Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Die Geschichte der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel reichte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurück, damals waren die roten Backsteingebäude errichtet und erstmals in Betrieb genommen worden. Während der NS-Zeit hatte ein Teil der Anlage den Nazis als Konzentrationslager gedient, inzwischen umfasste das weitläufige Areal im Norden Hamburgs mehrere Haftanstalten mit Einrichtungen für Regelvollzug, Sozialtherapie, Sicherungsverwahrung sowie ein eigenes Gefängniskrankenhaus.
Maltes persönliche Knastgeschichte war zeitlich deutlich überschaubarer: Er hatte hier knapp zehn Jahre als Anstaltspsychologe gearbeitet, bevor ein Gewaltverbrecher fast alles, was ihm lieb und teuer gewesen war, zerstört hatte.
Das war lange her, Malte hatte sich gefangen, die Wunden waren verheilt, gelegentlich schmerzten die Narben, doch damit kam er zurecht. Gleichwohl konnte er an einer Hand abzählen, wie oft er seitdem seine alte Wirkungsstätte aufgesucht hatte, in der das Verhängnis damals seinen Lauf genommen hatte.
Vor ihm öffnete sich die schwere Metalltür der ersten Sicherheitsschleuse. Die Frau hinter der Panzerglasscheibe kannte er nicht. Malte legte seinen Personalausweis in ein kleines Schubfach und sprach in die ins Glas integrierte Sprechanlage. »Ich bin Doktor Malte Fischer. Ich habe einen Gesprächstermin mit dem Häftling Elias Kandel. Der Termin ist mit Frau Geppert abgesprochen.«
Die Beamtin zog das Schubfach auf ihre Seite des Sicherheitsglases, sichtete den Ausweis, tippte etwas in die Tastatur ihres PCs, griff zum Telefon, redete kurz mit jemandem, sah dann zu ihm hoch. »Haus fünf. Kennen Sie den Weg?«, klang es aus dem Lautsprecher.
Malte nickte. Nur zu gut, dachte er. Er trat durch eine zweite Metalltür in einen von hohen, stacheldrahtbewehrten Mauern umgrenzten Hof. Vor ihm lag eines der Häuser für Langzeitgefangene. Sein Weg führte rechts daran vorbei. Auf einer Rasenfläche hinter einem hohen Drahtzaun kickte eine Handvoll Gefangener lustlos einen Ball hin und her und beachtete ihn nicht. Malte erreichte die Zugangstreppe eines weiteren Rotklinkerbaus.
Er wurde erwartet. Vanessa Geppert, eine frühere Kollegin, stand am oberen Ende des Treppenaufgangs und winkte ihm zu.
»Schön, dich zu sehen, Malte«, sagte sie, als er oben angekommen war. Sie umarmten sich. Und obwohl es eine kurze und unzweideutige kollegiale Geste war, fiel Malte auf, wie selten er in den Genuss körperlicher Nähe kam.
»Du siehst gut aus«, sagte Vanessa. »Deutlich besser als deine blassgesichtigen Ex-Kollegen, mich eingeschlossen. Die Arbeit in der eigenen Praxis scheint dir gutzutun.«
»Ja, ist super«, sagte er.
Vanessa führte ihn durch das Eingangsportal über eine weitere Sicherheitsschleuse in einen Vorraum, hinter dessen panzerverglaster Rückseite die Zellentrakte des Hauses zu sehen waren.
