Schweitzer Fachinformationen
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»Herrgottsakrament!«
Mit diesem Fluch fährt der Josef Sandner aus dem Schlaf hoch. Das wirft gleich ein schlechtes Licht auf ihn. Dabei ist er sonst keiner, der jeden Morgen die Augen aufmacht und sofort losschimpft wie eine paranoide Amsel im Hinterhof. Da er seit vierundvierzig Jahren mit sich auskommen muss, ist ihm sonnenklar – einmal aufgewacht, hat er bei Morpheus ausgespielt. Kein Weg zurück in erholsamen Schlummer.
Die morgendliche Verwünschung hat demnach der frühen Uhrzeit gegolten. Sonntag, und es ist gerade mal halb acht. Quasi mitten in der Nacht für den Sandner. Die Zeit ist schon oft verflucht worden, die kratzt das nicht eine Sekunde.
Ein zeitiger Weckruf am Wochenende kommt immer ungelegen. Irgendwo lässt jemand den Rasenstutzer aufheulen oder haut die Tür ins Schloss, und du bist wach – mittels einer akustischen Banalität.
Überhaupt, das Banale. An sich ist so ein gewöhnlicher Tag ja keine Telenovela mit aneinandergereihten Höhepunkten bis zur totalen Ermattung. Von wegen, lebe deinen Traum und Pipapo. Wenn du nicht gerade Alexander der Große bist, warten in der Schlange vor der Tageskasse allenfalls biedere Momente – von den bitteren ganz zu schweigen. Und falls sich ein denkwürdiges Ereignis vordrängelt, musst du Schwein haben, dass es keine Tarnkappe aufhat.
Aber es gibt im Leben vom Sandner Tage, da weiß er, heute kommt etwas Besonderes. Ein erhobener Zeigefinger vom Schicksal. Pass auf, den Tag unterstreich dir fett, und stell kein Weinglas auf den Boden! In der Retrospektive ist ihm dann allerdings öfter aufgegangen, das hat wieder nur der Mittelfinger gewesen sein können.
Heute allerdings hätte das Schicksal am liebsten beide Finger genommen und damit einen Pfiff herausgelassen, der dem Sandner mindestens einen Tinnitus beschert, aber da brauchst du Übung. So einen Tag mit einem Fluch einzuläuten, das hat schon prophetischen Charakter.
Von Vorfreude beim Sandner naturgemäß keine Spur. Der Mann ist Hauptkommissar bei der Münchner Mordkommission, genauer K11, vorsätzliche Tötungsdelikte. Qua beruflicher Definition geht ein besonderer Tag für ihn einher mit dem letzten Seufzer eines Unglückseligen. Und privat? Tendenz Mittelfinger. Er fragt sich, wie viel Zeit ihm noch bleibt, bevor es losgehen wird. Man sagt ja gern, jemand hat einen Riecher dafür, oder der hätte das im Urin.
Als der Sandner vor Jahren in Kalifornien war, damals noch mit der Corina, hat er sich mit den Mordraten vor Ort beschäftigt. Statistik, schon wissenswert. Da hat er nicht aus seiner Haut gekonnt. Wenn so ein Police Officer in Oakland in der Früh aufgewacht war, brauchte der nicht erst in seinem Morgenstrahl zu lesen – da gab es nur ein Fragezeichen: Wo würde man heute die rote Nadel in den perforierten Stadtplan picken? Damit hast du in München nicht täglich zu rechnen, statistisch.
Doch für unseren Hauptkommissar passt heute alles zusammen. Der Meininger ist krankgeschrieben, wegen eines Unfalls in eigener Werkstatt. Der Meininger, beseelt von der Idee, sich ein Boot zu bauen. Dazu ist nicht jeder berufen. Wobei das in puncto Sinnsuche natürlich schon als Versuch gilt.
Der Hauptkommissar Meininger und der Sandner sind im gleichen Alter. Mit Mitte vierzig brauchst du manchmal einen neuen Anstoß. Körperlich und für den Geist sowieso. Körperlich ist der Sandner, anders als der Meininger, der schon Wert auf massive Planken legen muss beim Schiffsbau, noch ganz gut beieinander. Er ist so ein Hagerer, Drahtiger, nur aus den Falten in den Augenwinkeln und dem leichten Bauchansatz kann man das Alter herauslesen.
Die Corina war partout der Meinung gewesen, er hätte sich aufpeppen sollen, »altersgemäß« – weg mit den Jeans und den schwarzen T-Shirts, da hatte sie sich an ihm abgearbeitet.
Das Projekt war furios gescheitert. Die gestreiften Hemden und ihre Karopullis könnte sie getrost dem Neuen anhexen.
In ihrer gemeinsamen Zeit hatte er wöchentlich ein Corpus Delicti im Kleiderschrank aufgefunden, als hätten sich über Nacht bei ihm die Heinzelmännchen über Kaschmirschafe hergemacht. Und immer wieder Blau – weil das so gut zu seinen blaugrauen Augen passen täte.
Die Leute von der Caritas-Kleiderkammer hatten immer ihre helle Freude daran gehabt. Lieber harmonisch betrinken. Asche zu Asche, Blau zu Blau. Musikalisch betrachtet ist der Sandner eben weniger Streichquartett, mehr Independent.
Seine strubbeligen Haare haben zwar in rapidem Tempo vom Dunkelbraun zum Grau wechselt. Den Alterungsprozess hat er jedoch weitgehend an der optischen Differenz zwischen Morgen und Abend wahrgenommen, beim Tête-à-tête mit dem Badspiegel. Dass er beim Rasieren höllisch aufpassen musste, so zerknautscht, mit all den Schluchten und Tälern in der Früh. Als ob über Nacht die Luft rausgezischt wäre, und unter Tag würde er sich wieder aufpumpen. Und die geistige Herausforderung? Er war noch lange nicht bereit, sich wie der Meininger, den »Noah von Haching« nennen zu lassen. Und weil der Hachinger Noah, möglicherweise wegen schlechten Wetters, fahrig hantiert hat mit der Flachdechsel, ahnt der Sandner, dass er diesen Sonntag keinen Freizeitstress haben wird.
