Schweitzer Fachinformationen
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Es gibt Menschen, die sich wichtig nehmen. Und es gibt Menschen wie Sonne.
Vor einem Vierteljahrhundert, drei Tage nach ihrem siebzehnten Geburtstag, an einem überaus freundlichen Septembermorgen, hängte sich ihr Vater in seiner Garage auf.
Um ihn, den gewesenen Herrn Dipl.-Psych. Jonathan Meling, kümmerte sich umgehend das bewährte Beerdigungsinstitut Leberschön, beflissen und mit der zupackenden Reibungslosigkeit eines seit drei Generationen erfolgreichen Familienbetriebs. Der Chef persönlich, Herr Leberschön jun., repräsentierte die kollektive Erwartung an eine vernünftige Bestattung, indem er in allererster Linie einen sehr traurigen Gesichtsausdruck einbrachte.
Er hatte ihn von seinem Vater geerbt.
Und der wiederum hatte ihn von seinem Vater geerbt.
Ohne diese genetisch bedingte physiognomische Katalepsie auch nur ein einziges Mal zu lockern, abgesehen von dem irdischen Moment, als ihn eine altersschwache Schnake in den Hals stach, bettete Herr Leberschön jun. den tragisch Verstorbenen dezent unter die Erde, wie es sich für einen Selbstmörder gehört, sekundiert von einem übergewichtigen Pastor, der sich auf das Schnäpschen danach freute.
Sodann wurde ausgiebig das Diesseits gewürdigt.
Im Gasthof Ravenna servierten etwas zu heiter gestimmte Aushilfskräfte zum Leichenschmaus Pasta und Kalbsschnitzel, inklusive stärkender Getränke, wobei Herr Leberschön jun. nach dem vierten Weißbier zeigen konnte, über wie viele Gesichtsausdrücke er außerdem verfügt.
Sonne wollte ihren Vater noch einmal sehen - es war ihr ein großes Bedürfnis, da er Sonne einst »Sonja« getauft, sie dann aber Tag für Tag und Jahr für Jahr und sogar einen Abend vor seinem Tod noch mit diesem viel strahlenderen, goldgelben Namen gerufen hatte, den sie immer mit seiner weichen, sehnsüchtigen und auch etwas schwachen Stimme verbinden würde.
Um sie jedoch vor bleibendem Schrecken zu bewahren, wurde ihrem Wunsch nicht entsprochen.
Besser, du behältst ihn so in Erinnerung, wie er war, Kleines.
Diese Worte hat sie nie vergessen.
Blitz und Donner wären auch passende Namen für Sonne gewesen. Aber sie redete nicht über ihre Unwetter. Nicht über ihren Vater, ihre Kindheit, ihren Geburtsort. Höchstens über ihre Gegner.
Dazu brauchte sie nicht einmal viele Worte.
Sie konnte auch stumm die Lippen schürzen, die Schultern unwillkürlich nach vorne ziehen, wenn sie Gegnern begegnete. Gegnerschaft war das Persönlichste, was sie über sich preisgab. Darüber schärf?te sie ihre Kontur.
Beerdigungsinstitute wie das von Herrn Leberschön jun. empfand Sonne als Gegner, auch gewisse Friedhofsämter und überhaupt Vorschriften, die dem Sterben galten.
Oftmals wussten ihre Gegner gar nicht, dass sie welche waren, meistens waren das die, denen es eh egal gewesen wäre. Schwätzer, Angeber, unverbesserliche Rechthaber zum Beispiel. Oder Leute, die einen Jagdschein hatten und tatsächlich auf Ansitze stiegen, um aus zweihundert Metern Entfernung ein äsendes Reh zu schießen.
Sonne schlug keine Tiere tot. Sie aß auch keine Tiere.
Sie fand das logisch, denn sie aß ja auch keine Menschen.
Ihr größter Gegner, das war der Tod. Sie fand ihn grauenhaft, obwohl er gut zu ihr war. Als nicht mal 42-jährige Bestatterin hätte sie ihn auch als Freund sehen können. Er sorgte für ihren Unterhalt, er ernährte sie, er brachte die Dinge in Schwung, und er ließ ihr noch viel Zeit, hoffentlich.
Aber was er anrichtete, gefiel ihr nicht, und sie kümmerte sich immer um das, was er wie Abfall hinterließ.
Der Tod liebt das Töten, nicht die Leichen. Der Tod ist ein Krimineller.
Einerseits.
Andererseits führt er die Menschen auch über die Ziellinie, manchmal mit Zärtlichkeit, oft grausam. Und ob sie nun Dickhäuter mit schnappenden Zähnen und kastriertem Gewissen waren oder frisch von ihren Lovern verlassene Selbstmörderinnen mit Integrität und Wärme - am Ende sind sie wie alle Leichen eine sympathische Version ihrer selbst: so authentisch, so willensschwach, so menschlich, so harmlos, so ausgeglichen - voller Niederlagen und künstlicher Hüften und ein bisschen langweilig.
Im Grunde hatte Sonne ein Autoritätsproblem, und das ausgerechnet mit der größten Autorität des Lebens, dem Herrn Gevatter. So nannte sie ihn. Nicht oft natürlich, denn sie sprach nicht viel. Aber sie mochte alte, ausgestorbene Wörter wie »Drangsal« oder »Saumseligkeit«, vielleicht gerade deshalb, weil es ihren Widerstand herausforderte, dass der Herr Gevatter keine Gnade kennt. Selbst die Wörter kommt er holen, selbst die Berufe kommt er holen, und zuallererst die Moden.
