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»Liegt das eigentlich bei Ihnen in der Familie? Dieses Pseudo-Revoluzzertum? Dieser Kampf für das, was Ihresgleichen Freiheit nennt?« Ulrich Kaulitz ließ sich das Wort »Freiheit« mit ironisierendem Unterton auf der Zunge zergehen, so als sei es eine Art Floskel. Perry antwortete nicht. Er wusste, was jetzt wieder folgen sollte: dieses ermüdende Spiel mit den Gefühlen, das Bohren in Wunden. Immerhin musste er das jeden Tag über sich ergehen lassen. Wenn Kaulitz selbst das Verhör nicht führte, war es irgendein anderer Uniformträger.
»Merken Sie denn nicht, dass Sie gescheitert sind? Warum können Sie nicht ein anständiger Bürger sein? - Sie sind doch ein kluger Bursche. Die Deutsche Demokratische Republik braucht Menschen wie Sie!«
Der Generalmajor, ein stämmiger Mann mit schütterem weißem Haar, ließ nicht nur Perry täglich aus der Einzelzelle in diesen Verhörraum bringen. Wie viele Systemgegner, Querulanten, Imperialisten er schon in diesem Raum verhört hatte - stunden-, ja tagelang. Perry war eine der besonders harten Nüsse. Kaulitz mochte solche Herausforderungen - zumindest dann, wenn sie irgendwann zu Erfolgen führten.
Es waren inzwischen vier oder fünf Stunden vergangen. Auf dem harten Stuhl spürte Perry sein Gesäß nicht mehr, ihm taten die Beine weh. Niemand gab ihm etwas zu trinken. Perry wusste nicht, wie lange er das noch durchhalten würde. Von Tag zu Tag fiel es ihm schwerer, sich auf diesem Stuhl zu halten. Doch sein Wille war stark. Er dachte einfach nur an seinen Vater - und stärkte damit seinen Kampfeswillen. Oder er schwärmte von seiner großen Liebe und milderte mit den Gedanken an sie die Schmerzen.
»Ihre Schwester studiert. Aber es könnte der Tag kommen, an dem sie an der Universität nicht mehr erwünscht sein wird. Das könnte schon morgen sein. Ich muss nur einmal zum Telefon greifen. Also strapazieren Sie meine Geduld nicht zu sehr!«
Doch die psychologischen Folterversuche von Kaulitz hatte Perry längst durchschaut. In diesen Nächten, wenn das Neonlicht an der Decke seiner Zelle absichtlich nicht gelöscht wurde und sich in seinen Kopf einbrannte, hatte er sich eine Strategie überlegt, wie er die stundenlangen Verhöre in dem kargen Raum wohl am besten überstehen würde. Perry stellte sich einfach vor, er sei in einem satirischen Theaterstück. Dort unten sah er die Leute sitzen, die sich vor Lachen auf die Schenkel klopften. Es führte sogar so weit, dass Perry beim Verhör selbst gelegentlich ein Grinsen übers Gesicht zog. Das waren dann die Momente, in denen Kaulitz psychologisch außer Gefecht gesetzt war. Denn den Generalmajor ärgerte insgeheim nichts mehr, als wenn Perry grinste. Andere waren hier schon heulend zusammengebrochen, bettelten um Freiheit. Perry hingegen grinste einfach nur.
Perry hieß eigentlich Marc Ramelow und war einer der bekanntesten, vermutlich sogar der bekannteste Online-Aktivist der DDR. Seine Haft war zu einem Politikum geworden. Menschenrechtsorganisationen forderten seine Freilassung, ebenso westliche Politiker. Perry zu Ehren gab es Solidaritätskonzerte, Demonstrationen - und seit einigen Tagen ein YouTube-Video, das ein westdeutscher YouTuber namens Lonzo ins Netz gestellt hatte. Millionenfach war dieser Clip schon angesehen worden. Es ging darin nicht nur um Perry, sondern auch um die DDR an sich. Darum trug es auch den wenig bescheidenen Titel Die Zerstörung der DDR. Für Ulrich Kaulitz war dies noch mehr Antrieb, aus Perry endlich die Informationen herauszupressen, die er benötigte.
»Ihr Vater war auch so einer wie Sie. Ein Feind des Sozialismus. Ein Imperialist.« Kaulitz klappte ein vor ihm liegendes Tablet der Marke Robotron auf und wählte aus den Dateien auf dem Display ein Foto aus, das er mit einem Wischen auf Vollbild zog. Er drehte das Display Richtung Perry und zeigte ihm einen Mann mit vollem Haar, dessen Frisur und Kleidung eindeutig in den 80er Jahren zu verorten waren. Der Mann lächelte stolz. In seinem Arm hielt er ein Baby. - Es war Perry.
