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3. ---------- Brooklyn
Sie hätte alles getan, um aus Flatbush herauszukommen, wäre überallhin gegangen für ein sinnvolles und erfülltes Leben, das es jenseits der Grenzen von Brooklyn geben musste - einem Gebiet, das wie Irland oder Polen zu einer Existenz im Schatten einer überlegenen Macht verdammt war.
Als Zweitbeste ihrer Klasse hatte sie es sich an der Erasmus Hall zum Ziel gesetzt, an ein angesehenes privates Frauencollege zu kommen, wo sie vier Jahre mit Gleichgesinnten verbringen würde, die ebenso wissbegierig und unkonventionell waren wie sie. Dass Florence geglaubt hatte, ihr Vater würde dieses Vorhaben finanzieren, sagte weniger über ihre Selbstachtung als über Solomon Feins Gabe, die Familie gegen bestimmte offensichtliche finanzielle Realitäten abzuschirmen. Daher brauchte Florence fast ihr ganzes erstes Jahr am Hunter College, bis sie ihre Enttäuschung überwunden hatte. Im Oktober ihres zweiten Studienjahrs brach die Börse zusammen, und ihre Unzufriedenheit wich dem Erstaunen über den glücklichen Zufall, kostenfrei am College studieren zu können. Im Jahr darauf gab es eine neue unerwartete Wende: Der Brooklyner Ableger von Hunter fusionierte mit dem City College von New York und wurde als Brooklyn College ausgegliedert, der erste beiden Geschlechtern offenstehende staatliche Campus von New York. Der Name »Campus« war, wie Florence feststellte, allerdings übertrieben; da das College noch nicht über eigene Gebäude verfügte, wurden Räume in fünf verschiedenen Bürogebäuden in dem unruhigen Geschäftsviertel rings um Borough Hall angemietet. Während sie den Hindernisparcours der Fulton Street mit ihren Straßenbahnen absolvierte, entdeckte Florence schon bald die Cafés und Cafeterias in Brooklyns Mitte, in die Anwälte aus nahegelegenen Gerichten auf ein Corned-Beef-Sandwich ebenso hereinschauten wie Gruppen von kraushaarigen Studenten, die vielleicht nicht gerade das geistige Zentrum der Studentenbewegung bildeten, aber doch dazugehörten. Florence hatte nicht einmal gewusst, dass es eine Studentenbewegung gab. Aber hier war sie, ihre Vertreter debattierten über Lenin versus Marx, Stalin versus Trotzki oder schrien sich vielmehr, Brotscheiben schwenkend, über die langen Holztische hinweg an. Anfangs schüchterten die jungen Leute von der New Utrecht High Florence ein, hatten sie doch William Fosters Pamphlet Strike Strategy gelesen, wussten, wie man ein Komitee einrichtet, eine Flugschrift druckt, einen Streik auf die Beine stellt. Hatten es sogar schon getan! Während die Jungen und Mädchen an der Erasmus in Gemeinschaftskunde die Lincoln-Douglas-Debatten nachspielten, protestierte die Jugend aus Bensonhurst mit Milchboykotts gegen die hohen Preise für das Mittagessen an ihrer Highschool.
Es kam ihr verrückt vor, dass sie jemals die Absicht gehabt hatte, an ein College zu gehen, an dem die Mädchen sich aufführten wie in einem Pensionat und die Lehrer ihre Moral und ihr Betragen in die richtigen Bahnen zu lenken versuchten. Am Brooklyn College waren die Mädchen genauso kämpferisch wie die Jungen, schnitten sich die Haare ab, trugen sackartige Kleider und Sandalen ohne Strümpfe, gingen von Tür zu Tür und plädierten vor irischen Hausfrauen für Geburtenkontrolle. Sie betraten auch anderweitig Neuland, wohin zu folgen Florence noch vor sich hatte. Mit dem Segen ihrer Schutzheiligen Emma Goldman wollten sie ihre Unschuld lieber großzügig herschenken, als die lässlichere Sünde zu begehen und ihre Jungfräulichkeit unter dem heuchlerischen Gesetz des Kapitalismus zu verkaufen.
Jede Woche schaute Florence am Schwarzen Brett des Campus vorbei und las die Stellenangebote. Da wurde zum Beispiel eine »Stundenweise Beschäftigung für Studenten mit Hauptfach Naturwissenschaften« offeriert, doch wenn sie, die im Hauptfach Mathematik studierte, sich erkundigte, hatte die Arbeit nichts mit Physik, Chemie oder Astronomie zu tun, sondern bestand darin, Mülltonnen wegzubringen oder Schneematsch aus einer Lobby zu fegen. Die Verwaltung wandte sich nur deshalb an Hauptfachstudenten, damit sich nicht das ganze College bewarb.
Nach ihrem Abschluss erfuhr sie von einem Professor, für den sie gelegentlich Sekretariatsarbeiten erledigte, von einer Arbeit bei Amtorg. Ein Büro der American Trading Organisation im Norden von Manhattan, sagte er, suche eine Sekretärin mit Zahlenverständnis. »Ein bisschen Russisch können Sie doch auch, nicht? Könnte hilfreich sein.«
Es war Florences Vater, der darauf gedrungen hatte, dass sie Mathematik studierte, mit der Begründung, dass die Versicherungswirtschaft selbst bei schwersten ökonomischen Stürmen auf ebenem Kiel segelte. Florence war sich jedoch ziemlich sicher, dass die Arbeit, um die es dem Professor ging, nichts mit der Lebensversicherungsgesellschaft gemein hatte, bei der ihr Vater als Statistiker beschäftigt war.
