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Georg-Büchner-Preis 2025
»Frau Ministerin, ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Sohn.«
Ein radikal gegenwärtiger Roman über die abgründigen Beziehungen zwischen Söhnen und ihren Müttern. Mit einer Sprachkraft, die Staunen macht, erzählt die preisgekrönte Schriftstellerin Ursula Krechel von symbiotischer Mutterschaft, von existenziell gefährdeten Frauen und von politischer Gewalt.
Mit seiner Mutter sprechen zu müssen, ist für den Sohn von Eva Patarak ein Staatsverbrechen. Für Eva hingegen ist es ein Verbrechen, dass ihr Sohn und sie offenbar ausspioniert werden. Welches Ziel verfolgt die Lateinlehrerin Silke Aschauer mit ihrer Observation? Will sie etwa einen Roman schreiben? Bieten die grausamen Familienverhältnisse der Antike, die sie für den Unterricht aufbereitet, nicht ausreichend Stoff für Faszination? Fest steht nur: Silke hält längst nicht alle Fäden in der Hand, denn ihr eigener Körper hat einen blutigen Aufstand gegen sie angezettelt, der sie in die Rolle der Patientin zwingt. In ihrer Ohnmacht wenden sich beide Frauen an die Justizministerin - ohne zu ahnen, in welche Gefahr sie die Staatsvertreterin damit bringen. Ursula Krechel schreibt in ihrem hoch politischen und stilistisch herausragenden Roman eine Kulturgeschichte aller Frauen - von einer römischen Kaisermutter zu einer Studienrätin, von einer Verkäuferin in einem kleinen Kräuterimperium zu einer Ministerin. Es ist die Geschichte ihres Widerstands gegen die Gewalt, die ihnen physisch und psychisch zugemutet wird.
»[Ursula Krechels Bücher bestechen] durch formale Finesse und gedankliche Präzision.«Denis Scheck, Das Erste Druckfrisch, 23. Februar 2025
»Niemand erzählt so formbewusst wie Ursula Krechel.« Andreas Platthaus, FAZ
II
ab ovo
O. K., die Frau mit der roten Mütze bin ich. Als solche bin ich nun einmal eingeführt, als solche habe ich mich selbst eingeführt. Eingeführt, das hört sich an, als hätte ich ein Gleitmittel benutzt, ein befeuchtendes, erzählerisches Gleitmittel. Ich könnte auch sagen: Von der dritten Person bin ich in die erste Person gerutscht, getaumelt. Oder habe ich mich dorthin gehangelt, bin hinaufgeklettert auf den Ast (dann aber doch eher mit Talkum an den Händen) oder hinuntergekrochen in das Kellerloch der ersten Person? Nicht einmal, ob es auf- oder abwärts ging bei diesem Unterfangen, kann ich mit Bestimmtheit sagen. Alle Möglichkeiten müssen in Betracht gezogen werden. Wenn es sich um eine plane Fläche handelt, ist wohl das Verb gleiten angebracht. Habe ich mich aber überschätzt, ist das Erzählen holprig oder steinig gewesen, muss ich mich korrigieren. Ich bin dann wohl blindlings in ein Abenteuer gestolpert, dessen Folge ich nicht übersehen oder leichtfertig ignoriert habe.
Es ist ja so einfach, ich zu sagen. Das Ich liegt auf der Straße, ein inflationäres Glück, das niemand mehr achtet, das jedem selbstverständlich zusteht. Wer nicht fünfunddreißigmal am Tag ich gesagt hat, ist niemand. Jedenfalls glaubt er das. Im ersten Sprechversuch des kleinen Kindes wird mit dem Fingerchen auf die Brust gezeigt und ein Name ausgesprochen: Anna Kita. Kim hamham. Mia müde. Am Anfang war die dritte Person, das Kind mit einem bestimmten Namen, den es sich nicht ausgesucht hat. Ich stelle mir mich als ein kleines Kind vor - mit einem kläglich ausgestreckten Fingerchen: Silke aua. Solange ich mich erinnern kann, mochte ich meinen Vornamen nicht. Später fand ich, dass er schlecht zu meinem Nachnamen passte: Silke Aschauer. Der Vorname nördlich oder nordisch, der Nachname südlich oder eher bayrisch, nicht jüdisch, und in dieser Mischung bin ich in Essen gelandet. Warum habt ihr mich denn Silke genannt?, habe ich meine Eltern voller Vorwurf als junges Mädchen gefragt. Während sie über den Ärmel meines Pullovers strich, antwortete meine Mutter: Silke, das hört sich so seidig an. Als wäre das Neugeborene ein Ersatz für ein Kleidungsstück, das sie nicht hatte, aber gerne gehabt hätte. Eine Streichelbluse, ein Streichelkind. So ist es dann nicht gekommen. Ich hätte gerne einen Namen gehabt, der auf A endet - Eva zum Beispiel, aber ein End-A und ein darauf prallendes Anfangs-A hätte auch nicht gut geklungen. Irma, Ida, ich, Igel, Fuchsteufel, ich in Aschau auf Skiern, alpenländisches Skihaserl, ein Kinderbild, ein Reh frisst mir aus der Hand, ein Reh im Schnee beißt in meine Hand, das habe ich geträumt. Der sympathische Apotheker in Aschau will mir zu meinem Namen kondolieren, als ich die Bisswunde vorzeige.
