Schweitzer Fachinformationen
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Meine Mutter, die Sommersprossen hat und unter der Milchstraße lebt: Das ist Aza. Nachts flüsterte ich ihren Namen, ohne sie Mutter nennen zu können, oder Mama, Mutti, Mami, und je öfter ich ihn wiederholte, desto mehr glaubte ich, seinen Sinn zu verstehen. Aza: die mit den Flügeln. Aza, die mich für einen Vogel gehalten haben muss und vielleicht hoffte, ich würde eines Tages dorthin fliegen, wo sie hingezogen war. Aza, die sich geirrt hatte und doch irgendwie recht behielt, am Ende. Ich vermisste sie, noch bevor man mir die Nabelschnur abtrennte - als hätte ich ahnen können, was mich erwartete, nur vier Stunden nach meiner Geburt, in einem Einzelzimmer der Frauenklinik in der Taxisstraße im Münchener Westen.
Aza stieg mit einem schmerzerfüllten Stöhnen aus dem Bett, kroch mit den Zehen in die Flip-Flop-Latschen und nahm mich aus der Wiege. Es war das erste Mal, dass sie mich berührte. Es war auch das erste Mal, dass sie mich anschaute. Sie hatte mich bisher nicht sehen wollen, niemanden hatte sie sehen wollen und sofort die Augen geschlossen, wenn sie herannahende Schritte hörte. Sie verharrte, wenn ihr jemand die Hand auf den Arm legte oder sich etwas hinter ihrem Rücken bewegte, wie die harmlosen, im Duft des Gewitters flatternden Vorhänge. Als mich Schwester Marianne mit quietschenden Sohlen in das Zimmer schob, wollte Aza nichts anderes, als sich zur Wand drehen und auf die Körner der Raufasertapete starren. Sie befühlte mit der Fingerkuppe das Muster, suchte Wege durch die tropfenförmigen Hindernisse und sah in ihren Windungen ein fernes Land mit Tälern und Flüssen.
Nun war sie beinahe zärtlich, wie sie mich hochhob und hielt, als wäre ich die Schale frisch gelegter Eier, die sie früher jede Woche aus dem Hühnerstall der Eltern hatte holen müssen. Vorsichtig setzte sie sich mit mir im Arm auf das Fenstersims, schwang langsam und mit Schweißtröpfchen auf der Stirn die Beine hinaus und ließ, den Schmerz ausatmend, die Füße hinunterbaumeln. Der Blick über die Dächer von Neuhausen war regenfarben: Vereinzelte Sonnenstrahlen schoben sich durch die abziehenden bleiernen Wolken und brachten Dächer und Baumwipfel zum Glänzen. Es roch nach Erde und Rinde. Stare zwitscherten, irgendwo bellte ein Hund, und ein Fahrradfahrer surrte durch die Pfützen über das gewaschene Kopfsteinpflaster. Ansonsten war es still. Doch dann fing es in meinem Magen an zu brummeln und zu ziehen, ich begann - erst fordernd, dann wütend - zu schreien, und wenn ich Atem holte, zuckte mein Körper wie ein nach Luft schnappender Fisch. Meinen lilafarbenen Mund riss ich gierig auf und die Fäuste ballte ich, bis sie blutleer und durchscheinend waren. Aza streckte die Arme, hielt mich plärrendes, rot angelaufenes Bündel von sich, dem Turm der Dom-Pedro-Kirche entgegen. Es war der siebte September 1994, Mittwochnachmittag, sechs Uhr, und als die Kirchenglocke anfing zu läuten, setzte Aza, mich im Takt wiegend, zur Unabhängigkeitshymne an, die einst Kaiser Dom Pedro der Erste für ihr Land komponiert hatte: ». und schon erstrahlt die Freiheit am Horizont Brasiliens, já raiou a liberdade no horizonte do Brasil«. In diesem Moment rutschte ihr der linke Gummilatschen von den Zehen und fiel fünf Stockwerke hinunter ins Gebüsch des schmalen Gartens, der das Krankenhaus umsäumte. Der Latschen leuchtete wie eine fette Blume zwischen den dunklen Blättern des Holunderstrauchs, und noch immer hielt Aza die nun kraftlos zitternden Arme ausgestreckt. Stare zwitscherten wieder, irgendwo bellte der Hund, Schritte hallten über den Bürgersteig, Schwester Marianne stand in der Zimmertür und stieß einen gellenden, bis zur Straße ertönenden Schrei aus, und endlich traf meine Mutter eine Entscheidung.
Ich fiel in Richtung des gelben Flip-Flops, selbst ein bisschen gelb um die Nase. Da ich keine Vergangenheit hatte, die sich wie der berühmte letzte Film vor meinem inneren Auge abspulen konnte, war es die Zukunft, in die ich eine Sekunde lang schauen durfte: Das Grün der spätsommersatten, mitteleuropäischen Kastanienblätter verwischte zu einem Dschungeldickicht, das immer dunkler und undurchdringbarer wurde, ein verschmierter Streifen tropischer Wälder, und ich konnte bereits die Orchideen erschnuppern, die wie Holunderblüten rochen, als ein Paar große, warme Hände mich aus der Luft hinein in einen weiten Bogen riss, um mich wie ein Pendel, immer langsamer werdend und so sanft, wie es eben ging, zur Ruhe zu schaukeln.
Fergus, der sehnige, gerade erst nach München gezogene Rugbyspieler aus Greenwich, sank, mich fest an seine Brust gepresst, in die Knie. Er begann zu zittern. Das war der schönste Up-and-under, den er in seiner Karriere als Fullback Südost-Londons je gefangen hatte, und nur die mich beschnüffelnde Promenadenmischung seiner Freundin, bei der er erst vor ein paar Tagen eingezogen war, wurde Zeuge dieses außerordentlichen Ereignisses.
