Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ich schlich mich aus den Scheinwerferkegeln, als hätte ich wen umgebracht und müsse untertauchen. Bei Nacht und Spätnovembernebel. Das war geil und aufregend. Plötzlich ein völlig anderer zu sein, mit neu geschnitzten Kulissen um mich her. Ein anderes Schauspiel, eine Premiere, beinahe improvisiert, mit ungewissem Ausgang. Alles wurde bar bezahlt, ich nahm Züge und Fähren, um kein Flugticket kaufen zu müssen. Es gab keine Pressemitteilung, keinen Brief, keine SMS. Niemand wußte Bescheid, nicht mal Helen oder sonstwer aus dem Team. Man hielt mich für tot oder verschleppt, wartete auf den Fund meiner Leiche oder wenigstens auf eine Lösegeldforderung. Viele Zeitungen verzierten sich auf Seite eins mit meinem Bild. Die Welt rätselte.
Anfang Dezember kam ich in Alta an, wo ich beim Gebrauchtwagenhändler einen schrottigen Pick-up abholte. Meine Tarnung bestand aus Brille, Vollbart und platinblond gefärbtem Haar. Die Hütte wie auch der Pick-up waren über einen Strohmann bezahlt, der nicht wußte, wer ihn beauftragt hatte. Alta liegt in Nordnorwegen. Das klingt eisig, aber die Wintertemperaturen dort sind milder, als man gemeinhin vermutet.
Auf meinem Weg dorthin habe ich ein paar Tage in Trondheim verbracht und die Hessdalenlichter beobachtet. Gehen Sie Hessdalenlichter googeln, und fahren Sie im nächsten Urlaub mal hin, es lohnt sich. Noch immer gibt es keine plausible wissenschaftliche Erklärung für das Phänomen. Für diejenigen, die zu faul sind, um zu googeln: Es handelt sich um Lichter in vielerlei Gestalt, rund, dreieckig oder unregelmäßig, die sich über den Himmel bewegen und manchmal bis zu einer Stunde an einem Punkt verharren. Ein nächtliches Schauspiel, das mich wie Magie berührt hat, und ich meine echte, sakrale Magie, nicht irgendeinen raffiniert ausgetüftelten Taschenspielertrick, der nur auf der Täuschung unsrer Sinne basiert, vulgo auf unserer Tölpelhaftigkeit. Googeln Sie vulgo, wenn Sie der geistigen Unterschicht angehören.
Eine ganze Nacht und die Hälfte der nächsten hab ich im Freien auf meinem Tripod-Klappstuhl gesessen und Lichter angestarrt, von denen manche sagen, es handle sich um Ufos, was Blödsinn ist; andere glauben, es seien die Seelen von Toten, die aus der Unterwelt heraufsteigen, um noch einmal zu tanzen. Das klingt immerhin erbaulich. Physiker reden von Plasmawellen infolge seismischer Tätigkeit, sie sagen, Tal und Fluß könnten wie eine gewaltige natürliche Batterie wirken, blabla - damit kann längst nicht alles erklärt werden. Die Lichter lösten eine feierliche Stimmung in mir aus, feierlich bis euphorisch, aber auch schicksalhaft. Oder was man so nennt. Wie erkläre ich das? Es ist ungefähr so, als ob man mit Napoleonhut am Morgen der Schlacht auf einem schnaubenden Schimmel an den eigenen Soldaten entlangreitet und alle jubeln, obwohl sehr viele von ihnen sterben werden. Über Kopfhörer kamen die Symphonien Anton Bruckners dazu, und ich fühlte mich in meinem Plan entscheidend bestärkt. Weiter nach Norden, ans Ende Europas. In die Einsamkeit.
Jetzt gehen Sie mal für zwanzig Minuten ins Zimmer mit der besten Akustik und hören sich den letzten Satz von Bruckners Neunter an. Die Fingerspitzen von Mensch und Gott berühren sich. Michelangelo hat es gemalt, Bruckner hat's komponiert. Danach machen wir mit Alta weiter. Los, gehen Sie! Verpissen Sie sich.