Am Anfang war kein Ich. Anna Kita. Kim hamham. Mia müde. Silke aua. Und die Eltern reagieren ganz unwillkürlich: Komm zum Papa, Oskarchen. Es ist wie ein Echo. Du sagst nicht ich, und ich antworte nicht als ich. Papa antwortet, und das ist genau, was du brauchst. Oskar will nicht zum Papa. Erst ein Jahr später wird der Vater bitten: Komm zu mir. Es hat lange gedauert, bis aus der Kindersprache ein Ich schlüpft und es nie mehr verlässt. Die Majestät, das Ich, richtet sich auf, setzt sich eine Pappkrone auf, nimmt das Szepter in die Hand und fordert Unterwerfung: Ich will aber, ich weiß nicht, ich mag nicht, ich muss mal, ich habe Hunger: ein ganzes Arsenal an stolzen Bekundungen und Forderungen an Vater und Mutter, ein machtvoller Übergang von der dritten zur ersten Person. Eben haben sie noch die Zahl der Zähne, das aufgeschürfte Knie, Kinderkrankheiten registriert, nun regiert das Ich. Ich bin den umgekehrten Weg gegangen, habe mir eine Mütze übergestülpt, die rote Mütze, habe mich in die dritte Person versetzt. Die dritte Person hat ihre Maske abgenommen, und sieh da: Sie ist nicht nackt, sie hat ein Gesicht, sie hat Haare, die vier Zentimeter lang sind oder besser: streichholzkurz. Oh nein, das ist falsch, gerade habe ich nachgemessen: Ein Streichholz ist ohne den roten Kopf vier Zentimeter lang, also werden meine Haare etwa in einem Monat streichholzlang sein. Aber ich werde mir keines der neuen Haare ausreißen, um seine Länge zu prüfen. Die Maske abnehmen, die Maske abreißen: Als Lateinerin - offiziell bin ich eine klassische Philologin - weiß ich, dass die Maske durchscheinend ist. Personare: Etwas klingt durch, etwas tönt. Das ist nicht die eigene Stimme, kein Ich tönt heraus. Die Maske ist ein Schallverstärker oder Schallschlucker, je nachdem, wie sie gebaut ist. Roter Kopf, rote Mütze, so war es nicht geplant, so hat es sich ergeben.
Zweifelhaft ist aber, ob Ich und Sie dieselbe Person sind (ist). Das muss geprüft werden. Sie behauptet, sie zu sein. Ich behaupte, ich zu sein. Und dann umgekehrt: Sie behauptet, ich zu sein. Ich behaupte, sie zu sein. Behauptung, Schlussfolgerung, Selbstbehauptung. Als ich Latein lernte, begriff ich mit großer Freude: Satzteile sind Eisenbahnwaggons, die aneinandergekoppelt werden. Die Reihenfolge kann geändert werden. Schreibend kann ich mit Zügen rangieren, und sie entgleisen nicht. Der Zug hält, ich habe ihn gebremst, einen Punkt gesetzt. Weitere Waggons werden abgekoppelt, die Zugteile getrennt. Jeder hat nun ein anderes Ziel. Es machte mir großes Vergnügen, die Sprache aus den Waggons noch weiter in die Abteile zu verlegen, Plätze zu reservieren, Passagiere hineinzusetzen. Und am Ende war es wieder ein Zug, der vielleicht hier und dort hielt, Verspätungen einfuhr oder nach einer Nachtfahrt an seinem Ziel sicher ankam, in die Waschanlage gerollt wurde und morgen wieder abfuhr, ein Zug mit lauter Satzteilen, ein im schönen Rhythmus rollender Sprachzug, der sich mit der noch im Nebel steckenden Vorstellung von der deutschen Grammatik kreuzte. Der eine Zug wartete auf den anderen, keine sonderliche Verspätung. Ich war unbändig stolz auf diese Erkenntnis, die mir wie eine sinnliche Erfahrung vorkam, und das war sie ja auch. Auch deshalb habe ich klassische Philologie studiert; es war die Initialzündung.
