Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
»Das wird noch ein langer Tag bis zu deiner Hochzeitsnacht, donetschka!« Frühmorgens am Fluss schneidet Shira sich Ranken aus dem Brombeerstrauch für ihren Brautkranz. Die roten Fingerkuppen zucken zurück, wenn sie an Stacheln geraten. Heftig zieht sie Luft auf. »Wie die stechen, donetschka!«, setzt sie ihr Selbstgespräch fort. Drei kleine Bündel reifer Beeren - fast so schwarz wie ihre geweiteten Pupillen - verankert sie im Kranzgeflecht. Nebel hängt noch tief im Gestrüpp. Dahinter rauscht der Río Ñireco, das »Wasser aus den Buchwäldern«, wie ihn die Mapuche nennen.
Die Farm der Familie Broda grenzt direkt an den Fluss, keine Brücke führt in die Urwälder und Berge auf der anderen Seite. Aber im Herbst und Winter, hat ihr Ethan gesagt, bilde sich bei niedrigem Wasserstand eine Furt, durch die man das Gewässer leicht zu Pferd überqueren könne. Danach führe ein Saumweg bis zur chilenische Grenze, und von dort könne man gemächlich in zwei Tagen die Fjorde und die Küste am Pazifischen Ozean erreichen. Diesen Ritt zu zweit habe er für ihre Hochzeitsreise geplant. Doch nun soll Shira plötzlich wieder nach Israel zurück, und von dort in die Ukraine fliegen . Verrückt: Wo sie doch erst vor sechs Tagen angekommen und schon so glücklich ist, in ihrer neuen Familie und Umwelt . »Den Hochzeitsritt holen wir nach deiner Rückkehr sofort nach, donetschka!«, hat ihr Ethan versprochen.
Zwei Stunden später sitzt Shira neben Ethan im Amtszimmer des Friedensrichters von Quemquemtréu. Gleich werden sie die Ringe wechseln. Neben ihnen: Vater Miguel Broda und Ethans Brüder, Ari, der ältere, und Nathan, der jüngere; und dazu Achmed, der tunesische Koch, und die Chilenin Gladys, Zimmermädchen des Hostels Currumahuida. Jeder hat seine Gerüche mitgebracht - aus den Stallungen, aus der Waschküche, vom Grillfeuer. Nur Shira und der Friedensrichter verbreiten künstliche Düfte: Eternity und Kölnisch Wasser. Dank ihrer Französischkenntnisse bekommt sie ungefähr mit, was der kleine dürre Mann vor ihr auf Spanisch aus dem rot gebundenen Gesetzbuch zitiert. Schließlich heißt »amor« amour und »fidelidad« fidelité. An der graufleckigen Wand hinter dem Friedensrichter kann sie das Wappen dieser argentinischen Provinz studieren, in der sie jetzt verheiratet wird. Merkwürdig: Die ganze untere Hälfte wird von einem Staudamm eingenommen. Das erinnert sie an die Symbole aus der Sowjetzeit, die man in Dnjepropetrowsk immer noch entdecken kann - ebenso die stilisierte Weizenähre, die aus dem Beton sprießt. Lieber zum Fenster hinausschauen, auf das friedliche Idyll kleinbürgerlicher Häuser mit bunten Begonien in den Vorgärten, überragt von einem atemberaubenden Steilhang der Andenkette.
Es ging bereits auf Mittag zu, als sie aus der Ortschaft zurück waren. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel, kaum spürbar wehte frische Luft vom Ñireco her. Höchste Zeit, wie vereinbart ihre Eltern in Haifa anzurufen. Mit Ethan überquerte sie den frisch gemähten Rasen vor Aris Haus. Er hatte es vor vier Jahren neben einem alten Walnussbaum errichtet. Darunter wurde soeben die lange Tafel gedeckt. Über aufgebockte Bauholzbretter hatten Ana, Aris neue Freundin, und Anahí, die Küchenhilfe des Hostels, weiße Betttücher gebreitet; sie waren gerade damit beschäftigt, Teller, Gläser und Besteck zu verteilen. Ein paar Kinder, die Shira noch nicht kannte, tollten um den Tisch herum und spielten Fangen, assistiert von Aris schwarzen Hunden unbestimmter Rasse. Nathan hatte vor allen anderen die Trauung verlassen, um sich um die Glut unter dem Grill zu kümmern. Neben ihm, in einer weiß emaillierten Waschschüssel, türmten sich Würste und Fleisch. Beim Begrüßungsfest vor sechs Tagen hatte Shira ihn bereits bewundert und geneckt: Wie konnte ein gebürtiger Israeli, der beim Heer nichts anderes gelernt hatte als das Reparieren von Merkava-Panzern, ein so wahnsinnig schmackhaftes Asado zubereiten! Andererseits fand man dergleichen heute ja auch in einem bekannten Steak-Restaurant in Tel Aviv - vorausgesetzt, man konnte es sich leisten. Ethan und sie hatten es vor zwei Monaten getan, um Shiras positiven Schwangerschaftstest zu feiern.
