3. Philosophie und Konzeption
Richard Wagner war von großen Entwicklungen und Diskussionen über Existenzielles begeistert. Wenn es um die Zukunft ging, so war er temperamentvoll und schnell erregt.38 Gleichzeitig war er aber auch mit der Geschichte sowie mit ihm vorausgegangenen Vertretern von Philosophie und Literatur gut vertraut. Egal ob Shakespeare, Hofmann, Marx, Hegel, Feuerbach oder Heine - Wagner hatte sie gelesen.39 In gesellschaftlich turbulenten Zeiten baute sich Wagner, beeinflusst von Zukunftsdrang und Revolutionsgeist, seine »private Philosophie«,40 welche er der Welt nicht vorenthalten wollte. Hans Hübner erklärt, dass Wagner »philosophisches Denken vermitteln wollte und es auch konnte.«41 Er sieht Wagner sogar als »Philosophielehrer«42 und nach Barbara Eichner verstand sich auch Wagner gewissermaßen als solcher: »Bereits 1851 sah sich Wagner als >Guru< einer bedingungslosen Gefolgschaft, wie er sie 25 Jahre später in Bayreuth tatsächlich um sich scharen sollte.«43 Dementsprechend wurden Wagner und Wagnerianer sicherlich schon häufig mit einem Propheten und dessen Jüngern verglichen.
Bei seinen philosophischen Überlegungen hatte Wagner nicht nur das Musiktheater im Blick. Auch weiterreichende und übergreifende Themen wurden von ihm behandelt.44 Häufig findet man in seinen Schriften Aussagen über Liebe, Erlösung oder über das menschliche Dasein. Wenn man Wagners Verbindung zur Weiblichkeit nachvollziehen will, dann dürfen diese Themenbereiche nicht außer Acht gelassen werden.45 Aus diesem Grund soll im Folgenden zunächst ein Blick auf Richard Wagners entsprechende philosophische Positionen geworfen werden.
3.1 Philosophische Vorbilder
Um seine eigene »Individualphilosophie« zu kreieren, bediente sich Wagner an bereits bestehendem Gedankengut, welches er sich zum Vorbild nahm,46 und erweiterte dieses mit seinen eigenen Überlegungen. Er setzte sich mit etlichen historischen und seinerzeit gegenwärtigen philosophischen und literarischen Ideen auseinander47 und es ist möglich, eine ganze Reihe von philosophischen Vorbildern zu nennen und zu thematisieren. Sich mit all deren philosophischen Werken und Gedanken tiefgehend auseinanderzusetzen, würde an dieser Stelle jedoch zu weit führen. Daher soll es zu einer knapp gefassten, chronologisch sortierten Benennung von einigen ausgewählten Denkern kommen, die Wagner eindrücklich beeinflussten, um die Ausgangssituation einordnen zu können und einen Fond zu schaffen. Der Kontext von Weiblichkeitskonzepten soll dabei, nach Möglichkeit, immer im Hinterkopf behalten werden.
Zuerst sei Platon genannt. Seit Nietzsche wurde die Verbindung zwischen Wagner und Platon immer wieder aufgegriffen. In Platons Symposium erläutert Aristophanes die »erotische Liebe des Menschen«48 und sieht darin eine Suche. Der Mensch sei demnach einmal ein vollständiges Ganzes gewesen. Jedoch sei er durch die Trennung der Geschlechter zum halben Menschen geworden, der nach der Wiedervereinigung zum Ganzen strebe. Die Anziehung und Sympathie zweier Menschen füreinander läge demnach im Gedenken und der Rückwendung an das Gefühl des Ganzen, welches die Seele vor der Geburt gekannt, nach der Geburt jedoch vergessen habe. Die Begegnung mit dem geliebten Menschen wird demnach als »Wiedererkennen«49 definiert. Die Relevanz für Wagner zeigt eine Äußerung in seiner Schrift Religion und Zukunft aus dem Jahr 1880. Dort »nannte Wagner die >Einswerdung< die >tiefste metaphysische Erkenntnis< überhaupt«.50
Die Diskussion um die Geschlechterrollen wurde in Deutschland Ende des 18. Jahrhunderts von Frankreich ausgehend beeinflusst.51 In diesem Zusammenhang muss der Name Jean-Jacques Rousseau fallen. Rousseau lieferte durch seine ideologischen Schriften maßgebende Erklärungen für die Geschlechterordnung des 18. Jahrhunderts.52 Diese wurden geschlechtsübergreifend in Deutschland ebenso häufig gelesen wie in Frankreich53 und waren daher weit verbreitet. Rousseau sah natürliche Unterschiede zwischen Frau und Mann, wie Astrid Heep zusammenfasst: »>Das Gesetz der Natur< weist den Mann >in der Verbindung beider Geschlechter< als >tätig< und >stark< aus, die Frau als >empfangend< und >schwach<.«54
