Schweitzer Fachinformationen
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Als Franz Neumann am Morgen des 24. April 1945 im Berliner Ortsteil Wittenau aufwachte, sah er Panzer der Roten Armee auf den Straßen. Über Nacht war das »Tausendjährige Reich« aus diesem Teil des Nord-Berliner Bezirks Reinickendorf verschwunden. Neumanns Erleichterung war größer als jegliche Unsicherheit über die Zukunft. Der gelernte Schlosser, Jahrgang 1904, war in der Berliner Arbeiterbewegung verwurzelt. Im Zuge der Revolution von 1918 hatte er sich der SPD-Jugendorganisation angeschlossen, der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ). Seine Leidenschaft für Basispolitik machte ihn in den Jahren der Weimarer Republik zum Vollzeit-Aktivisten und schließlich zum Spitzenkandidaten der Reinickendorfer SPD bei den letzten freien Kommunalwahlen im März 1933. Nach der Machtübernahme der NSDAP wurde er sofort von den Nationalsozialisten ins Visier genommen, zu 30 Monaten Gefängnis verurteilt und im berüchtigten Columbia-Haus gefoltert, einem provisorischen Konzentrationslager, das später für den Ausbau des Flughafens Tempelhof abgerissen wurde. Nach seiner Entlassung im Jahr 1935 stellte er sein offenes politisches Engagement ein und verdiente seinen Lebensunterhalt als Metallarbeiter in einer Fabrik.23
Nach der Befreiung Berlins 1945 setzte sich Neumann trotz aller Widrigkeiten einer zerstörten Stadt erneut aktiv für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in seinem Umfeld ein. Er nahm sofort Kontakt mit alten sozialdemokratischen Genossen auf, um das Nötigste zum Leben zu beschaffen und Beziehungen zu den sowjetischen Besatzern aufzubauen. Mit Hilfe örtlicher Kommunisten überzeugte Neumann die Sowjets vom sozialistischen Charakter seiner Wohnungsgenossenschaft. Er beschaffte und stellte Schilder auf, auf denen in deutscher und russischer Sprache zu lesen war, dass seine Wohngegend aus »sozialistische[n] Arbeiterwohnungen« bestehe - womit die Nachbarschaft fortan von jeglichen sowjetischen Vergeltungsmaßnahmen ausgenommen war.24 Mit diesem entschlossenen Einsatz gelang es Neumann, sowohl die einst dominierende Berliner SPD als auch seine eigene politische Karriere wiederzubeleben.
Aber Wittenaus erstaunlich reibungsloser Übergang zum Frieden war eine Ausnahmeerscheinung: In weiten Teilen der Stadt fand das NS-Regime erst nach heftigen Kampfhandlungen ein Ende. Die konstruktive Zusammenarbeit, die Neumann in Wittenau zwischen sowjetischen Besatzern, deutschen Kommunisten und Sozialdemokraten im April 1945 erlebte, ließ nicht ahnen, dass er innerhalb eines Jahres zu einem der exponiertesten Kritiker der Sowjetunion in Berlin avancieren sollte: Als Verteidiger der Unabhängigkeit der Berliner SPD gegen einen von der UdSSR geplanten kommunistischen Übernahmeversuch gelangte Neumann rasch zu großer Bekanntheit. Die amerikanischen, britischen und französischen Truppen, die West-Berlin bald in eine liberal-demokratische Enklave verwandeln sollten, trafen erst acht Wochen nach den Sowjets ein. Und auch die hier im Fokus stehenden Propagandisten der Freiheit, die die politische Kultur West-Berlins in den kommenden Jahren entscheidend prägen sollten, waren noch nicht aus dem Exil zurückgekehrt. Als sie schließlich nach und nach in Berlin ankamen, mussten sie sich mit den vielfältigen Konsequenzen der Ereignisse des Frühjahrs 1945 auseinandersetzen. Mehr noch, die turbulenten Entwicklungen in Berlin zwischen 1945 und 1948 veranlassten die Mitglieder des Netzwerks zur verstärkten Zusammenarbeit.