Im Hostel-Büro benutzte sie den Bildschirm des Computers als Spiegel, um sich ganz vorsichtig den Brombeerkranz aufs Haar zu setzen und den Ausschnitt ihres cremefarbenen Brautkleids zu lockern. Dieses teure Stück hatte sie mit ihrer Mutter in der Ayalon Mall gekauft. Die beiden Frauen hatten sich ja nicht vorstellen können, wie einfach und ländlich es auf einer patagonischen Hochzeitsfeier zugehen würde. Nach ein paar Klopfzeichen auf die Tastatur erschienen Shiras Eltern Kopf an Kopf und verblüfft dreinblickend auf dem Bildschirm.
Zuerst wandte die Mutter sich an den Vater: »Nimm doch die Brille ab, die blitzt und blendet ja nur.« Das tat er aber nicht, weil er für den Anblick seiner Tochter die maximale Sehschärfe haben wollte. »Aber du kannst sie doch hören!«, warf die Mutter noch ein, worauf Shira sich mit »Hallo, hallo, hier bin ich ja schon!« meldete. Da verstummten die Alten und starrten sie an.
Jetzt saßen die beiden also ganz dicht vor ihr, im vertrauten Wohnzimmer in Haifa, wo sie sich vor einer Woche erst von ihnen verabschiedet hatte: auf einem kleinen Familientreffen: ihr älterer Bruder Nicolai, seine Frau Dora und deren drei Kinder sowie das Ehepaar Kozak, das seit den gemeinsamen Jugendjahren in Dnjepropetrowsk mit ihren Eltern befreundet war. Ja, Shira, unser liebes Kind, die liebe Schwester und Tante, bricht nach dem fernen Argentinien auf, wird den Ethan Broda heiraten, der dort mit seinem Vater und seinen Brüdern lebt, und es ist völlig ungewiss, wann - ja wahrscheinlicher ob - die beiden jemals wieder zurückkommen werden.
Shiras Blick überflog das Regal hinter den Köpfen der Eltern. Da standen sie, der vertraute Nippes und Souvenirs, die kleinen Geschenke und Erinnerungsstücke, die ihre Mutter aufbewahrte: die Kopie einer Kipchak-Stele, eine ganze Reihe von Matrjoschka-Puppen, in der Mitte die kunstvoll aus Bronze gearbeitete Menorah, ein Familienerbstück der Karpovs. Nicht im Bild war das mächtige Bücherregal an der rechten Wandseite, das ohne Unterbrechung bis ins Arbeitszimmer des Vaters hinüberführte, ja eigentlich von dort ins Wohnzimmer hereingewachsen war - mit dem gerahmten Foto vor den Büchern: der Papa mit David Grossman, dessen Bücher er schätzte, dessen Aktivismus er teilte und auf dessen Freundschaft er so stolz war.
Es war selbstverständlich, dass man von Bildschirm zu Bildschirm zuerst von der babulitschka sprach. Die Nachricht vom Tod der Großmutter hatte Shira vor vier Tagen erreicht, kaum angekommen in Patagonien und noch nicht ausgeschlafen von der langen Reise und der Wiederbegegnung mit Ethan. Mit bewundernswerter Kraft hatte Sofija Karpov durch politisch extrem wechselhafte Zeiten bis in ihr sechsundachtzigstes Lebensjahr hinein die große, mehrsprachige Buchhandlung (Ukrainisch, Russisch, Deutsch, Jiddisch) in Dnjepropetrowsk geführt. Diese Aufgabe war von ihrem Vater auf sie übergegangen. Dazwischen stand oft auch ihr Schwiegersohn, Shiras Vater Daniel Fischer, im Laden - bis zu seiner Übersiedlung nach Israel nach dem Scheitern der Kiewer Orangen Revolution, als er endlich den Ruf an die Universität Tel Aviv annahm. Die jahrzehntelange Beschäftigung in der Buchhandlung hatte es dem gelernten Literaturwissenschaftler bis dahin ermöglicht, ohne wirtschaftliche Not und politisch weitgehend unabhängig als Dozent für Germanistik und Judaistik an der örtlichen Universität zu arbeiten.
Jetzt war Shiras Mutter Katarina auf einmal Alleinerbin geworden, und »der Rachen der Bürokratie in Dnjepr ist weit aufgerissen und droht alles, was wir noch haben, zu verschlingen«, wie sie ihrer Tochter klagte. Daher sei dringendst eine direkte Überschreibung von zwei Immobilien an die Enkelin einzuleiten. Immerhin war Shira in Dnjepropetrowsk geboren und hatte - wegen einiger Semester Architektur in Kiew - als Einzige der Familie wieder Wohnsitz in der Ukraine genommen. »Also bring des Opfer, wirste was erben«, hatte die Mutter sie sehr bestimmt gebeten. Sie mischte oft deutsche und jiddische Wörter oder ganze Sätze in ihr Ukrainisch. Und Ethan hatte sofort zugestimmt. Diese Blitzreise hörte sich in den Worten seiner Braut - trotz des Hochzeitstermins, trotz der auflodernden Kämpfe im Gazastreifen und im Osten der Ukraine - doch recht günstig an. »Ethan, stell dir vor, ich mach schnell meinen Anteil zu Geld. Dann bauen wir uns hier, auf diesem neuen Boden, eine Datscha,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.