»Wie geht es Emma?«, fragte sie. »Wie alt ist sie jetzt? Sechzehn?«
»Siebzehneinhalb«, sagte er. »Hat im Frühjahr ihr Abi gemacht, ist jetzt frisch immatrikulierte Physikstudentin und vor zwei Wochen für ein Auslandssemester nach Liverpool gegangen. Sie macht sich prächtig.«
»Wow«, sagte Vanessa. »Das freut mich zu hören.«
»Und wie geht es dir und Helen?«
Sie erzählte kurz von sich und ihrer Partnerin, dem Kauf eines Ferienhauses an der Schlei und einem geplanten Rucksackurlaub in Thailand. Dann kam sie zum Grund seines Besuchs. »Elias Kandel wartet im Gutachterzimmer auf dich«, sagte sie. »Du willst den echt in Therapie nehmen?«
»Ich denke zumindest darüber nach.«
»Hast du seine Akte gelesen?«
Malte nickte. »Zum Teil. Ich bin mit seinem Anwalt befreundet, der hat mir einiges berichtet und Unterlagen zur Verfügung gestellt. Ich hatte noch keine Zeit, alles gründlich zu lesen. Wie ist denn dein Eindruck von ihm?«
Vanessa verzog das Gesicht zu einem Ausdruck voller Sorge und Skepsis. »Elias Kandel wurde vor knapp drei Jahren aus der Jugendhaft zu uns verlegt, seitdem haben wir uns die Zähne an ihm ausgebissen. Er hat einen IQ von hundertachtunddreißig, das weißt du sicherlich. Und er gilt als hochsensibel. Er hat das psychosoziale Team regelrecht in zwei Lager gespalten. Die einen halten ihn für einen hoch manipulativen Blender, der genau weiß, was er tut, und mit seiner Intelligenz und empathischen Begabung alle nach Strich und Faden verarscht. Die anderen sehen in ihm einen armen Jungen, der zeitlebens mit sich und seinem Leben überfordert war.« Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie weitersprach. »Nur in einem sind sich alle einig.«
»Nämlich?«
»Dass er eine tickende Zeitbombe ist.«
Die Zeitbombe entpuppte sich als schmächtiger Mann mit wuscheligen blonden Haaren und blassem Gesicht. Die rot umränderten Augen verstärkten den Eindruck, dass dieser Junge in den langen Jahren der Inhaftierung erkennbar gelitten und nur mit Mühe durchgehalten hatte.
»Guten Tag«, sagte Malte. »Sie sind Elias Kandel, richtig?«
Der Angesprochene nickte. »Und Sie Doktor Fischer? Danke, dass Sie mit mir sprechen.«
Malte schloss die Tür des Besprechungszimmers, dessen Mobiliar aus zwei schlichten Lederstühlen an einem kleinen Tisch bestand. Ein vergittertes Fenster ließ etwas Sonnenlicht herein. Sie setzten sich.
»Ihr Anwalt Julius Kießling hat mich gebeten, Sie in Therapie zu nehmen.«
»Er glaubt, dass ich nach meiner Entlassung psychologische Hilfe brauche.« Der schwächlichen Erscheinung zum Trotz blickte Elias Kandel Malte neugierig ins Gesicht.
