Schweitzer Fachinformationen
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282 Tage im KriegAls am Morgen des 24. Februar 2022 die russische Armee in das Nachbarland Ukraine einmarschiert, steht die gesamte westliche Welt unter Schock. Bewegt von den Bildern des Angriffskriegs, beschließt der ausgebildete Panzergrenadier Jonas Kratzenberg, das ukrainische Volk in seinem Ringen um Freiheit zu unterstützen - als Soldat, im bewaffneten Kampf.Entschlossen zieht der junge Deutsche in den Krieg. Er kommt nach Irpin und Butscha, erlebt Artilleriebeschuss, sieht Kriegsverbrechen und kämpft als Richtschütze an der Front - bis zu dem Tag, als nach einem Angriff auf ein vom russischen Militär besetztes Dorf in der Nähe von Mykolajiw plötzlich eine Drohne über ihm auftaucht.
Bewegend und aus nächster Nähe erzählt Jonas Kratzenberg mit Spiegel-Bestseller-Autor Fred Sellin von seinen Erlebnissen im Ukrainekrieg, wo Hoffnung und Zerstörung, Liebe und Tod oft nur Augenblicke auseinanderliegen.
Jonas Kratzenberg, 1997 im Rheinland geboren, ging nach dem Abitur zur Bundeswehr, absolvierte die Grundausbildung bei den Panzergrenadieren, verpflichtete sich anschließend als Soldat auf Zeit und war 2019 in Afghanistan (Kundus und Masar-e Scharif) im Einsatz. Anschließend schlug er die Offizierslaufbahn ein, entschied sich dann aber, bei der Bundeswehr auszusteigen, wurde ehrenhaft entlassen. Nachdem Putins Armee im Februar 2022 die Ukraine überfiel, zog er als deutscher Legionär in den Krieg, um den Freiheitskampf der Ukrainer zu unterstützen.
Fred Sellin, Jahrgang 1964, studierte Journalistik, arbeitete als Redakteur für verschiedene Tages- und Wochenzeitungen und lebt heute als freier Autor in Hamburg. Er schrieb Biografien, True-Crime-Titel und investigative Sachbücher zu verschiedenen Themen, zuletzt zusammen mit Hannes Jaenicke den SPIEGEL-Bestseller ‚‚Die große Sauerei‘‘.
Es war kurz vor Mittag. Blauer Himmel, die Sonne schien, achtzehn Grad, ungewöhnlich warm für November. Wir verließen den Stützpunkt, der sich am östlichen Rand der Stadt Mykolajiw befand, auf einem mit brüchigem Asphalt bedeckten Areal, auf dem ein paar alte Industriehallen standen, eine Werkstatt und einer dieser typischen trostlosen Betonblocks aus Sowjetzeiten. Graue Mauern, vier Stockwerke, die Fensterscheiben blind vor Schmutz oder gar nicht mehr vorhanden.
Zuvor hatten wir die Humvees startklar gemacht. Für die heutige Mission wurden zwei von diesen gepanzerten Geländefahrzeugen eingesetzt, also auch zwei Besatzungen - Shuriks Truppe und meine, insgesamt zehn Mann, in jedem Fahrzeug fünf. Shurik und ich waren als Richtschützen eingeteilt. Wir luden mit unseren Teams Raketen und Munition ein, montierten jeder ein Maschinengewehr in den Turm, M2-Brownings, und prüften ihre Funktion. Und wir verstauten jeweils einen Panzerabwehr-Granatwerfer. Shurik einen AT4, Kaliber 84 mm, das Modell kennt er aus der U. S. Army. Shurik ist Amerikaner, Ende dreißig, er kommt aus Kalifornien, ein Typ wie Nicolas Cage in Lord of War. Ich nahm eine Panzerfaust 3, Kaliber 110 mm, wie sie bei der Bundeswehr verwendet wird.
Danach blieb noch Zeit für einen kurzen Einkauf im benachbarten ATB-Markt: Plunderstücke, Chips und Pepsi, unsere übliche Ration für eine Mission, die nur auf wenige Stunden angelegt ist. Ein friedlicher Moment im Krieg.
Dann rollten wir los. Der Humvee mit Shurik fuhr voran. Wir passierten den Checkpoint, bogen nach links auf die Cherson- Chaussee, die in östlicher Richtung zur M14 führt, einer autobahnähnlichen Fernstraße. Die M14 verläuft mehr oder weniger parallel zum Schwarzen Meer, von Odessa über Mykolajiw, Cherson und Mariupol bis hinüber zur Grenze nach Russland.
