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Jedenfalls haben Mischnik und wir gemeinsam den Abend verbracht, ein bisschen gefeiert – bei uns in der Wohnung. Meine Art, mich bei ihm zu bedanken. Keine große Sache, du warst ja dabei. Agnieszka hat dir mit dem Finger etwas Wein auf die Lippen gestrichen, Burgunder, und man hat gesehen, dass er dir schmeckt; du hast wirklich gelächelt.
Und während ich unserem Vermieter nun die Vorzüge einer etwaigen Heckenbepflanzung an unserem Haus darlegte, damit nicht jeder gleich an unser Fenster treten kann, und mich nebenbei noch über Trötsch beschwerte (Der Mann braucht Hilfe!), muss auch ihm der Burgunder zugesagt haben. Schon komisch, ausgerechnet Mischnik, unserem General im Feldzug gegen den Alkohol! Wie er das wohl in Einklang bringt mit seinem Job?
Junge!, sagte er und legte seinen Arm um meine Schulter, und weil wir doch jetzt Freunde waren, noch einmal: Junge! Und dann sagte er: Mach dir keine Sorgen. Ein Straßenschild geht auch nicht den Weg, den es zeigt.
Gegen Mitternacht dann war Mischnik zwar nicht betrunken, wir haben es ja nicht übertrieben, aber doch etwas beschwipst. Also überredete ich ihn, wenigstens die nächsten zwei, drei Stunden bei uns auf dem Sofa zu verbringen, also um Himmelswillen hier nicht durchs Treppenhaus zu ziehen oder zu schleichen und dann noch über den Hof in den übernächsten Aufgang, an dem auf irgendeinem Klingelschild sein Name steht. Ganz sicher hätte einer unserer Nachbarn ihn gesehen und später herumerzählt: Der Mischnik war besoffen! – Was nicht der Wahrheit entsprach, aber die Leute übertreiben ja gern.
Diese Aufmerksamkeit unserer Nachbarn hat also durchaus ihre Schattenseiten: All die lieben Menschen sind eben sehr aufmerksam. Mischnik hat erzählt, dass sie uns sogar schon bei ihm angeschwärzt hätten – wegen Alkohol! Allen voran Trötsch. – Ich glaube es ja nicht!, sage ich. Herr Trötsch hat sich über uns beschwert? Trötsch ist eine Petze? – Er informiert mich, sagt Mischnik und muss selber lachen.
Angeblich sollen wir beide, Vater, in deinem Rollstuhl Schnaps ins Haus gebracht haben. Ja und? Wir wohnen hier als Mieter, nicht als Patienten. Ich muss den Schnaps nicht schmuggeln. Aber das verstehen die alten Leute nicht.
Und Trötsch, der Mieter über uns? Wenigstens wissen wir jetzt, warum unsere Wohnung lange Zeit leer gestanden hat.
Was sonst noch geschah? Alter Mann, die Besuchszeit ist lange schon vorbei. Tut mir leid, dir das sagen zu müssen. Da kommt keiner. Deine Freunde und Genossen wissen alle, wo und wie du jetzt lebst. Miriam hat vor Wochen schon in Potsdam Bescheid gegeben, hat deiner Fraktion unsere Adresse hinterlegt. Die Sekretärin hat unsere Nummer. Und? Hat von denen irgendwer angerufen?
Deine alten Gefährten denken: Also der Karl-Heinz, der Genosse Carlo, der will seine Ruhe haben, bestimmt. – Außerdem: Die haben längst Abschied genommen. Weißt du nicht mehr? Als du im Maschinenraum gelegen hast, auf der Station, mit den Schläuchen an Körper und Gesicht, überall die Drähte. An deinem Bett haben sie gestanden, einzeln und in Gruppen, waren herbeigeeilt, dir die Hand zu halten, solange die noch warm war. Dir die Hand zu reichen, das war früher ein Erlebnis. Davon reden die noch heute! Und nicht nur davon. Deine Freunde haben gesehen, dass du dich aus dem Leben geschlichen hast und dein Körper aufgebahrt war. Dass daneben noch der Bildschirm flimmerte, war nicht von Belang. Vater, ich stand daneben: Die haben bereits Anekdoten von dir ausgetauscht! Aber keine Sorge, haben alle nur gut von dir geredet, wie es sich gehört.
Und auch Miriam und ich, wir dachten, der Raum wäre so etwas wie ein Sterbezimmer. Wir empfanden es als Trost, nicht allein an deinem Bett zu stehen. Was wir da für Leute kennengelernt haben!
Und Sie beide?, sprach uns die eine Frau an. Mir war nicht klar, ob sie dich aus alten Zeiten kannte oder aus ganz alten. Vielleicht überlegte sie auch, Miriam und mich zu umarmen, in aller Verbundenheit, ließ es dann aber sein, sagte: Sie sind bestimmt Tochter und Sohn? – Wir nickten. – Euer Vater hat viel von euch erzählt. Ihr beide könnt sehr stolz sein auf euren Papa.
Oh, das bin ich! Herrgott, ich platze vor Stolz!
Deshalb – aus Stolz! – schiebe ich dich auch dauernd durch Schehrsdorf. Die ganze Welt soll meinen Vater sehen!
Nein, mein Bester, da kommt keiner mehr. Kein Besuch, niemand. Das war’s. Nicht nur du hast vergessen, auch die anderen haben vergessen und zwar dich.
