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Oder: Wie Hannah Arendt zu meinem politischen Leitstern wurde
»Kretschmanns Hausheilige« - so hat ein Journalist Hannah Arendt einmal bezeichnet, weil kaum eine meiner Reden ohne einen gedanklichen Rückgriff auf die Philosophin auskomme.1 Wenn ich in meinem Dienstzimmer Besucher empfange, erlebe ich es regelmäßig, dass sie überrascht auf meinen pinkfarbenen Kaffeebecher schauen, den ein Porträt Hannah Arendts im Pop-Art-Stil ziert. Und neulich trug einer meiner Mitarbeiter bei einer Besprechung in der Staatskanzlei einen Kapuzenpulli mit der knallig-bunten Aufschrift »What would Hannah Arendt do?«
Sie sehen also: Hannah Arendt hat eine ganz besondere Bedeutung für mich. Sie prägt mein politisches Denken und Handeln wie niemand sonst. Man kann sogar ohne Übertreibung sagen: Hannah Arendt hat mein Leben verändert. Das war in den 1970er-Jahren. Ich war damals Student an der Universität Hohenheim und hatte mich tief in ein linksradikales Weltbild verirrt. Anfangs hatte mich das Freiheitliche der Achtundsechziger-Bewegung angezogen. Es war eine faszinierende Gegenwelt zum autoritären katholischen Internat in Oberschwaben, aus dem ich kam. Doch dann driftete die Bewegung mehr und mehr ins Sektenhafte, ja Totalitäre ab. Der Kommunistische Bund Westdeutschland, bei dem ich damals mitmachte, war eine strenge Kaderorganisation. Da musste man den Blick auf die Welt, wie sie wirklich ist, weitgehend ausschalten. Mein Denken wurde immer enger. Irgendwann stand ich dann im Regen vor den Werkstoren eines Unternehmens in Esslingen und versuchte, den Arbeitern die »Kommunistische Volkszeitung« in die Hand zu drücken - aber niemand nahm sie. Ich war angetrieben von einem übersteigerten Gerechtigkeitsgefühl und überzeugt: »Wenn du nicht alles für die Gerechtigkeit auf der Welt tust, dann tust du zu wenig.«
Ich kann mir bis heute nicht so recht erklären, wie ich so tief in diese linksradikale Abseitigkeit geraten konnte. Aber eines weiß ich genau: Die Bücher von Hannah Arendt haben mir geholfen, aus dem totalitären Denken und der ganzen damit verbundenen Gewaltmystik herauszukommen. Sie waren mein Heilmittel gegen die ideologische Verblendung, die in mir einen gewaltigen Sog entwickelt hatte. Am meisten faszinierte mich die radikale Freiheit und Unabhängigkeit in Arendts Denken und Urteilen. Das war das genaue Gegenteil des Doktrinären, das ich erlebt hatte. Es hat mir die Augen und vor allem das Denken geöffnet. Und das war im wahrsten Sinne des Wortes befreiend.
Hannah Arendt war damals bei weitem noch nicht die Ikone der politischen Philosophie, die sie heute ist: Ihr berühmtes Fernsehinterview mit Günter Gaus aus dem Jahr 1964 hat inzwischen Kultcharakter und wurde im Internet millionenfach angeschaut. Nach der ersten Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im Jahr 2016 schoss Arendts erstes Hauptwerk »The Origins of Totalitarianism« in der US-Bestsellerliste nach oben. Vor einigen Jahren lief ein preisgekröntes Filmporträt von Margarethe von Trota über sie weltweit in den Kinos. Und sogar ein ICE ist nach ihr benannt.
Dieser Weg war so nicht vorgezeichnet. Zu Lebzeiten war Hannah Arendt nicht nur eine streitbare, sondern auch eine höchst umstrittene Denkerin, die in der politischen Philosophie nur zögerlich rezipiert wurde. Das lag auch an ihrer Eigenwilligkeit und Kühnheit: Arendt entwickelte keine systematische politische Theorie im herkömmlichen Sinn, sondern eine politische Handlungstheorie, die quer im Stall der politischen Philosophie stand. Sie scherte sich wenig um die Konventionen der Ideengeschichte und verknüpfte verschiedene Denktraditionen auf ihre eigene originelle Weise. So baute sie ihre Neuerzählung des Politischen auf solch unterschiedlichen Autoren wie Aristoteles und Machiavelli, Platon und Kant auf. Hannah Arendt verabscheute alle »Ismen«, und ihr Werk sperrt sich dagegen, in klassische ideologische Schubladen von links oder rechts, liberal oder konservativ einsortiert zu werden.