»Die Sowjetische Handelsvertretung?« Sie erinnerte sich dunkel daran, in der Zeitung etwas gelesen zu haben. Sie fungiere praktisch als Botschaft, weil Amerika die bolschewistische Regierung nicht offiziell anerkannte. »Sind das dort nicht alles . Spione?«, sagte sie zweifelnd.
Der Professor, ein grauhaariger Progressiver, der nach Tabak und Menthol roch, gab sich Mühe, seine Enttäuschung nicht offen zu zeigen. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie die Boulevardpresse lesen, Florie. Jedenfalls arbeiten dort in der Vertragsabteilung fast nur Amerikaner«, sagte er beschwichtigend. »Und wenn es Sie nervös macht, ob Sie vielleicht einen Parteiausweis vorlegen sollen, keine Bange. Wer als Amerikaner bei Amtorg angestellt ist, darf kein aktiver Kommunist sein. Diplomatische Beziehungen sind ein sehr heikles Gebiet. Hauptsächlich arbeiten sie Import-Export-Verträge für Firmen aus, die Waren an die Russen verkaufen - Traktoren, Autos, Fertigungsanlagen und so weiter.«
»Ich dachte, wir machen mit den Bolschewiken keine Geschäfte.«
Wieder bedachte der Professor sie mit einem säuerlichen Lächeln. »Während der Napoleonischen Kriege pendelten Schiffe zwischen England und Frankreich und transportierten Waren über den Ärmelkanal. Und das, obwohl die beiden Nationen sich schwere Kämpfe lieferten. Befinden wir uns im Krieg mit den Russen?«
Die Sowjetische Handelsvertretung - unter Amtorg bekannt - hatte in der eleganten Fifth Avenue Quartier bezogen und operierte unter der Rechtsfiktion eines Privatunternehmens des Staates New York. In diplomatischen Kreisen war es Allgemeingut, dass die Amerikaner, die dort wichtige Posten bekleideten, so auch Florences Vorgesetzter Scoop Epstein, ihre Anweisungen direkt aus Moskau erhielten. Falls das zutraf, hätte Florence es den Reden allerdings nicht entnehmen können, die Scoop im Finanzdistrikt vor Managern amerikanischer Import-Export-Firmen hielt. Scoop referierte nicht über das Weltproletariat, sondern über das »gesteigerte sowjetische Interesse an amerikanischer Technik und Tüchtigkeit«. Er erzählte den amerikanischen Geschäftsleuten von den Millionen russischer Bauern, die zwar noch nie von Rykow oder Bucharin gehört hatten, aber alle den Namen Henry Ford kannten. Florence war nicht entgangen, dass die amerikanische Regierung der UdSSR die offizielle Anerkennung zwar nach wie vor verweigerte, amerikanische Unternehmen ihren finanzkräftigen neuen bolschewistischen Kunden aber nur zu gern Stahl und Drehbänke lieferten, Wälzlager, Betonstahl und Traktoren, während die heimische Kundschaft nach wie vor knapp bei Kasse war.
Bei Amtorg war sie nicht mehr als eine Sekretärin, fand die eintönige Arbeit wegen ihrer Nähe zu den Schaltstellen der Macht aber trotzdem äußerst reizvoll. Selbst bescheidene Verrichtungen kamen ihr imposant vor. Den Entwurf eines Vertrags über die Lieferung von 9000 Tonnen Stahl in den Ural zu korrigieren war sinnvoller und von größerer Tragweite als das zornige Geschrei von hundert Cafeteriakommunisten. Es konnte sein, dass sie in nur einer Woche einen Auftrag der russischen AMO-Fabrik zur Lieferung von Kaltprägepressen im Umfang von hunderttausend Dollar an die Toledo Machine and Tool Company und einen weiteren über Mehrspindeldrehmaschinen an die Greenlee Company in Rockford, Illinois, vergab oder bei der Hamilton Foundry and Machine Company in Ohio anrief und Gespräche über ein Abkommen zur technischen Unterstützung der Russen bei der Fertigung von zweihunderttausend Chassis für das neue Modell des SIS-Automobils anbahnte.
Nun, da sie aus dem Dunstkreis der College-Speisesäle herausgetreten war, konnte sie sich eingestehen, wie wenig ihr die donnernde Rhetorik gefallen hatte. Das dauernde Geschwätz über die Zerschlagung des bürgerlichen Staatswesens beleidigte ihre Werte von Disziplin und harter Arbeit. Es erschien ihr sinnlos, etwas Altes stürzen zu wollen, wenn man dazu beitragen konnte, etwas Neues aufzubauen. In der pragmatischen Gelassenheit, die trotz des hektischen Alltags in dem Büro herrschte, entdeckte sie eine Welt, die ihre lädierte Haut abstreifte und ihr, Florence, Einlass in ein inneres Heiligtum gewährte - einen Raum, in dem das monotone Summen und Surren der Schreibmaschinen und Telefaxgeräte dem gedämpften Murmeln eines Herzens glich, das Blut durch ein System starker Adern pumpte.
Scoop Epstein, ein rundlicher Junge in den Fünfzigern mit weichen Zügen, vereinte in sich vieles: Er war großzügig und verschlagen, prahlte mit seinen Verbindungen, war vernarrt in seine junge Assistentin und nahm Florence manchmal zu Besprechungen mit Geldgebern aus Manhattan oder Fabrikanten aus Indiana mit. Vor dem ersten gemeinsamen Mittagessen in der Wall Street war er jedoch ohne Umschweife auf ihre Beine zu...
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