Wir ließen das Stadtgebiet hinter uns und wichen nach etwa zwanzig Minuten auf kleinere, staubige Straßen aus. Rundherum erstreckten sich Felder, so weit das Auge reichte. Die Landschaft platt wie eine Flunder. Ab und zu ragten am Wegrand Bäume in die Höhe, wie Riesen nebeneinander aufgereiht. Oder sie standen in kleinen Gruppen, als würden sie ein Pläuschchen halten. Oder in einer Kombination aus niedrigeren Bäumen, Büschen und Sträuchern, die bei der militärischen Geländetaufe als Kusselgruppe bezeichnet werden.
In der Ferne tauchten Silhouetten kleiner Ortschaften auf. Mal einzelne Häuser, ein Dutzend vielleicht, mal doppelt so viele oder noch mehr, fast immer um eine Kirche gruppiert, deren Turm die anderen Gebäude überragte. Manche der Kuppeldächer glänzten im Sonnenlicht, sodass sie von Weitem wie große leuchtende Punkte erschienen.
Auf eine dieser Ortschaften steuerten wir zu: Ternovi Pody. Bis dorthin war es noch ein Stück. Wir waren nicht zum ersten Mal in dieser Gegend. Jeder von uns kannte die Route, wusste, dass wir direkt auf die Front zufuhren, auf die russischen Linien nördlich von Cherson. Seit Anfang September lief eine groß angelegte Gegenoffensive der ukrainischen Armee, um die seit Monaten von russischen Einheiten besetzte Hafenstadt am Dnepr-Delta zurückzuerobern. Unser Trupp war ein Teil davon, ein kleines Rädchen. Zuletzt hatten wir die Nachricht erhalten, der Feind weiche zurück, Cherson stehe kurz vor der Befreiung.
Ternovi Pody ist ein winziges Dorf mit klapprigen Häusern aus Stein und Holz, meist weiß oder blau bemalt, die Farben verwittert. Geschätzt 150 Einwohner, von denen die meisten geflüchtet sein dürften, als der Krieg dorthin kam. Die Russen hatten sich im Dorf und in dem Gebiet rundherum festgesetzt. Mit zwei anderen Dörfern sollten es, falls unsere Informationen stimmten, ihre letzten Stellungen in der Oblast Mikolajiw sein. Obwohl wir es seit Wochen immer wieder versucht hatten, war es uns nicht gelungen, sie davonzujagen. Kurz hinter Ternovi Pody beginnt die Oblast Cherson. Bis in die Stadt selbst sind es Luftlinie ungefähr dreißig Kilometer.
Während der Fahrt beherrschten mich zwiespältige Gefühle. Einerseits war ich motiviert und guter Hoffnung, dass der Einsatz ein Erfolg würde. Je näher wir dem Ziel kamen, desto mehr spürte ich, wie mein Adrenalinpegel stieg. Vielleicht würde es mir wenigstens gelingen, einen ihrer verfluchten Panzer außer Gefecht zu setzen.
Andererseits drängten sich Gedanken an vorherige Missionen auf, die nicht so gut gelaufen waren beziehungsweise richtig mies wie die Sache mit Kilo. Das war auch vor den Toren Ternovi Podys passiert, Anfang Oktober. Kilo heißt - hieß - mit richtigem Namen Paul. Er stammte aus Houston, Texas, und war im August zum Kämpfen in die Ukraine gekommen. Kilo war sein Kampfname. Den hatte er schon benutzt, als er bei der U. S. Army diente. Zwölf Jahre Infanterie, mit Kriegseinsatz als Fallschirmjäger im Irak. Er hatte also eine Menge Erfahrung, weit mehr als ich, und trotzdem hatte es ihn erwischt. Im Schützengraben, durch Panzerbeschuss. Oder durch eine Mörsergranate, es kursierten verschiedene Versionen. Nach der offiziellen von den ukrainischen Behörden wurde die Stellung, die er zuvor mit seinem Team den Russen bei einer Sturm-und-Einbruch-Aktion abgetrotzt hatte, von einem Panzer beschossen, einem T-90M. Das ist der modernste, über den die russischen Truppen zurzeit verfügen.