Auch Johann Gottlieb Fichte sah eine durch die Natur gegebene, hierarchische Ordnung der Geschlechter. Er wird hier genannt, denn viele seiner Aussagen finden sich nahezu identisch bei Richard Wagner.55 Fichte gehörte zu den zahlreichen Autoren, die zu Ende des 18. Jahrhunderts »das >Aufgehen des Weibes im Manne< als auch die unbedingte Liebesfähigkeit des Weibes«56 propagierten. Kordula Knaus erläutert:
»Fichte spricht davon, dass >dem Weibe [.] die Liebe, der edelste aller Naturtriebe, angebohren< sei. Es habe, laut Fichte, das Bedürfnis >zu lieben und geliebt zu seyn< und erhalte seine Würde nur dadurch >das sie ganz so wie sie lebt und ist ihres Mannes sey, und sich ohne Vorbehalt, an ihn und in ihm verloren habe.<«57
Ein weiterer Vordenker Wagners war Ludwig Feuerbach. Es ist nicht ganz klar, wann Wagner mit dessen Gedankengut in Berührung kam, es muss jedoch zwischen 1841 und 1849 gewesen sein.58 Jedenfalls scheint Wagner Anhänger Feuerbachs gewesen zu sein, als er 1851 die Mitteilung an meine Freunde verfasste.59 Im Jahr 1840 veröffentlichte Feuerbach sein Hauptwerk Das Wesen des Christentums und zusätzlich erschienen 1843 die Grundsätze der Philosophie der Zukunft aus seiner Feder.60 Einige der von Feuerbach darin getroffenen Aussagen sollen nun genannt werden, denn diese sind bei Wagner sehr ähnlich wiederzuerkennen.61
Feuerbach betrachtete »die Wahrheit der Liebe« und »die Wahrheit der Empfindung«62 als das Fundament der neuen Philosophie. Er glaubte, dass der »wirkliche Mensch«63 Vernunft und Empfindung im Herzen vereinen könne. Daraus folgte die Idee, dass die »neue Philosophie [.] das zu Verstand gebrachte Herz«64 sei. Helmut Walther erklärt Feuerbachs Idee: »Das Herz will keine abstrakten, keine metaphysischen oder theologischen - es will wirkliche, es will sinnliche Gegenstände und Wesen.«65 Als »wahr und göttlich«66 wird dabei nur das angesehen, was nicht als solches bewiesen werden muss, sondern was augenscheinlich und zweifellos so erscheint. Außerdem sah Feuerbach nur in einer Verbindung aus zwei Menschen das Potenzial für Entwicklung und Gedeihen: »Zwei Menschen gehören zur Erzeugung des Menschen - des geistigen sogut wie des physischen: Die Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen ist das erste Prinzip und Kriterium der Wahrheit und Allgemeinheit.«67 Darüber hinaus erklärt Feuerbach die Religion und das Christentum in seiner Projektionstheorie kritisch »als Projektion unerfüllter menschlicher Sehnsüchte und Wünsche«.68
1849 verfasste Wagner die Schrift Das Kunstwerk der Zukunft. Aufgrund der vorausgegangenen Inspiration durch Feuerbach, widmete er diesem das Buch sogar.69 Ob Feuerbachs Gedanken in Wagners frühes musikalisches Werk bewusst Einzug fanden, ist heute unklar. Man findet als Antwort auf diese Frage verschiedene Positionen, da man nicht genau sagen kann, wann Wagner sich mit Feuerbach erstmals auseinandersetze. Wagners Begeisterung für Feuerbach dauerte jedenfalls nur bis zu dem Zeitpunkt an, zu dem er 1854 von seinem Freund Georg Herwegh das Hauptwerk Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung erhielt.70
Arthur Schopenhauer war einer der populärsten Philosophen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als Wagner die schopenhauerschen Thesen las, fielen diese bei ihm auf fruchtbaren Boden.71 Für die Beschäftigung mit Wagners frühem Werk spielt Schopenhauer keine Rolle, da sich Wagner erst ab 1854 mit ihm auseinandersetzte. Schopenhauer und dessen Impulse beeindruckten Wagner wie wenige andere.72 Daher sollen hier einige, thematisch passende Gedanken Schopenhauers genannt werden, die vielleicht grundsätzlich helfen können, Wagners Gedankengänge zu verstehen.
Schopenhauer äußerte sich direkt zur Geschlechtsliebe. Den »Geschlechtstrieb« sah er als das »stärkste natürliche Verlangen«,73 welches zur Fortpflanzung und Erhaltung der Menschheit diene. Die Befriedigung der menschlichen Triebe bewertete Schopenhauer als egoistisch und selbstsüchtig. Sie bediene nach ihm das Individuum, von dem er ohnehin nichts hielt, und bringe die Gesellschaft, abgesehen vom Gattungserhalt, nicht weiter. Dieser These konnte Wagner jedoch nicht ganz zustimmen.74 Astrid Heep erläutert:
»Im Unterschied zu Schopenhauer vermag Wagner das spezifisch Humane in der Geschlechtsliebe zu erkennen. Ihr sinnlicher Charakter steht für ihn nicht im Widerspruch zu den menschlichen Möglichkeiten als freie, geistige, nicht bloß triebhafte...