Schweitzer Fachinformationen
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»Da ist ein Toter.«
Rafael Martín, 39, Chefredakteur
»Und das in der Mittagspause.«
Ignasi Munné, 32, Polizist
Es knackt in meinen Ohren: das untrügliche Signal, dass wir an Höhe verlieren. Bald kommen wir an. Es kann nicht mehr lange dauern.
Die Seen und Furchen der schneebedeckten Alpen liegen längst hinter uns, der Hafen von Genua, der Golf von Marseille. Nun fliegen wir über die Costa Brava - flitzen, rasen, durchschießen einen mit Wolken betupften Himmel -, und trotzdem ist es, als schwebe das Flugzeug kaum schneller als ein Spatz; jedenfalls langsam genug, damit ich ohne Eile die Landschaft bewundern kann. Ich drücke meine Stirn gegen die Kunststoffscheiben des Kabinenfensters und habe längst aufgegeben, die Buchten zu zählen, die in perfekten Bögen das Wasser anlächeln. Ich bin überrascht, wie grün alles von hier oben aussieht, dass viele Strände, vollkommen isoliert, nur mit Booten erreichbar, und ganze Küstenstreifen unbebaut sind. Ich hatte eine nahtlose Reihe von Betonburgen befürchtet, in Besitz genommen von Gruppen betrunkener Engländer, Holländer, Deutscher, die für einen Spottpreis zum Junggesellenabschied mal kurz rübergeflogen sind. Ich hatte es für möglich gehalten, dass kilometerlange, betonierte Strandpromenaden von älteren, mitteleuropäischen Ehepaaren bevölkert sein könnten, die in Sonderangeboten überwintern. Ich habe mir düstere Berichte angehört: dass alle ehemals hübschen Fischerdörfer, längst entdeckt und dann gemästet, aussehen wie übergewichtige Kinder, deren süße Gesichtchen nicht mehr wiederzuerkennen sind und die plump ihr schönstes Spielzeug zertrampeln.
Doch die Aussicht verspricht Gelassenheit und so etwas wie: Keine Sorge, es ist auch für dich etwas dabei. Hoffe ich zumindest. Ich sehe aus sechstausend Metern Höhe das, was ich mir vorsichtig erträumt habe, und ich rechne fest damit, dass mir in meinem Paradies Pinien und Palmen Schatten spenden werden, sobald ich die Piste geküsst habe und - ja, es fühlen werde. Es anfühlen. Das Land meiner Mutter. Ihre Landschaft. Zum ersten Mal, ausgerechnet jetzt, wo alles zu spät ist. Jemand sagte mal, dass unsere Seele die Form der Landschaft annimmt, die uns geprägt hat, dass sie sich über sie legt, ihre Kanten nachahmt. Ein Künstler war das, ein Filmemacher, einer, der das Innerste der Menschen in ihrer Umgebung gespiegelt zu sehen glaubte. Nun, ich bin keine Künstlerin, und dennoch hoffe ich: Wenn es schon kein Wiedersehen mit meiner Mutter geben kann - niemals wieder -, so vielleicht doch eine Art Begegnung mit etwas, das sie in ihrer Seele trug. Oder so.
Ich seufze. Die Küstenlandschaft unter mir leuchtet in der Sonne, und ich wünschte, ich könnte den Kopf aus dem Fenster stecken, um nichts zu verpassen. Ich kann sie nicht im Einzelnen erkennen, aber ich stelle sie mir vor, die Pinien, wie sie sich über Felsen zum Meer hin beugen und wie ihre Wurzeln ein Muster in die sandige Erde zeichnen. Das Meer ist hier ein weltjunger Mann, el mar, und er liegt dem leuchtenden Strand zu Füßen, der im Süden, wie passend, eine Frau ist: So wie einst mein Vater meiner Mutter zu Füßen lag, um sie dann in seine Heimat zu locken. Ein Abenteuer, das ich nun umgekehrt beginne, wenn auch ohne die Liebe meines Lebens, die mich am Ziel erwartet.
»La platja«, sage ich laut, um meine Zunge wieder an das Katalanische zu gewöhnen, die Sprache meiner Mutter und die meiner Kindheit, und es ist ein plätschernder Genuss: »platscha«, gleitet die Zunge vom Gaumen zu den Zähnen, meine Güte, ich sehe mich jetzt schon kopfüber in die Wellen tauchen, vergesse den Winter, der hier so anders aussieht. Mein Sitznachbar, aufgeweckt von meinen Sprachübungen, lehnt sich mit einem ungenierten Gähnen vor, um ebenfalls einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Sein Atem riecht nach dem an Bord gekauften Käsebrötchen, und noch immer liegen Krümel auf seinem geblümten Urlaubshemd. Ein Optimist, der den Winter gleich zu Hause gelassen hat.
»Na, ob wir pünktlich ankommen«, sagt er, nun doch ein wenig pessimistisch, und es belehrt ihn sogleich der Pilot mit schwer verständlichem, aber charmantem Akzent: Der Anflug hat begonnen, nur noch eine klitzekleine Warteschleife, und wir landen in Barcelona. Dreizehn Uhr fünfundvierzig, Außentemperatur siebzehn Grad, es ist Samstag, der zwölfte Februar. Ein Lautsignal kündigt an, dass die Sicherheitsgurte angeschnallt werden müssen, und der Pilot wünscht uns einen schönen Tag. Ich bedanke mich und murmele gràcies, die Maschine fliegt eine Linkskurve, und wir befinden uns im Blau zwischen Himmel und Meer. Die Passagiere rutschen bereits unruhig auf ihren Sitzen, manche bekommen feuchte Hände oder versuchen, mit zugehaltener Nase den Druck auszugleichen. Noch vor dem Ausschalten der Motoren werden sie wie befreit aufspringen, hektisch ihr Gepäck aus den Fächern zerren und versuchen, sich im Gang vorzudrängeln. Die Stewardessen werden vergeblich anmahnen, sich doch bitte wieder zu setzen, und ich werde weiterhin wie hypnotisiert aus dem Fenster schauen. Ich werde die Geräusche um mich herum ausblenden und mich auf meine feierliche Ankunft konzentrieren, und ich weiß plötzlich, die Befreite bin ich, ich allein, und es fehlen nur noch wenige Minuten, und - Barcelona!