»What on Earth -?«, fragte Fergus und blickte, eine Antwort suchend, zum Himmel, ungefähr dorthin, wo im fünften Stock Schwester Marianne entsetzt aus dem Fenster lehnte. Er sollte vier Monate später mein Taufpate werden, mein gottgleicher Retter, mein mich beschützender Godfather, aber ich möchte nicht vorgreifen: Noch kniete Fergus auf dem feuchten Rasen unter den Fenstern des linken Flügels der Frauenklinik und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte, als ich, verzweifelt und für immer vergeblich, um eine Brust bettelnd zu krähen begann.
Von Aza blieb nichts zurück, außer dem nutzlosen, rechten Gummilatschen, den sie achtlos in eine Zimmerecke abgeschüttelt hatte, um ihre Turnschuhe anzuziehen. Sie warf sich das Kleid über, das sie getragen hatte, als die Wehen eingesetzt und es Zeit gewesen war, ins Krankenhaus zu fahren.
Keine zehn Stunden waren seitdem vergangen, alles war so schnell vorbei gewesen, so reibungslos verlaufen, welch ein vielversprechender Auftakt, und bei der Eile war es ein Glück, dass die Wohnung nicht weit von der Klinik entfernt lag. Als Aza breitbeinig am Spülbecken stehen geblieben war und sich stöhnend und unter Schmerzen vorbeugte, suchte Paul fahrig in der Flurkommode nach dem Umschlag, in dem er vor Wochen Geld für das Taxi bereitgelegt hatte. Doch er fand nur verrostete Schlüssel, abgebrochene Bleistifte, einen vollgekritzelten Notizblock, ein speckiges Schafkopfdeck, brüchige Gummibänder.
»Wo ist der verdammte Umschlag?«, rief er.
»Welche Sau hat mir das Geld geklaut?«, brüllte er.
Max und Irene schauten aus ihren Zimmern und zuckten mit den Schultern, während Aza schwitzend am Küchentisch lehnte. Sie hielt sich den Bauch, als könnte er ihr jeden Moment abfallen.
»Mensch Paul, jetzt beruhige dich mal«, sagte Max und verschwand im Zimmer, um Sekunden später mit zwei Zehnern herauszukommen. Paul schnappte sich das Geld und die Reisetasche, die seit Tagen und für genau diesen Fall neben der Flurkommode stand. Er schob Aza aus der Wohnung und schlug die Tür so fest hinter sich zu, dass am Schloss ein Stück Holz absplitterte, das bis zur Auflösung unserer Wohngemeinschaft fehlen und ich die nächsten sechs Jahre immer ein bisschen weiter abkratzen würde: Es war die einzige sichtbare Narbe, die Aza hinterließ.
»Isses schon so weit?«, fragte Irene und sah Max gähnend an.
»Wahnsinn, oder?«
In der Aufregung über die bevorstehende Geburt hatte Paul nicht daran gedacht, im Krankenhauszimmer die kleine Reisetasche auszupacken, die deshalb noch immer mit verschlossenem Reißverschluss auf einem der Besucherstühle stand. So war Aza mit einem einzigen Handgriff ausreichend ausgestattet - hatte ihren Pass, ein heimlich eingestecktes, vor einem Jahr gebuchtes Rückflugticket, Portemonnaie, Zahnbürste, Zahnpasta, Hautcreme, Haarbürste, Shampoo, zwei Garnituren Unterwäsche, eine Strickjacke und eine Jogginghose -, um sofort, ohne ein Wort und ohne einen Blick zurück, aus unserem Leben zu verschwinden.
Paul bekam von alldem nichts mit. Er war aus dem Krankenhauszimmer geschlichen, während ich schlief und Aza so tat, als ob, denn er wollte unbedingt an die frische Luft, weg vom Gestank der Desinfektionsmittel, weg vom leichten Gammelgeruch der auf jeder freien Fläche stehenden, von Besuchern mitgebrachten Blumensträuße, weg vom Quietschen der Schwesternschuhe über dem polierten Linoleumboden. Er lief die zwei Straßen zum Café Ruffini runter, bestellte sich einen Kaffee, zog mit dem Wechselgeld eine Packung Zigaretten aus dem Automaten und setzte sich ans Fenster. Es hatte aufgehört zu regnen. Einzelne Tropfen fielen von Dachrinnen, perlten auf Fahrradsätteln, liefen die Fensterscheibe herunter. Aza hatte nicht gewollt, dass er bei der Geburt dabei war, und so hatte er, wie in einer schlechten Komödie aus den Siebzigerjahren, hin- und herlaufend im Flur gewartet, aus dem Fenster rauchend und Kaugummi kauend. Es war ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen, bis Aza endlich, halb bewusstlos und mit wirr auf der Stirn klebenden Haarsträhnen, aus dem Kreißsaal geschoben wurde. Die Hebamme kam, mich in ihren Armen haltend, auf ihn zu, und Paul nahm mich ohne Zögern entgegen. Er hielt mich sicher, als hätte er niemals etwas anderes getan. Er sah mich an und strahlte.
»Meine Tochter«, flüsterte er.
»Meine Kleine«, sagte er und blickte verzückt zur Hebamme.
»Meine Güte. Wie winzig sie ist.«
Dann weinte er ein bisschen vor Rührung, ohne zu wissen, dass er an diesem Tag noch viele Tränen vergießen sollte. In diesem Moment wusste er nur, dass sich alles ändern würde, jetzt schon...
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