Als Neumann und seine Genossen im April 1945 in Reinickendorf mit dem Wiederaufbau begannen, hatte das »Dritte Reich« noch nicht kapituliert, obwohl seine Niederlage längst besiegelt war. Gerade hatte die Schlacht um Berlin im zentralen Stadtteil Mitte in voller Stärke begonnen.25 Adolf Hitler und sein persönlicher Stab verschanzten sich im Bunker unter der Reichskanzlei und machten verzweifelte Schlachtpläne für bereits überrannte Stellungen. Zwei sowjetische Armeegruppen waren im Anmarsch auf das Stadtzentrum, um das Gebiet innerhalb der Ringbahn einzukesseln. Die Wehrmacht trieb hastig ein Aufgebot an Verteidigern zusammen, während umherziehende SS-Kommandos mutmaßliche Deserteure und »Defätisten« ermordeten.26
Marschall Georgi Schukow konnte mehr als 2,5 Millionen Soldaten und 6.200 Panzer aufbringen, aber dennoch musste er den größten jemals durchgeführten Angriff auf eine Stadt anordnen, um die Niederlage des »Dritten Reiches« zu vollenden.27 Der Verlust an Menschenleben und materiellen Gütern in der Schlacht auf den Straßen Berlins war immens. Die westlichen Alliierten hatten die Stadt bereits in den Jahren zuvor durch Luftangriffe zermürbt; der nun geführte Häuserkampf trug zur weiteren Verwüstung von Wohnvierteln bei. Die Innenstadt wurde besonders stark zerstört: 70 Prozent der Gebäude wurden irreparabel beschädigt. Nach dreiwöchigen Gefechten verzeichnete die sowjetische Armee 352.475 Tote, während die Zahl toter Soldaten auf deutscher Seite Schätzungen zufolge zwischen 92.000 und »mit Sicherheit weit über 100.000« lag.28 Als sowjetische Kommandosoldaten die verkohlten Leichen von Adolf Hitler und Joseph Goebbels in der Ruinenlandschaft fanden, war mit der Schlacht um Berlin auch der Krieg in Europa faktisch beendet.
Für die in Berlin zusammengedrängten 4,43 Millionen Menschen war das apokalyptische Ende des »Dritten Reiches« eine ambivalente Befreiung. Zwar bedeutete der Zusammenbruch des NS-Regimes für die Berliner eine Rückkehr zum Frieden, aber nach Jahren des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion waren sie nun den Vergeltungsmaßnahmen der Roten Armee ausgesetzt. Für Tausende sogenannter Fremdarbeiter - aus ganz Europa verschleppte Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen - bedeutete der sowjetische Sieg zwar das Ende ihrer Ausbeutung für die nationalsozialistische Kriegsmaschinerie, aber in der Mehrzahl galten diese Zwangsarbeiter, die aus von der UdSSR beanspruchten Gebieten stammten, den Sowjets als Verräter und wurden entsprechend behandelt.
Am 9. Mai 1945, dem Tag der offiziellen Kapitulation NS-Deutschlands in Berlin-Karlshorst, ahnten weder die Berliner noch die sowjetischen Sieger oder die westalliierten Beobachter, dass auf die Stadt eine neue Rolle im Brennpunkt weltpolitischer Auseinandersetzungen wartete. Berlin, zu jener Zeit die drittgrößte Stadt der Welt, war schlicht die Trophäe der Sowjets im Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland. Die USA, die im Laufe der folgenden Jahre eine emotionale Beziehung zu der Stadt entwickeln sollten, hatten noch keine Kampftruppen vor Ort; die nächsten Stellungen der US-Armee befanden sich in Dessau am linken Elbufer, etwa 130 Kilometer südwestlich von Berlin.29 Tatkräftige, durch und durch demokratische Führungspersönlichkeiten wie Franz Neumann waren dünn gesät, und so gab es kaum Anzeichen dafür, dass in den Straßen Berlins bald ein Kampf um die Demokratie im Nachkriegsdeutschland ausgetragen werden sollte.
Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die turbulenten Nachkriegsjahre der Stadt. In den drei Jahren zwischen der Schlacht um Berlin im April 1945 und der im Juni 1948 beginnenden sowjetischen Blockade der Westsektoren wandelte sich die Metropole von einem sowjetischen Symbol des Sieges über den Nationalsozialismus zu einem Brennpunkt des rasch eskalierenden Kalten Krieges. Diese einzigartigen Nachkriegsumstände ermöglichten es dem Remigranten-Netzwerk, Hitlers Reichshauptstadt als Vorposten der Freiheit neu zu erfinden. Zur Erklärung dieser Entwicklung beleuchtet dieses Kapitel, wie die Sieger ein gewisses Maß an städtischem Alltagsleben wiederherstellten, welche Auswirkungen die sich zunehmend verschlechternden Beziehungen der Alliierten untereinander auf Berlin hatten und warum es die Mitglieder des Netzwerks im Sog des beginnenden Kalten Krieges als leidenschaftliche Verfechter der Freiheit in die westlichen Sektoren der Stadt zog.
Mit dem sowjetischen Sieg in Berlin war der Krieg in Europa beendet, aber über die Friedensbedingungen gab es keine Klarheit. Um eine gemeinsame Grundlage zu finden, trafen sich die Staatschefs der »Großen Drei« vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 ...
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