Der Pilot hat seine Schleife gedreht, und ich blicke hinunter auf eine Schönheit eingebettet von Meer und Hügeln, deren Muster von akkurat angelegten sechseckigen Häuserblocks aus den Zeiten des Jugendstils hinunter ins Labyrinth der frühmittelalterlichen Altstadt verläuft: von der Ordnung ins Chaos, in überschaubarer Größe und doch mit unendlich vielen Gassen und Plätzen, deren Namen ich zu Hause vergeblich versucht habe, auswendig zu lernen und die ich ab sofort (wir nähern uns leicht schwankend der Landebahn, die Triebwerke kreischen, die Landeklappen sind ausgefahren, das Fahrwerk ist bereit zum Aufsetzen, jetzt gleich, jetzt, jetzt .) bis in den allerletzten Winkel erobern werde.
Auf die Plätze, fertig, los.
Wie es aussieht, muss ich erst einmal lernen, dass in diesem Land Zeit ein dehnbarer, erweiterter Begriff ist. Übersetzt heißt sie temps, was beides Zeit und Wetter bedeutet, will heißen: schwer einzuschätzen und nur unter Vorbehalt prognostizierbar. Im Moment bin ich also noch auf den Plätzen, denn ich stehe seit einer halben Stunde vor dem Gepäckband Nummer 12 und starre auf die Öffnung, die meinen Koffer freigeben soll. Auf dem Schild, das meinen Flug diesem Band zuordnet, hat sich Glasgow an erste Stelle geschoben, und wir letzten fünf Passagiere aus München tauschen nervöse Blicke aus. Vor dem Reklamationsschalter stehen Kofferwaisen aus Japan, Südamerika und Schweden, und ich versuche mich zu erinnern, ob ich die richtige Telefonnummer auf das Adressschildchen geschrieben habe, und was, wenn nicht, und siehe einer an. Da ist er. Ich rücke vor auf fertig und lade meinen Koffer und den kleinen Rucksack, den ich mit an Bord hatte, auf einen Gepäckwagen. Ich drängle mich durch die Menge und bin plötzlich froh, alleine zu sein, denn die angespannten Paare, die herumturnenden Kinder, die sich um ihren Reiseführer scharenden Gruppen sind anstrengender als das Gefühl der Verlassenheit, das mich beim Durchgehen der Schiebetüren überfällt: Hunderte von Menschen stehen hinter der Absperrung in der Ankunftshalle und warten ungeduldig darauf, ihren Ankömmlingen um den Hals fallen zu können. Sie stehen auf Zehenspitzen, winken, halten Willkommensbanner hoch, rufen Namen.
»Hola Mamà!«
»Cinta, Cinta!«
»Hola Anna!«
»Eh, Joan!«
Mir schießen Tränen in die Augen, aber das kenne ich von mir, das ist die Ergriffenheit: Ich habe es geschafft, ich bin da, sechsunddreißig Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet, könnte das da drüben der Ausgang zum Flughafenbus sein?
»Anna!«, höre ich wieder und freue mich, einen Namen zu tragen, der überall geläufig ist. Ich schiebe meinen Gepäckwagen so rücksichtsvoll es geht durch die Menge in Richtung der Rolltreppen, Anna, Anna, ruft es erneut, und jemand greift mich am Arm, reißt mich an sich und küsst mir die Wangen -
»Sag mal, Frau, bist du taub?«
Ich könnte heulen vor Freude, was heißt könnte. Wir fallen uns in die Arme.
»Du riechst nach Meer«, sage ich, meine Nase in seinen braunen Locken.
»Ich war heute auch schon schwimmen.«
»Um diese Jahreszeit?«
»Jeden Tag, bei Wind und Wetter.«
Wir zwicken einander, strahlen, ich habe noch immer Tränen in den Augen, und Rafael redet auf mich ein, bis wir in seinem Auto sitzen.
»Ich hab gedacht, du kommst nicht mehr, du bist da vielleicht durchmarschiert, ich habe gebrüllt wie ein Verrückter, hast du mich denn nicht gehört? War der Flug O.K.? Wie sah der Pilot aus? Ich stehe ja total auf diese Uniformen. Gut siehst du aus, ist das nicht ein Wahnsinn, ich bleibe das Wochenende bei Quim. Komm, lass dich drücken, ein bisschen Lippenstift könnte dir aber nicht schaden, ich freue mich so, dich zu sehen! Du hast die Wohnung für dich alleine, der Rest wird schon - das kann doch nicht dein Ernst sein, ist das alles, was du dabeihast?«
Mit heruntergekurbelten Fenstern fahren wir in die Stadt. Diese Luft! Wie Weichspüler umgibt sie meine Haut, die die in München unaufhörliche Schlecht-Wetter-Misere misshandelt hat. Die angekündigten siebzehn Grad fühlen sich aufgrund der Luftfeuchtigkeit an wie zwanzig, kein Wölkchen mehr am Himmel, nur Sonne, Sonne, Sonne, dabei gehen in...
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