Sonne konnte mit Moden wenig anfangen. Die waren für sie Dead Men Walking.
Sie trug die immer gleichen schwarzen Sachen. Shirts. Hoodies. Klar und schlicht. Seit ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie als einzigen Schmuck einen Ring im rechten Nasenflügel, aus Silber.
Sie ist stets nah an sich drangeblieben. Das sagten alle, die sie kannten.
Gleichzeitig war da dieses Stilgefühl.
Stilgefühl war Sonnes Atombunker gegen die Unordnung der Welt.
Wer die Anmut von Proportionen erkennt, hält sie auch für genauso wichtig wie ein Mittel gegen Krebs. Ihre Meinung.
Kam jemand in einen Trauerraum herein, den sie eingerichtet hatte, betrat er ein vergrößertes Modell ihres Schädels. Nicht ihres Herzens. Aber ihres Schädels. Alles hell, übersichtlich und von Licht durchflutet. Das galt auch für das Arrangement der Blumen. Oder für die Wahl von Farben und, wie sie sie nannte, Mitarbeiter:innen.
Wenn Sonne an einem Obdachlosen vorbeikam, so wusste sie sofort, ob er lieber ihr soeben gekauf?tes Tofu-Brötchen oder Kleingeld haben wollte - denn auch Mitgefühl ist Stilgefühl. Meistens gab sie beides. Sie war eher freundlich als herzlich. Und oft musste sie all ihre Freundlichkeit aus sich herauspressen wie aus einer Zitrone. Sie konnte dann erschöpft und unaufdringlich zugleich sein.
Im Freundlichen steckt so viel Schönheit.
Nirgendwo jedoch gab es für sie weniger von beidem als im konventionellen Bestattungswesen, das Herr Leberschön jun. einst in idealer Weise in einen einzigen, unwandelbaren Gesichtsausdruck gegossen hatte.
Dieses Gewerbe zog Menschen mit stoischer Wangenmuskulatur und ausgeprägter Einfühlungsdisziplin an, die tollkühnen Geschmack mit diskretem Phlegma und der reinen und ungebremsten Freude am Verkaufen nicht nur von Särgen, sondern auch von Trauerwaren aller Art verbanden. Dabei bildeten Sarggarnituren aus Unisex-Glanzseide oder mit Loden- und Spruchbändern, mit Fußballmotiven oder mit in der Tat unsterblichen Swarovski-Steinen nur die Spitze des Eisberges. Sargmatratzen, Füllkissen, Fußpolster, Kinnstützen, Handschmeichler und schwarze Luftballons mit und ohne Kreuz wollten an die geduldige Kundschaft gebracht werden.
Und noch immer bekamen viele Verstorbene (einfach, weil es bei »Gundolf Köppele Nachf. - Spezialist für Sterbewäsche, Bestattungsbedarf und Friedhofstechnik seit 1849!« im Sortiment geführt wurde) sinnlose Leichenhemden in weißem Linnen übergestreift, anstatt würdig in ihrer abgefuckten Lieblingsjeansjacke oder dem Frack, in dem sie einst geheiratet hatten, verbrannt zu werden.
Nichts war Sonne wichtiger, als dass alle, die es wollten, von ihrem verstorbenen Menschen Abschied nehmen durf?ten, so wie ihn Gott gedacht, das Leben geformt und womöglich ein Intercityexpress nach dem Aufprall hinterlassen hatte. Ihr Beitrag war es, einen Rahmen für die Würde dieses Moments zu schaffen, und ihr Wissen um die Wirkung von Licht, Schatten und Inszenierung half ihr dabei.
Sie hatte einst Produktdesign studiert und war einige Jahre lang eine mehr als passable Fotografin gewesen. Auch Topmodels musste sie ablichten. Eine Zumutung für jemanden, der mit Moden nichts anfangen kann. Ihr völlig unankratzbares Stilgefühl hat es außerdem beleidigt, für Agenturen unterernährte Idiotinnen zu knipsen, die allesamt, ob sie nun Gisèle, Nathalie, Marie-Caro oder Thymiane hießen, exakt den gleichen tristen, an Verdrossenheit grenzenden Gesichtsausdruck wie seinerzeit der fettleibige Herr Leberschön jun. aufsetzten. Die äußerst begrenzte Mimik dieses Mannes wollte Sonne eigentlich in keiner Visage der Welt mehr wiedersehen, und sei sie noch so apart.
Darüber hinaus hat junges Fleisch sie nie interessiert, denn für sie war junges Fleisch nichts anderes als altes Fleisch, Ballast, den wir durch die Gegend schieben, bis wir ihn abwerfen, wenn wir am Ende angekommen sind.
Seit sie einmal Heidi Klum unter einem Regenbogen fotografieren musste, der in ihrem geöffneten Mund endete, hasste sie Kitsch wie jede andere Lüge.
Ihr kleines Berliner Studio für zugewandtes Begraben hat Sonne nicht Halleluja oder Sonja Meling Bestattungen GmbH, sondern nach einem alten Toten-Hosen-Song getauft. Es hieß Sommernachtstraum und befand sich in einer...
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