»Marc hat er Sie genannt. Mit C. International wollte er sein. Eine dümmliche Angewohnheit leider vieler Menschen in diesem Land. Die USA waren sein großes Vorbild. Einmal nach New York, das war sein großer Traum. Er hätte ausreisen können, wir haben es ihm angeboten. Aber nein, er wollte ja unbedingt bleiben. Er hatte diesen Traum von einer neuen DDR. Eine kapitalistische, imperialistische, unsoziale DDR, in der nicht mehr Arbeiter und Bauern, sondern einzelne milliardenschwere faschistische Weltkonzerne die Geschicke steuern. Mit terroristischen Mitteln und einer Gruppe von gewaltbereiten Schergen kämpfte er für dieses Ziel.« Kaulitz beugte sich nach vorn und flüsterte. »Aber die DDR hat sich gewehrt. Im Sommer 1991, im Sommer 1992 und dann noch einmal nachdrücklich im Sommer 1993.« Perry sah das Bild seines Vaters nicht an. »Ihr Vater hat sein Leben verloren. Aber das war seine eigene Entscheidung. Er hat Sie im Stich gelassen, Marc - nur um seine ideologischen Ziele zu erreichen. Wollen Sie etwa genauso enden?«
Dieser karge Verhörraum bot nichts weiter als graue Wände, einen Tisch, zwei Stühle und das hinter Kaulitz hängende Bild des Staatsratsvorsitzenden Klipkow, das jedoch über 20 Jahre alt war und einen Mann Mitte 60 zeigte. Inzwischen war Klipkow schließlich weit über 80.
Perry, dessen schulterlange Haare nach Wochen mangelnder Hygiene fettig und angegriffen wirkten, war in dunkelblaue Häftlingskleidung gekleidet. Kaulitz trug eine graue Uniform, auf dessen Revers das Emblem der Deutschen Demokratischen Republik prangte.
»Aber immerhin: Der BRD hat diese unschöne Randnotiz der Geschichte einen Feiertag beschert, den 13. August. Sie nennen es >Tag der Deutschen Einheit<, wie sie jahrzehntelang schon den unsäglichen 17. Juni genannt haben, den sie natürlich dafür abgeschafft haben. Manche sagen, der 13. August sei als Feiertag einfach wirtschaftlich vernünftiger gewesen, weil da eh viele Menschen im Sommerurlaub sind. Das ist Kapitalismus, Marc. Oder ist es Ihnen lieber, wenn ich Sie Perry nenne?«
Das Smartphone war Perry weggenommen worden, seine Zelle hatte kein Fenster. Er wusste nicht, welches Datum war. Auf Nachfrage sagte es ihm niemand. Der Termin seiner Verhaftung war der 10. Juni 2023. Wie viele Wochen seitdem vergangen waren, wusste er nicht. Auch hatte er das Gefühl für Tag und Nacht verloren. Und doch fühlte er sich immer noch stark und voll funktionsfähig. Sie wollten ihn brechen, aber er kämpfte dagegen an. Im Moment hatte er heftigen Durst, seine Zunge klebte am Gaumen. Er freute sich auf die Rückkehr in seine Zelle, um dort am Waschbecken seinen Mund unter den Wasserhahn zu halten. Kaulitz wusste das. Er nahm einen Schluck Wasser aus seinem Glas. Er wusste, wie gern Perry jetzt auch etwas getrunken hätte. Deswegen zelebrierte der Generalmajor den Griff zum Glas geradezu.
»Marc, seien Sie doch vernünftig. Sie hatten doch auch ein Studium. Sie können dieses Studium wieder aufnehmen. Jederzeit. Nennen Sie mir einfach nur ein paar Namen. Ihren Mitstreitern wird nichts passieren, wir werden nur ein paar Fragen an sie stellen.«
Perry schwieg beharrlich. Er schaute Kaulitz nicht an, sondern pulte kleine Schmutzpartikel unter seinen Fingernägeln hervor. Seine Zelle wurde einmal wöchentlich notdürftig gereinigt. Am schlimmsten aber war, wie lange er schon keine frische Luft mehr eingeatmet hatte. Stattdessen musste er von dieser verdreckten Luft leben, die durch die klapprige Lüftungsanlage in die Zelle gepustet wurde. Der daraus resultierende trockene Dauerhusten setzte ihm zu. Aber er schwieg beharrlich.
Kaulitz beugte sich über den Tisch und kam Perry unangenehm nahe. Perry spürte den Atem des Generalmajors - eine Mischung aus Tabakrauch und Schnaps. Früher hätte Kaulitz in diesem Raum geraucht, aber das war seit fünf Jahren verboten. Auch in der DDR griffen Rauchverbote immer mehr um sich. Manchmal nahm er vor einem Verhör viel Knoblauch zu sich, um sein Gegenüber noch mehr zu quälen.
»Meine Güte, Marc. Sie sind 33 Jahre alt. Sind Sie nicht langsam etwas zu alt, um immer noch solchen kindischen Protest-Fantasien anzuhängen? Sie hätten Karriere machen können. Unser Land braucht solche Köpfe wie Sie. Sie könnten hier ein so schönes Leben haben und werfen es weg, weil Sie so ideologisch verbohrt sind.«
Kaulitz nahm ein neben seinem Stuhl auf dem Betonboden stehendes kleines Kästchen aus Hartpappe an sich und stellte es auf den Tisch. Perrys Blick wanderte nach oben, er schaute das Kästchen an. Kaulitz nahm den Deckel ab und ergriff schmunzelnd ein darin liegendes Smartphone. Perry erkannte sofort, dass es seines war. Kaulitz musterte das Gerät. »Natürlich ein amerikanisches Produkt. Die Mobiltelefone aus unserem Volkseigenen Betrieb sind...
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