Parklücke, direkt vor dem Haus. Also das ist ein sehr gutes Omen.«
Rasch steuerte Anja hinein, stellte den Motor aus und atmete tief ein und aus. »Dann wollen wir mal.«
In der Eingangstür des Clubs stand bereits ihre Freundin und Bandkollegin Vanessa und winkte ihnen zu. Und als hätte sie damit geheime Zeichen gegeben, nahm die Intensität des Regens schlagartig noch mehr ab. Anjas Miene hellte sich auf wie der Himmel. »Jetzt bin ich mit dieser Stadt versöhnt.«
Sie öffnete die Fahrertür, griff nach ihrer Tasche und stieg aus.
»Gut, dass ihr da seid«, rief Vanessa. »Es gibt noch viel zu tun.«
Anja umarmte sie zur Begrüßung und musterte sie. »Hübsche Frisur«, stellte sie anerkennend fest. Vanessa hatte ihr langes blondes Haar zu einem kunstvollen Zopf geflochten. Kurzentschlossen griff Anja ebenfalls nach dem Haargummi in ihrer Hosentasche, um ihre lange dunkle Mähne zu bändigen. Vanessa hatte recht, es gab noch viel zu tun, ehe ihr Auftritt beginnen konnte.
»Danke! Ich bin froh, dass du da bist. Ich bin so nervös, dass mir die Hände zittern.« Vanessa warf einen Blick auf Mika. Der öffnete gerade ergeben den Kofferraum und griff nach der Kiste mit Anjas Utensilien.
»Frag mich mal«, gab Anja zu. Auf was hatte sie sich hier bloß eingelassen? Eines Tages hatte sie genug gehabt von ihrem Job im Sekretariat eines großen Autohauses in München und sich in den Kopf gesetzt, Sängerin zu werden. Schon als kleines Mädchen hatte sie ihre Haarbürste zum Mikrofon umfunktioniert und all ihre Lieblingslieder mitgesungen, und kurz entschlossen begann sie nun, Nägel mit Köpfen zu machen. Während ihrer Gesangsausbildung hatte sie Vanessa kennengelernt, die Bass spielte, und kurz darauf gesellten sich Kerstin als Gitarristin und Nelli als Schlagzeugerin dazu. Geboren war die Band City Cats. Sie spielten Rock, beinahe schon Metal. Das war zu der Zeit, als Mika gerade mit seiner eigenen Band Darkest Nights so richtig durchstartete. Für die Band zogen Anja und Vanessa nach Hamburg zu Kerstin und Nelli.
Und nun stand ihr erster richtiger Gig bevor. Anja seufzte. Sie hatte ja nicht gewusst, dass so ein Auftritt bereits im Vorfeld so viele Nerven kosten würde.
Schnaufend stellte Mika die Kiste ab. »Was hast du da drin? Felsbrocken?«, stöhnte er. Suchend sah er sich um. »Schön langsam könnten meine Jungs mal eintrudeln und uns beim Schleppen und Bühnenaufbau helfen.«
»Wirklich nett, dass ihr das übernehmt«, sagte Anja und nickte zum Dank. »Roadies können wir uns noch nicht leisten.«
»Ist doch Ehrensache«, erklärte Mika. »Aber du wirst ein größeres Auto brauchen. Wenn ihr richtig auf Tour gehen wollt, braucht ihr euer eigenes Zeug.«
»So weit sind wir noch lange nicht«, erwiderte Anja und sah sich neugierig um. »Vorerst müssen wir uns Verstärker, Monitorboxen und so weiter ausleihen.« Sie rieb augenzwinkernd ihre Fingerspitzen aneinander. »Wenn genug Geld in die Kasse geflossen ist, können wir über ein größeres Fahrzeug reden.«
Sie folgte Mika, der die Kiste wieder hochhob und durch die offenstehende Tür in den Club trug. Kerstin und Nelli kamen ihnen entgegen. Anja grinste, als sie Nelli sah. Deren schulterlanges blondes Haar war nur schwer zu bändigen und stand auch jetzt in alle Richtungen ab. Als Schlagzeugerin jedoch war sie phänomenal. Kerstin umarmte Anja erfreut. »Da bist du ja. Ich habe das Gefühl, dass ich von Minute zu Minute nervöser werde.« Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr kupferrotes langes Haar und sah Nelli an, während sie Anja wieder losließ. »Wie machst du das bloß? Du wirkst total ruhig.«
Nelli grinste. »Der Eindruck täuscht. Am liebsten würde ich alles stehen und liegen lassen und weglaufen.«
Anja lachte erleichtert. Plötzlich ging es ihr viel besser. Was konnte ihr mit ihren Freundinnen an der Seite schon passieren?
Die weitere Stunde verging wie im Flug. Die Bühne war nur klein, aber bis sie alle Kabel verlegt, das Schlagzeug aufgebaut, die Ständer und Monitore aufgestellt und alles angeschlossen hatten, hatten sie doch alle Hände voll zu tun.
Anja war froh über die Beschäftigung. So kam sie nicht allzu sehr zum Nachdenken. Gründlicher als nötig regulierte sie die Höhe des Mikroständers. Was den Aufbau anging, waren sie und die anderen Mädels bereits ein gut eingespieltes Team. In ihrem winzigen Proberaum hatten sie es oft genug geübt. Ob sie dann auch beim Auftritt miteinander harmonierten, würde sich zeigen. Rasch kontrollierte sie die Kabelverbindungen der Instrumente.
Gerade als sie mit allem fertig waren, gesellten sich Finn, Torben und Ben zu ihnen.
»Das war ja klar«, rief Mika gespielt empört. »Erscheinen, wenn die ganze Arbeit erledigt ist!«
»Macht doch nichts«, erklärte Anja großmütig. »Ich freue mich, dass ihr gekommen seid.«
Auf der einen Seite war sie froh darüber, dass Mikas Bandkollegen da waren, aber andererseits stieg ihre Nervosität nun noch stärker an. Immerhin waren die Musiker bereits Stars, während sie selbst noch niemand kannte.
»Sorry!«, rief Finn zerknirscht. »Es ging nicht eher. Aber nachher helfen wir euch natürlich.«
»Wo ist denn Killer?«, fragte Mika.
»Der steckt angeblich noch irgendwo fest. Du kennst ihn ja.« Finn grinste vielsagend.
Mika lachte laut. »Ich möchte mir lieber nicht vorstellen, wo genau er steckt.«
In gleichen Moment begann der Einlass, und einige Dutzend Gäste strömten herein. Mit zunehmender Nervosität beobachtete Anja sie. Es gab hier keinen richtigen Backstagebereich, dazu war der Laden zu klein. Nur ein dicker Vorhang trennte sie vom Publikum. Leise besprach sie mit ihren Kolleginnen noch einmal den Ablauf des Auftritts.
Anjas Herz schlug schneller, als die helle Beleuchtung...