Während die unterschiedlichen politischen Lager deshalb früher meist auf Distanz zu Arendt gingen, findet man heute überall den Wunsch, sich auf sie zu beziehen. »Mit Arendt kann man nichts falsch machen. In ihren Widersprüchen findet jeder sein vertrautes Eckchen, und was einem nicht passt, das lächelt man weg. Arendt war keine Linke, doch eine Rechte war sie auch nicht. Sie träumte von der Räterepublik und behandelte soziale Fragen mit aristokratischer Verachtung. Sie huldigte Rosa Luxemburg und beweihräucherte Papst Johannes XXIII. Sie arbeitete für zionistische Organisationen, doch ihre Empörung über die Behandlung der Palästinenser würde heute Missverständnisse auslösen. Sie unterstützte die Achtundsechziger und warnte sie vor der Zerstörung der Universität«, schreibt Thomas Assheuer in der »Zeit«.2
Hannah Arendt - die im Übrigen partout nicht als Philosophin bezeichnet werden wollte, sondern als politische Theoretikerin - war ein freier Geist, der sich bewusst zwischen alle Stühle setzte. Ihr Denken ist eine Absage an alle Dogmen und allzu engen Weltanschauungen. Und eine Aufforderung, sich der Wirklichkeit in all ihrer Widersprüchlichkeit und Komplexität zu stellen, anstatt es sich in irgendwelchen ideologischen Komfortzonen bequem zu machen. Dieses »Denken ohne Geländer«3 - wie sie es selbst nannte - macht Hannah Arendt für uns heute so wertvoll. Denn in einer Zeit, in der uns alte Gewissheiten verlorengehen und damit in Politik und Gesellschaft hergebrachte Geländer abhandenkommen, kann uns Arendts Denken Orientierung geben - »einem Leuchtturm vergleichbar, der Signale für das richtige politische Handeln aussendet« (Kurt Sontheimer).4
Dabei will ich freimütig bekennen, dass man ein solches »Denken ohne Geländer« nicht einfach in die Welt der Politik übertragen kann. Wer als Politiker in einer Führungsposition nicht mit Geländer denkt, kann auf Dauer nicht erfolgreich sein und tappt unentwegt in Fettnäpfchen. Geländer sind in der Politik überall: Da ist das Recht, an das man sich halten muss. Da ist die Partei, die einen trägt. Da sind die großen Trends, die ganze Epochen prägen können. Da sind strategische Erfordernisse und da ist das notwendige Mindestmaß an Taktik, ohne das man nicht auskommt. Wer meint, sich völlig frei davon bewegen zu können, kann kein demokratisches Führungsamt ausfüllen. Da ist eine freie Denkerin wie Hannah Arendt in einer fundamental anderen Situation als ein Ministerpräsident. Doch umgekehrt gilt auch: Gerade deshalb kann uns dieses freie Denken, das keine Rücksichten zu nehmen braucht, wichtige, manchmal sogar entscheidende Impulse für das eigene politische Handeln geben.
Dabei ist Hannah Arendts Theorie natürlich keine einfache Handlungsanleitung für die politische Praxis. Aber doch ein Kompass, der uns die Richtung vorgibt und zeigt, was Politik heute braucht: mehr Beteiligung, mehr Bürgergesellschaft und mehr Mut zu gemeinsamem Handeln. Oder wie es der amerikanische Philosoph Richard J. Bernstein formuliert: »Was Arendt heute so aktuell macht, ist die Mischung aus ihren düsteren Warnungen vor herrschenden Tendenzen in der Gesellschaft, ähnlich denen, die sich im Totalitarismus kristallisierten, und ihrer tiefen Überzeugung, dass Menschen zusammenkommen und gemeinsam handeln können, dass sie ihre öffentliche Freiheit ausüben und dem Gang der Geschichte eine Wendung geben können.«5
Hannah Arendt begleitet mich nun ein halbes Jahrhundert durch mein Leben. Sie ist mein geistig-politischer Leitstern. Ihr Mut, ihr freier Geist und ihr leidenschaftliches Plädoyer für die Würde der Politik und die Vitalisierung der Demokratie inspirieren mich bis heute. Und dennoch habe ich gezögert, als ich vor einiger Zeit gefragt wurde, ob ich ein Buch über Hannah Arendt und darüber, wie sie mich und meine Politik beeinflusst hat, schreiben möchte. Mir kam ein solches Vorhaben zunächst anmaßend vor. Schließlich handelt es sich bei Arendt um die bedeutendste politische Theoretikerin des 20. Jahrhunderts. Und ich selbst bin weder studierter Philosoph noch ausgewiesener Hannah-Arendt-Experte. Dennoch habe ich mich am Ende dafür entschieden, das Abenteuer zu wagen. Nicht, weil ich denke, dass ich einen Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung über Hannah Arendt leisten könnte - das wäre vermessen. Sondern weil mir Arendts Gedankenwelt zur geistigen Heimat geworden ist. Und weil ich überzeugt bin, dass ihre Ideen auch anderen Menschen Halt und Zuversicht in dieser schwierigen Zeit geben können.
Und genau darum geht es in diesem Buch. Um meine persönliche, durch und durch subjektive Rezeption der Arendt'schen Philosophie. Darum, wie ich Hannah Arendt entdeckt habe. Wie sie mein politisches Denken und Handeln prägt. Was mich an ihrem Werk fasziniert. Und wie uns Hannah Arendt als Wegweiser für die politischen Herausforderungen unserer Tage dienen kann.
Dabei werde ich mich entlang weniger paradigmatischer Leitsätze und Kernmotive Hannah Arendts - wie Pluralität, Freiheit, gemeinsames Sprechen und Handeln, Neuanfang, Macht, Wahrheit und Lüge sowie öffentliches Glück - bewegen. Zudem bemühe ich mich, immer wieder kleinere Textpassagen aus Arendts Werk einzuflechten, um Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ein Gefühl für Arendts kraftvolle Sprache und für das eindringliche Schreiben der Philosophin zu vermitteln. Die einzelnen Kapitel habe ich bewusst so gestaltet, dass Sie diese nicht nur chronologisch lesen können, sondern auch als für...
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