So weit hätte es nicht kommen müssen. Kein Mensch sollte nach seinem Leben noch weiter existieren. Nicht gegen seinen Willen. Nicht einmal du. Will heißen: So eine Patientenverfügung ist doch eine feine Sache. Dann weiß der Herr Sohn auch, was der Altvordere fürs Ende wollte. Und vor allem: was nicht, was auf gar keinen Fall passieren darf!
Weißt du, was in meiner Verfügung steht? Nur für den Fall, dass auch in meinem Hirn der Kabelbrand ausbricht, dass auch ich nach dem dritten Schlaganfall mein Sprachzentrum verliere: Bitte hinterlassen Sie meinen Körper so, wie Sie ihn vorgefunden haben!
Und die Sache mit der Magensonde habe ich mir auch sehr gründlich überlegt; fühlt sich nicht gut an, denke ich.
Die Ärzte aber versuchen alles – mit Schlauch, Tropf und Drähten. Ganz im Sinne der Klinikleitung: In den paar Wochen Intensivstation haben die ein Vermögen an dir verdient. Nein, wirklich, als Koma-Patient bist du eine Gelddruckmaschine – die Kasse muss zahlen.
Eines Tages kamen die Ärzte uns schon im Flur entgegen, nahmen uns in Empfang. Ich glaubte, sie wollten uns schonend beibringen, dass unser Vater heute … – aber ganz und gar nicht!
Die sagten: Ihr Vater atmet wieder normal und selbstständig.
Gibt’s denn so was?, habe ich gedacht. Ist doch ein zäher Hund, der Alte.
Wenig später haben sie dich auf eine andere Station gebracht, auf der du zwei Monate gelegen hast, in einem Zwei-Bett-Zimmer mit einem Türken, ebenfalls im Wachkoma.
Dass der Mann neben dir nicht aufgewacht ist, wundert mich bis heute. Seine Familie war den ganzen Tag über bei ihm. Die Ehefrau, die Töchter (allesamt mit Kopftuch) oder einer seiner Schwiegersöhne – irgendwer saß immer bei ihm am Bett und hielt Wache. Bis zum frühen Abend fand sich der halbe Clan ein: Brüder, Onkel, Enkel und Nichten. Da krabbelten Kinder auf dem Boden, spielten mit Matchbox-Autos, der Fernseher lief.
Womöglich war das der Grund, warum deine Genossen schon bald von dir abließen. Die haben sich gesagt: Was sollen wir auf einer türkischen Familienfeier? – Feier würde ich das nicht nennen. Eine Art Krankenhauspicknick war das. Da wurde Kuchen gereicht; ich konnte wählen zwischen Tee, Kaffee und Saft. Und denke mal nicht, dass da im Raum zu jeder Stunde andächtige Ruhe herrschte, wie man es im Zimmer von Schwerkranken gewohnt ist; dein Zimmerfreund sollte doch alles mitbekommen (und wir offenbar auch).
Bald schon haben Miriam und ich beinahe zur Familie gehört. Ganz ehrlich, Vater: Dein Bettnachbar und du, ihr zwei habt aber auch ausgesehen wie Brüder! Wenn Miriam und ich das Zimmer betraten, wurden wir jetzt immer aufs aller Herzlichste begrüßt, so, als ob wir gerade nach Hause gekommen wären. Die Großmutter des Mannes war immer so nett und schüttelte dein Kissen auf. Und dann erst die Blumenpracht auf deinem Nachttisch! Im Wechsel: Tulpen, Nelken, Orchideen! Die Sträuße waren alle nicht von deinen Kindern. Kurzum: Die Türken haben dich gemocht. Außerordentlich liebenswürdige Menschen, und du hast uns zusammengebracht!
Einmal haben sie mich sogar zum Bahnhof gefahren. Es war schon spät und draußen Herbst. Regen tobte. Also wurde auf Geheiß der Großmutter irgendein Sohn oder Neffe abkommandiert, mich mit dem Wagen zur Bahn zu bringen. – Für Miriam war das alles ein wenig zu viel. Sie sagte, sie wisse nicht, wie das in Istanbul gehandhabt werde. Hier aber gäbe es feste Besuchszeiten, von fünfzehn bis neunzehn Uhr.
Was denn?, fragte ich. Willste dich beschweren? Lass doch die Leute.
Wenn du nun aber jeden Tag dasselbe Krankenzimmer betrittst und immer ist Bambule, dann schleichen sich mit der Zeit schon gewisse Zweifel ein. Wobei Zweifel nicht das Problem sind. Jeder Theologe sagt dir, dass Zweifel zum Glauben gehören. Die Türken haben einfach genervt. Irgendwann wird man selbst krank, während beim Kranken alles bleibt wie es ist.
Und so kam es: Miriam hatte ihr eigenes Leben und ich auch. Wenn man es genau nimmt, hast du doch gar nicht gemerkt, wer dich wann besucht, wer an deinem Bett gesessen und wer deine Hand gehalten hat. Ich stand damals noch mitten im Berufsleben, hatte verschiedene Projekte und Jobs. Miriam genauso. Deine Tochter hatte außerdem, aber ich wiederhole mich, ihre Kinder zu versorgen. Erst haben wir uns eine Zeit lang mit den Besuchen abgewechselt. Wenn es dann an mir war, nach dir zu schauen, reichte meine Zeit oft nur für ein Stückchen Baklava und eine Tasse Tee. Selbstverständlich habe ich mich entschuldigt, habe der Familie deines Zimmerkollegen gesagt: Tut mir leid, bedaure, aber …
Die Familie war sehr freundlich. Kein Problem, junger Mann! Der Schwiegersohn, der immer zwischen euren Betten saß...
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