Willkommen zurück. Entschuldigung für meine Unhöflichkeit, für meinen Befehlston eben. Das hab ich manchmal, und es geht schnell wieder weg. Oft wird es als Feindseligkeit mißverstanden, aber es ist nur so etwas wie eine Eruption, ein kurzes Zucken, ein Defizit an Kontrolle, man sollte es vielleicht gar nicht erwähnen.
Von Alta aus fuhr ich mit dem Pick-up ungefähr hundert Kilometer in Richtung Wald, wo ich den Wagen stehenließ und noch etwa zwei Kilometer durch Schnee und Gehölz marschierte, bis zur Hütte, die einen guten Eindruck machte. Zwei Tonnen kleingehackte Scheite lagen aufgestapelt im Freien. Damit mußte ich durch den Winter kommen. Die Chance, hier in den kommenden Monaten einem Menschen zu begegnen, schien mir gering. Mein Handy war ein Prepaid-Smartphone, nicht auf meinen Namen registriert oder sonst in irgendeiner Weise mit meiner Identität verbunden. Ich mußte sicherstellen, daß ich mich nicht in einem verrückten oder betrunkenen Augenblick in irgendein Netzwerk einloggen würde. Also hab ich das Handy vergraben und versucht, mir die Stelle nicht zu merken. Das Kabel des Aufladegeräts mit der Schere zu durchschneiden war Rubikon pur. (Googeln Sie Rubikon oder Cäsar.) Selbst im Notfall wäre mir keine Möglichkeit geblieben, die Zivilisation um Hilfe zu rufen. Das war der Kick. Es gab in der Hütte keinen Strom. Wasser mußte auf dem Ofen heiß gemacht werden. Lebensmittelvorräte gab es in Form von Hunderten Konservendosen sowie Säcken mit Reis und Nudeln, die in einem kleinen Schuppen hinter der Hütte lagerten. Ich besaß, um gelegentlich etwas von der Welt zu erfahren, ein Kurzwellenradio und genügend Batterien dafür, aber keine Rückversicherung in Form etwa eines Funkgeräts. Die Hütte mochte einem Jäger gehört haben, ein Gewehr stand herum, mit zwei Kistchen Schrotmunition. Eine Axt. Eine sehr schöne Axt. Falls mir das Holz ausgehen würde, konnte ich neues schlagen. Außerdem besaß ich zwei dicke Thermoschlafsäcke. Hatte auch Medikamente und etliche Kisten Rotwein, sogar ein paar Flaschen Schnaps, auf die ich mich wie ein Trunkenbold freute, gerade weil sie mir in meinem Beruf so streng verboten sind. An frisches Gemüse oder Obst (abgesehen von einigen Zitronen) war nicht zu denken, auch nicht an Fleisch oder Fisch, es sei denn, ich wäre auf die Jagd gegangen oder hätte im nahen Bach geangelt. Daß ich meinem Körper mit der Konservennahrung keinen guten Dienst erweisen würde, machte mir ein schlechtes Gewissen, ein bißchen, ich will nicht übertreiben.
Sehr hat mich gewundert - und wenn ich ehrlich bin, hat es meiner Eitelkeit schon enorm gefallen -, welches Aufsehen mein Verschwinden erregte, als wäre ich jemand, um den getrauert werden muß. Nicht viel hätte gefehlt, und ich hätte meine Nachrufe lesen können. Wer möchte das nicht? Von seiten der Frafls Zuspruch und Trost erfahren am Ende der Existenz, bevor es zurückgeht ins Nichts.