Morde passieren gern an Wochenenden. Der Mensch hat einfach unter der Woche keine Zeit dafür, wegen der Arbeit, den S-Bahn-Verspätungen und Pipapo. Am Wochenende spannt man aus, geht ins Kino, ins Stadion, oder denkt sich, mei, wieder ein fader Sonntag, ich hab Muße, bring ich halt wen um. Mag sein, wegen dem Fußball, aber angenommen, du wohnst in Giesing und fieberst mit den Löwen, wie der Sandner, bist du eh jedes Wochenende suizidgefährdet.
Mörderische Energie allein reicht natürlich nicht, Talent ist gefragt. Da fehlt oft die fundierte Ausbildung, der Master of Murder-Arts, es sei denn, du hast in einer abgelegenen Wüstenregion oder dem geheimen chinesischen Kloster für den Feinschliff geschwitzt. Ansonsten ist die Spurensicherung auf Champions-League-Niveau – und so ein unbedarfter, weil ungelernter Mörder spielt meist in der Kreisklasse. Eine Prise Luminol und Genetik, null zu zwei, ausgeschieden.
Trotzdem wäre es unvorsichtig zu behaupten, es gäbe keine phantasiebegabten Leut mit mörderischem Esprit, wo du nur hoffen kannst, deine physische Präsenz stößt denen nicht sauer auf – die Hoffnung stirbt bekanntlich immer zuletzt.
Das verbrecherische Gedankengut wirbelt dem Sandner im Kopf herum, wie Herbstblätter im Sturm, während er quasi auf Autopilot in die Küche schlappt, hin zu seiner Kaffeemaschine. Saecco, ein Geschenk der Tochter Sanne zum Vierzigsten. Auf Knopfdruck strömt der Espresso. Der Duft röstfrischer Bohnen breitet sich im Zimmer aus. Wenn es nur mit dem Kopf ähnlich funktionieren könnte, für den Sandner. Bräuchte er mal einen gescheiten Gedanken – alles per Knopfdruck. Kekse dazu und Ruhe.
Ein Komposthaufen gibt bei ihm zurzeit das Hirn. Das kann kein Zufall sein. Erst gestern Abend hat er im Baumarkt den neuen Lebensbereicherer von der Corina getroffen. Es hat mit ihnen nicht funktioniert, akzeptiert – aber ausgerechnet mit dem Staatsanwalt Doktor Wenzel? Nicht nur, dass sich ihre Wege immer wieder kreuzen müssen – allein die Vorstellung, wie der Wenzel mit seinen weißen Spinnenfingern der Corina den BH aufhakelt – zum Speien. Da würde manch einer in der Eisenwarenabteilung doch ein wenig länger stehen bleiben und sinnieren.
Der Doktor Wenzel hatte ihn auch gesehen, mit dem Kopf genickt und auf seine herablassende Art geschaut – es gibt Menschen, die brauchen nur mit einem Muskel im Gesicht zu spielen und können dir damit ganz rationell aufzeigen, dass sie dich, evolutionär betrachtet, auf einer Stufe mit der Küchenschabe ansiedeln – eine mimische Kunstform, und der Wenzel beherrscht die aus dem Effeff.
Dass er sich gerade mit einem Eimer Farbe abgeschleppt hat, als der Wenzel so spartanisch grimassiert hat in seine Richtung, hat den Sandner am meisten gefuchst. Er hat endlich die Rotweinflecken an der Wand im Schlafzimmer überstreichen wollen, immer ein Ärgernis für die Corina. Souveränität schaut definitiv anders aus. Und die Farbe steht noch immer im Flur, schon aus Trotz und weil diese spontane Energie sich gar nicht konservieren lassen wollte, quasi wie weggewenzelt.
Ein jeder zelebriert sein besonderes Morgenritual. Mit der Kaffeetasse ins Wohnzimmer und auf der Couch fläzen, ist zwar nicht wahnsinnig einfallsreich, aber Sandners Zustand angemessen. Espresso schlürfen und ins Leere schauen. Ein abgenutzter Begriff, weil sein Wohnzimmer natürlich nicht leer ist, höchstens sparsam möbliert – stilvoller Minimalismus. Philosophischer formuliert: Er wendet den Blick nach innen. Da geht es ihm wie all den anderen Existenzen – die Minderheit der Erleuchteten ausgenommen –, wieder nicht aufgeräumt und der Dreck unter dem Teppich wirft bereits Beulen. Zu lange sollte man sich das nicht anschauen.
Für das universelle Bewusstsein ist der Sandner eh nicht zu gewinnen, das vermag ihm den Morgen nicht zu retten. Eher seine alte Jazzmama. Eine Archtop, Hoyer Spezial, natural, handgefertigt von Arnold Hoyer in den 50ern. Massive Hölzer.
Der Sandner hat ein Faible für Dinge, die beständig sind und eine Geschichte zu erzählen haben beim Anschauen oder Beschnuppern. Er bildet sich manchmal ein, er könne etwas erlauschen. Ein Wispern aus der Vergangenheit. Dazu muss er auf der Gitarre nichts klimpern. Allein das Betrachten weckt in ihm ein warmes, kribbelndes Gefühl. Nicht satt sehen kann er sich. Wie wenn du ein Kunstwerk anschaust. Oder eine schöne Frau. Honigblond ist seine Hoyer, und die Perlmutt-Inlays auf...
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