»Und?«, fragte Malte. »Hat Julius recht?«
Elias Kandel zuckte mit den Schultern. »Schon möglich.«
Malte unterdrückte ein Schmunzeln. Mehr Offenheit konnte er von dem jungen Mann fürs Erste offenbar nicht erwarten. »Wie ich hörte, haben Sie bereits einige Zeit mit Psychologen gearbeitet. Ist Ihrer Meinung nach etwas dabei herausgekommen?«
»Allesamt kompetente Leute, die versucht haben, mir weiterzuhelfen.« Kandel lächelte auf eine Weise, die Malte herablassend und selbstgefällig vorkam. Er fragte sich, wie viel vom Auftreten des jungen Mannes nur Show war und dem Versuch diente, seine Unsicherheit zu verbergen. Oder ob er wirklich so cool war, wie er tat. »Bis auf den einen vielleicht, Manfred Münch«, redete Kandel weiter. »Dem ging es vor allem um sich selbst. Der wollte mich knacken, um vor seinen Kollegen damit anzugeben.«
Malte zog die Augenbrauen hoch, was dem Gefangenen nicht entging. »Entschuldigen Sie«, sagte der, ohne dass sein Blick und seine Stimme etwas von dem Selbstbewusstsein einbüßten. »Vermutlich steht es mir nicht zu, über die Anstaltspsychologen zu urteilen. Aber ich habe da so gewisse Antennen.« Er neigte den Kopf. »Nach drei Sitzungen hat Münch es übrigens aufgegeben.«
Malte kannte den angesprochenen Psychologen. Und er konnte der Einschätzung des jungen Mannes komplett zustimmen. Ex-Kollege Münch war einer der wenigen Unsympathen aus dem alten Team. Ein unverkennbarer Narzisst. Allerdings hatte Malte deutlich länger gebraucht, um das herauszufinden. »Das scheint Ihnen zu gefallen«, sagte er. »Sie haben ihn geknackt, nicht umgekehrt.«
»Geht so. Zum Dank hat Münch mir eine krass miese Beurteilung in die Akte geschrieben.« Der belustigte Teil verschwand aus dem blassen Gesicht. »Ich bin seit fast zehn Jahren inhaftiert. Genau genommen sind es dreitausendsechshundertfünfundfünfzig Tage. Sieben Jahre Jugendknast, fast drei Jahre geschlossener Erwachsenenvollzug.«
Kandel beugte sich auf seinem Stuhl zu Malte herüber. »Ich habe die Fähigkeiten, sie alle an der Nase herumzuführen. Ich hätte mir einfach irgendeine Geschichte ausdenken können. Ein unentdecktes Kindheitstrauma aus meiner Grundschulzeit als Beginn einer tragischen Leidensgeschichte, die mich durch eine Verkettung unglücklicher Auslöser zu der Tat getrieben hat. Die ersten Erinnerungen daran hätte ich als Höhepunkt einer intensiven Sitzung mit einem der Anstaltspsychologen aus mir herausbrechen lassen können. Alle wären froh und erleichtert gewesen über meine vermeintliche Offenheit. Ich hätte ihnen vorspielen können, intensiv an meinen ungelösten Konflikten zu arbeiten und dabei Fortschritte zu erzielen. Sie hätten mir Lockerungen gegeben, eine vorzeitige Entlassung in Aussicht gestellt inklusive Vorbereitung auf das Leben nach dem Gefängnis. Ich wäre vermutlich nicht mehr in Haft, wenn ich es so gemacht hätte.« Er schüttelte den Kopf. »Warum sitzen wir also hier? Weil ich von Anfang an bei der Wahrheit geblieben bin.«
»Dass Sie sich nicht an die Tat erinnern können?«
»Ich habe meine Schwester Laura ermordet. Meine Adoptivschwester, genau genommen. Ich habe ihr ein Messer durchs linke Auge ins Gehirn gestoßen.« Er lehnte sich wieder zurück, seine Stimme klang jetzt dünn wie Seidenpapier. »Sie war fünfzehn Jahre alt.« Fast sah es aus, als legte sich ein feuchter Schimmer auf die Augen des jungen Mannes. »Nach der Tat habe ich mir die Pulsadern aufgeschnitten. Mit demselben Messer, mit dem ich sie getötet habe. So ist es gewesen. Das habe ich akzeptiert und nie bestritten. Es gibt keine andere logische Erklärung. Und trotzdem, ja. Ich kann mich nicht erinnern. Ich wünschte, ich könnte es. Ich wünschte, ich könnte die Antwort liefern auf die Frage, die sich seitdem alle stellen: Warum hat Elias Kandel diesen schrecklichen Mord begangen?«
»Keine Idee?«, fragte Malte.
Der junge Mann blinzelte. Falls es einen Anflug von Tränen gegeben hatte, waren sie wieder verschwunden. »Natürlich. Dutzende. Sie sind alle psychologisch plausibel und könnten zutreffen. Aber ohne Erinnerung sind es bloße Theorien.«
»Der...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.