Am Ende ist es egal, ob modern oder nicht, Panzer oder Mörser. Krieg ist ein beschissenes Würfelspiel, entweder du hast Glück oder eben nicht - selbst wenn du glaubst, alles richtig zu machen.
Ich war an dem Tag auch mit draußen, wie heute als Richtschütze auf einem Humvee. Die Russen machten uns mit Artillerie und automatischen Granatwerfern die Hölle heiß. Es war eines der heftigsten Gefechte, die ich je erlebte. Zu allem Überfluss hatte ich meinen Helm vergessen. Ein Wahnsinn, ich weiß bis heute nicht, wie das passieren konnte. Trotzdem kam ich heil raus, Kilo nicht. Zwei Tage später wäre er 35 geworden.
Ich male mir immer das Schlimmste aus, bevor es losgeht. Nicht, dass ich es darauf anlegen würde, die Gedanken springen mich an wie ein wildes Tier und beißen sich fest - die Zweifel, die Angst. Oh ja, ich habe Schiss, jedes einzelne Mal. Was, wenn wir auf eine Mine fahren? Oder von einem Panzer getroffen werden? Und das sind nur zwei von vielen denkbaren Horrorszenarien. Dann ist es aus, dann bist du nicht mehr der Protagonist deiner eigenen Geschichte. Und es spielt keine Rolle, ob du auf der richtigen Seite stehst, den guten, den gerechten Kampf kämpfst. Alle Rechtfertigungen dafür, dass man Menschen tötet, alle hohen moralischen Ansätze - für die Katz.
Aber gleichzeitig hoffe ich, dass nichts davon passiert, dass ich am Ende die bessere Geschichte zu erzählen habe, der Jäger bin, der das größte Geweih nach Hause bringt.
Ein letzter Halt vor der Front. An einer Baumgruppe, die uns Deckung bot. Es waren Laubbäume mit buntem Herbstlaub, auf mehr achtete ich nicht. Anderes war wichtiger, man ist in dieser Phase ein bisschen wie im Tunnel. Und auch fokussiert darauf, die Angst im Zaum zu halten, das erhöht die Konzentration.
An der Baumgruppe wartete die Besatzung eines Kampfpanzers T-80 auf uns. Sie sollte uns bei dem Angriff flankieren. Der T-80 war von den Russen erbeutet worden. Er sah etwas seltsam aus, was an der Reaktivpanzerung lag, die ihn widerstandsfähiger machte gegen Beschuss durch Granatwerfer und Panzerfäuste. Die zusätzliche Panzerung bestand aus dicht nebeneinander angeordneten Stahlkacheln, die ähnlich einem Sandwich jeweils eine Schicht Sprengstoff umschlossen. Wird eine solche Kachel von einer Granate getroffen, explodiert die Sprengladung darin, die obere Metallplatte schleudert dem Geschoss entgegen und mindert so dessen Durchschlagskraft, kompensiert sie im besten Fall. Nach dem Prinzip Stoß-Gegenstoß. Also nicht die schlechteste Erfindung.
Vor dem Gefecht.
Wir redeten mit der Panzerbesatzung. Hauptsächlich die Ukrainer aus unseren Teams sprachen, Shurik, Itamar und ich weniger. Itamar war Shuriks Assistenz - Israeli, Ende fünfzig. Ihn kannte ich seit meiner Anfangszeit in der Ukraine. Shurik war später zu uns gestoßen, dazu komme ich noch. Die Sprachkenntnisse von uns dreien waren besser geworden, trotzdem hätte ich sie noch immer als rudimentär bezeichnet. Es wurden Snacks herumgereicht, und wir ließen uns die Cola schmecken. Man hätte denken können, diese Männerrunde hier unter den Bäumen sei zu einer gemütlichen Wanderung oder einem harmlosen Geländespiel verabredet gewesen. Doch die Zeit tickte. Wir erwarteten jeden Moment den Befehl zum Angriff.
Ich war angespannt. Die Gedanken von vorhin rumorten in meinem Kopf. Vielleicht sollte das meine letzte Mission sein. Diesmal wirklich. Überlegt hatte ich das schon öfter. Man sollte sein Glück nicht überstrapazieren, und bisher hatte ich verdammt viel Glück gehabt. Doch irgendwie fühlte es sich nie richtig an aufzuhören. Als hätte ich dann die Kameraden im Stich gelassen...
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