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In meinen Kalender vom Januar 1989 gibt es keinerlei Hinweise auf irgendwelche Auseinandersetzungen zwischen vermeintlichen Reformern und angeblichen Dogmatikern im Politbüro. Am 4. Januar 1989 stand dort: »9.20 Uhr, Treffen des Politbüros bei Schabo«. »Schabo« war Günter Schabowski, der Erste der Partei in Berlin. Er wurde an jenem Tag sechzig Jahre alt. Es gehörte zu den Ritualen des Politbüros, Mitgliedern und Kandidaten an runden Geburtstagen gemeinsam zu gratulieren. Honecker verlas eine Grußadresse des Zentralkomitees, überreichte eine hohe Auszeichnung und ein Geschenk. Der Jubilar revanchierte sich mit viel Lob für den Generalsekretär.
Huldigungen dieser Art füllten bei uns mitunter ganze Zeitungsseiten, in der Regel gab es im Neuen Deutschland, dem Zentralorgan, auf Seite 1 ein Foto des Jubilars. Wo dieses platziert wurde und wie groß es war einschließlich der Huldigung, entschied der Generalsekretär. So konnte die Leserschaft leicht feststellen, welchen Stand der Geehrte beim Chef hatte.
Schabowski kannte diese Praxis aus seiner Zeit als Chefredakteur des Neuen Deutschland besser als jeder andere von uns. Wohl auch deshalb lief er schon Tage vor seinem Geburtstag mit griesgrämigem Gesicht durch die Gegend. Ausgerechnet sein Jahrestag sollte »heruntergespielt« werden, also weniger Aufmerksamkeit finden als ihm zustünde, wollte er damit sagen. Das Politbüro hatte vor Monaten nämlich beschlossen, Geburtstagsgratulationen künftig bescheidener zu gestalten. In der Öffentlichkeit, so die Begründung, kämen die gegenseitigen Schmeicheleien nicht gut an. »Die Bürger« besäßen ein feines Gespür für den Unterschied von berechtigtem Lob und billiger Beweihräucherung. Darum sah die neue Protokollordnung des ZK der SED vor, runde Geburtstage von Mitgliedern des Politbüros nur noch auf Seite 2 des Neuen Deutschland zu vermelden.
ZK-Protokollchef Jost Becher hatte diese begrüßenswerte Veränderung lange vorbereitet. Sie sollte bereits 1987 erfolgen, doch in jenem Jahr wurde Honecker 75 - und da hätte dies zu Missverständnissen führen können. So wurde dann Schabowski das erste »Opfer«.
Er kämpfte verbissen um eine Ausnahmeregelung für sich, belegte den Protokollchef mit allen möglichen Begründungen. Schließlich sei er der 1. Sekretär von Berlin, der wichtigsten Parteiorganisation der SED überhaupt. Was würden wohl die Berliner denken, so seine rhetorische Frage, wenn das Politbüro ausgerechnet seinen Geburtstag nur »gedämpft« begehen würde?
Tatsächlich interessierte ihn die Meinung der Berliner so sehr nicht. Schabowski ging es vor allem um sein Ansehen im Westen. Dort wurde er als einer der möglichen Honecker-Nachfolger gehandelt, was ihm schmeichelte. Er fürchtete nun, dass die Aufmerksamkeit dort nachließe, wenn der Eindruck entstünde, er sei bei Honecker in Ungnade gefallen und auf Seite 2 verbannt. - Jost Becher aber blieb standhaft. Schabowski musste seinen Geburtstag »gedämpft« erleben. Verwunden hat er es nie.
In den neunziger Jahren erklärte er, dass er eigentlich nur ein kleiner »Mitläufer im Politbüro« gewesen sei, ein »kleines Licht«, das von allen »Grausamkeiten der DDR« nichts gewusst habe, ein »Ahnungsloser«. Wehe jenem, der solches über ihn gesagt hätte, als er noch in Amt und Würden war!
Ende Januar wurde Reagans ehemaliger Vizepräsident und einstiger CIA-Chef George Bush als 41. Präsident der USA vereidigt. Honecker bekam aus Washington die vertrauliche Nachricht: »Der neue US-Präsident denkt nicht daran, eine strategische Partnerschaft zwischen den USA und der UdSSR, wie sie Gorbatschow anstrebe, einzugehen.« Und Bush beabsichtige, einen persönlichen Freund aus gemeinsamen CIA-Zeiten zum neuen Botschafter in Bonn zu machen. Der 72-jährige Vernon Walters, ein altes Streitross des Kalten Krieges, wurde aus der Rente geholt und extra für diesen Job reaktiviert. Das bedeutete nichts Gutes.
Honecker gab mir das Papier zum Lesen. Es trug weder ein Datum noch eine Unterschrift. Als ich die beiden Blätter überflogen hatte, fragte er: »Na, was sagst du dazu?«
Was sollte ich dazu sagen? Hatten wir etwas anderes erwartet? Die USA strebten schon immer nach einer Weltordnung unter ihrer Hegemonie.
»Das siehst du völlig richtig. Klarer als dein Gorbatschow«, reagierte Honecker auf meinen Kommentar.
Es beschäftigte ihn mehr als mir lieb war, dass ich noch immer nicht im Chor der Gorbatschow-Kritiker mitsang. Honecker gab mir mit solchen Spitzen immer wieder zu verstehen, dass ich mich diesbezüglich auf dem Holzweg befände. »Egon, du setzt auf den Falschen!«, hieß das. Damals kränkte es mich.
Im Nachhinein muss ich Honecker recht geben.