Ich habe Dichter gelesen und nicht nur die, auch Tacitus, der eine breite Spur gelassen hat, während ich als Lateinschülerin mit Caesar, De bello Gallico gequält wurde. Immerhin habe ich mit Caesar mein erstes eigenes Geld verdient. Ja, der Feldherr rückte sich selbst ins blendende Licht, römische Urängste gegen die Germanen wurden geschürt, die Gallier gegen die Germanen ausgespielt. Die Caesar-Lektüre galt als leicht. Leicht für wen? Leicht für Militaristen, kalte Krieger. Drill ist die Voraussetzung. Drill machte aus Schülern und Schülerinnen unkritische Erwachsene - oder Verweigerer, an denen der Schulunterricht insgesamt abprallte. Das konnte die jugendliche Nachhilfelehrerin noch nicht wissen. An meinem Tisch saßen Nachhilfeschülerinnen, denen ich auf der Landkarte gezeigt hatte: Dieser Textabschnitt ist hier angesiedelt, bei deinen und meinen Vorfahren. Du bist gemeint. Kapier es doch. Du bist wild, du kannst Allianzen schmieden. Was ich nicht sagte: Du kannst tückisch sein. Du kannst verletzen, ja, töten. Was Caesar über die Germanen behauptet, steckt in deinen Genen. Das war vielleicht übertrieben. Heute würde ich sagen: Deine Vor-, Vor-, Vorfahren spiegeln sich im fremden römischen Blick. Aber auch: Der römische Blick ist ein gewaltsamer Blick einer Kolonialmacht auf alles, was Rom bedrohen könnte. Damit hätte ich kaum eine Schülerin begeistern können. Ungläubiges Staunen, Zögern, Missmut, vielleicht eine Überforderung. Grammatik und Krieg. Krieg den Palästen, Krieg der Grammatik, gerechtfertigte Verteidigung gegen den grausamen, rücksichtslosen Angriffskrieg der Schule gegen die Interessen der Jugendlichen, besonders die der Mädchen. Der Feldherr rückt sich selbst ins rechte Licht, bedient die römischen Urängste, nicht mehr Nummer eins in der vorstellbaren Welt zu sein. Sie drucksten herum, noch ein Monat Unterricht, noch einmal Geldscheine, die in einem Briefumschlag mit den Grüßen der Mutter steckten, dann das Zeugnis, ein Anruf der Mutter. Nein, das Kind hat wirklich keine Begabung für Latein. Und es folgte die kleine Witzelei, die von Vätern und Müttern seit Generationen zu Tode gerittene Redensart: Da bin ich mit meinem Latein am Ende. Tote Sprache, tote Hose, aber das Französische oder das Wahlfach Spanisch, beides ist noch ausbaufähig. Und vielen Dank. Du hast dir ja sehr viel Mühe mit meiner Tochter gegeben, und das war's. Dagegen klagte meine Mutter, dass die Nachhilfeschülerinnen Dreck in die Wohnung trugen. Heute würden die Nachhilfeschülerinnen höflich ihre Schuhe ausziehen und auf Socken schleichen. So viele Winterstiefel, so wenige Socken, so viele Mädchen, so viele gelangweilte, hilflose Blicke, so viel nervöse Fummelei an den Haarsträhnen, so viele Fehlentscheidungen. Immerhin habe ich mich selbst, sprechend und erste Lehrerfahrungen sammelnd, stimuliert. Wenn ich später vor einer Klasse stand und meine Begeisterung mitteilte - die Grammatik der lateinischen Sprache sei ein wundervoller Werkzeugkasten mit allerhand Schraubschlüsseln, kleinen Zangen und Pinzetten -, so kam das nicht sonderlich gut an; ich ließ es und baue deshalb an dieser Stelle dem Werkzeugkasten ein kleines Denkmal.
In der Nacht träumte ich von lauter Kopffüßlern, die Köpfe waren haarlos, schrumpelig wie Rosinen, hatten scharfe Kerben oder Gesichtsfalten von der Trockenheit. Die Augenpartie war verschwollen, gequollen,...
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