Von nun an, dank des Radios, konnte ich nur noch »wichtige« Nachrichten empfangen. Also nichts mehr über »mich«. Keine Fan-Foren mehr. Kein Handy-Gedaddel. Null Kommunikation, null Bestätigung. Anfangs tat es weh. Die Langeweile hinter der großen Stille würgte mich wie eine Schlange, die zu grausam ist, um mit ihrem Opfer schnell Schluß zu machen, die erst noch spielen und quälen will. Die Tierschützer werden mir jetzt sagen, daß Schlangen weder grausam sind noch mit ihren Opfern spielen. Tja. Nehmen wir statt dessen Würgekatzen. Ab sofort gibt es Würgekatzen.
Nachts versuchte ich, die dicken Bücher zu lesen, auf die ich mich sehr gefreut, die ich mir mein Leben lang vorgenommen hatte, konnte mich aber nicht konzentrieren, mein Blick verirrte sich ständig ins Leere, mein Kopf glich einem Taubenschlag. Umherflatternde Gedanken. Die Sucht nach Bildschirmaction. Selbst ein uraltes Tetris-Spiel wäre mir willkommen gewesen. So stelle ich mir den kalten Entzug vor. Am dritten Tag grub ich nach meinem Handy, fand es auch, aber die Kälte und die Feuchtigkeit hatten es bereits unbrauchbar gemacht. Zum Glück. Auch der Wagen sprang nicht mehr an. Genau, wie ich es geplant hatte. Er knurrte nicht mal. Die Falle war zugeschnappt. Meine Falle. Eine Falle für mich ganz allein. So war das also. Ich würde im Frühling gute hundert Kilometer zu Fuß zurücklegen müssen, um zurückzukehren. Zwei Tagesmärsche samt Übernachtung in einem Zelt im Freien. Es würde die Krönung einer ganzen Reihe von Selbstkasteiungen sein.
Gedanken um zurückgelassene Frafls, die sich aus Sorge um mich die Augen ausweinen würden, machte ich mir keine. Es ist ja so: Viele verehren mich, ohne mich zu kennen. Niemand, der mich kennt, liebt mich, soweit ich weiß. Dabei bin ich kein schlechter Mensch, und meistens, allermeistens, kann man sich auf mich verlassen. Aber bei zehn Milliarden Menschen auf der Welt ist jeder verzicht- und ersetzbar. Das Team Berlin würde mich vermissen, ganz sicher, würde mich betrauern, vielleicht sogar für mich beten - und meine Position neu casten, für den Worst Case. Shasha würde sich an einen neuen Spog gewöhnen müssen.
Würde ich ernsthaft krank werden, ohne Aussicht auf Heilung, konnte ich das Gewehr benutzen, um mich von etwaigen Schmerzen zu befreien. Mein Kopf würde in Fetzen durch die Gegend fliegen. Man würde meinen kopflosen Leichnam finden und ihm - sehr wahrscheinlich - nie einen Namen zuordnen können. Mein Verschwinden würde ein ewiges Mysterium bleiben. Das hatte was.
Nach einigen Tagen begann die große Zeit. Weil mir die Zeit verlorenging oder ich der Zeit, das kann man so und so betrachten. Nach der Langeweile kam ein neues Bewußtsein. Eine neue, überwältigende Klarheit. Es fühlte sich erlösend an, als wäre man einen gewaltigen Brummschädel durch Einnahme von Super-Aspirin losgeworden. Man denkt über sich ganz neu und anders nach. Das Denken erhebt sich über den eigenen Kopf, schwebt drei Meter darüber und betrachtet alles gleichsam von oben, wie bei einer Nahtoderfahrung, wenn die Seele über dem OP-Tisch an der Decke klebt. Ich wurde zum Sieger, dann zum Herrscher. Und endlich kam das Glück. Mit Temperaturen um minus 15 Grad und tagelangem Schneefall. Sobald die Flucht komplett unrealistisch geworden war. Wie ein Leuchten fließt das Glück in einen hinein. Alles, was ist, ist viel mehr als...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.