An dem Geheimdienstpapier ärgerte mich allenfalls, wie mies die USA Gorbatschow beurteilten. Erst im Dezember 1988 hatte er vor der UNO-Vollversammlung ein großartiges Abrüstungs-Programm vorgestellt. Die Sowjetarmee sollte um 500.000 Soldaten reduziert werden. Aus der DDR, der CSSR und Ungarn wollte Moskau einige Zehntausend Mann und fünftausend Panzer zurückholen. Die DDR wollte nachziehen. Die NVA erwog, sechs Panzerregimenter und ein Fliegergeschwader aufzulösen, und die Regierung plante, die Rüstungsausgaben um zehn Prozent zu kürzen.
Das waren einseitige Angebote - in der Erwartung, dass es der Westen gleichtue. Doch der Westen, also die NATO, bewegte sich nicht. Gorbatschow machte ein Zugeständnis nach dem anderen, und ich fragte mich: Wie lange ließ sich das durchhalten? Das militärstrategische Gleichgewicht durfte nicht infrage gestellt werden, wenn wir in der Systemauseinandersetzung nicht unterliegen wollten.
Auch Sozialdemokraten erkannten nüchtern das Dilemma. Egon Bahr, theoretischer Kopf der Ostpolitik Willy Brandts, sah die Balance durch die USA gefährdet. Nach einer Amerika-Reise informierte er Erich Honecker, dass die USA mit Gorbatschow ein »teuflisches Spiel« treiben. Jedes Mal, wenn Gorbatschow einen neuen Friedensvorschlag unterbreitete, reagierte man in den USA gezielt negativ und provokativ, um danach erklären zu können: »Seht, wie schwach die UdSSR ist. Wir müssen nur weiter drücken und werden immer mehr erreichen.«
Warum, so fragte ich mich, durchschauen andere dieses »teuflische Spiel« - Gorbatschow aber nicht? Verletzte es seine Eitelkeit, sich die Tatsache einzugestehen, dass sein »Neues Denken« augenscheinlich das alte Denken der Kalten Krieger in der USA keinen Deut veränderte, sie nicht zur Aufgabe ihrer Weltbeherrschungspläne bewegte? Die Strategie der von Washington gesteuerten NATO setzte unverändert auf Destabilisierung der sozialistischen Länder. Sie wollten uns weghaben, wegreformieren, totrüsten! Das war das Generalproblem - nicht der Generalsekretär Gorbatschow. Egal, wer in Moskau das Sagen hatte: Primär waren Stärke und Stabilität der Sowjetunion und unser Schulterschluss mit Moskau. Denn ohne Sowjetunion keine DDR. Darin war ich mir mit Honecker völlig einig.
Über verschiedene Kanäle erhielten wir uns beunruhigende Nachrichten. Manfred Uschner, Mitarbeiter von Politbüro-Mitglied Hermann Axen, berichtete von einem Gespräch Ende 1988 mit Egon Bahr in Bonn: »E. Bahr äußerte Besorgnis über eine Reihe >extremer Presseveröffentlichungen in der UdSSR<, das Wiederaufleben nationalistischer Stimmungen und Tendenzen sowie das langsame Tempo bei der Verbesserung des Alltagslebens der sowjetischen Werktätigen. Da man noch zu wenig Konkretes über Positives in der Gegenwart und künftig zu Erwartendes berichten könne, würden sich viele sowjetische Intellektuelle und Journalisten offensichtlich im Zuge von >Glasnost< in eine >exzessive Aufarbeitung der Fehler der Vergangenheit und der Verbrechen Stalins< flüchten. Das könne schiefgehen. Die sowjetischen Menschen bräuchten zwar die Wahrheit und Offenheit, die Überwindung von Verkrustungen. Wie sollen sie aber Kraft gewinnen, wenn man die eigenen Leitbilder diskreditiert sieht und die aus dem Westen importierte Ware attraktiver und meist besser als die eigene sei?« So gab Uschner Bahr wieder. Und weiter berichtete er: »Gefährlich für Osteuropa würde der für 1989 zu erwartende westeuropäische Fernsehsatellit, der von Lissabon bis zum Ural 30 Programme ausstrahlen werde.«
Nun wollte ich zwar nicht völlig ausschließen, dass der Bericht für Honecker ein wenig von Egon Bahrs Sicht beeinflusst worden war, doch zweifellos sahen auch realistische Kräfte im Westen die Entwicklung in der Sowjetunion zunehmend kritisch und bedenklich.
Am 19. Januar 1989 trat das Thomas-Müntzer-Komitee in Berlin zusammen. Es war im Vorjahr zur Vorbereitung des 500. Todestages des Reformators und Revolutionärs gegründet worden. Die guten Erfahrungen, die wir diesbezüglich im Luther-Jahr 1983 gesammelt hatten, wurden hier nutzbringend zur Würdigung der Frühbürgerlichen Revolution 1523/24 eingesetzt. Die Zusammenkunft war eine Routineveranstaltung, wenngleich allein die Teilnahme Honeckers sie zu einem gesellschaftlich bedeutenden Ereignis machte.
Die Planung der Sitzung lag in meinen Händen. Sie sah vor, dass Günther Maleuda - Vorsitzender der Demokratischen Bauernpartei (DBD) und Stellvertretender Staatsratsvorsitzender - die Zusammenkunft eröffnen und leiten sollte. Ich hatte allerdings nicht mit der Eitelkeit eines Stellvertreters des Kulturministers gerechnet. Der ehrgeizige Dietmar Keller war im Ministerium zuständig für die Erbepflege und beschwerte sich bei seinem Chef, dass nicht er, sondern Maleuda das Sagen haben sollte.
Minister...
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