Schweitzer Fachinformationen
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Irgendwann ist es Zeit, Farbe zu bekennen.
Oranges Rosa umhüllte die Wolken, legte sich leuchtend auf die Straße und auf Wallensteins Zunge. Es schmeckte wehmütig, bittersüß, nach einer Mischung aus Himbeeren und Pampelmuse. Ganz anders dagegen der dunkle Waldrand. Er klang dumpf und drohend und trennte die Häuser vom lichten Nebelmeer. Daraus ragten die Bergspitzen wie blaue Inseln auf. Vorsichtig beugte Wallenstein sich vor, um die vibrierende Luft mit den Fingerspitzen zu berühren.
»Nicht anfassen!«, warnte ihn eine Frauenstimme.
Sofort trat er einen Schritt zurück und murmelte eine Entschuldigung. Das Gemälde hätte auf dem Balkon seiner Ferienwohnung entstanden sein können. Gabriele Münter, Olympiastraße, 1936, stand auf einem kleinen Infoschild. Schlicht, schwarz auf weiß. Das Bild hätte einen poetischeren Titel verdient. Aber vermutlich waren Worte für Maler nicht so wichtig.
Langsam ging er weiter. Die Aufseherin heftete sich an seine Fersen und folgte ihm durch den Ausstellungsraum des Murnauer Schlossmuseums. Wahrscheinlich hielt sie ihn für einen gefährlichen Kunstattentäter. Aber er war nur ein normaler Besucher. Ein fast normaler. Seit Wallenstein zurückdenken konnte, hatten Farben für ihn einen besonderen Reiz. Sie erreichten nicht nur seine Netzhaut, sondern drangen wie Klänge viel tiefer. Nicht umsonst gab es das Wort Farbton, überlegte er, blieb immer wieder stehen und hörte den Bildern zu. Sie waren Musik.
Sie waren aber auch Geschmack und Gefühl. Es war kompliziert, es in Worte zu fassen. Nur gut, dass er nie über seine Synästhesie sprach. Inzwischen wusste er, dass seine Farbwahrnehmung mit anderen Sinneseindrücken verflochten war. Als er seinen Eltern im Kindergartenalter einmal davon erzählt hatte, war sein Vater von einer Behinderung oder psychischen Erkrankung ausgegangen und hatte seinen einzigen Sohn zum Neurologen geschickt, der ihn jedoch nicht hatte heilen können. Im Lauf der Zeit hatte Wallenstein gelernt, sich an der Norm zu orientieren und seine Reaktionen so gut wie möglich zu verbergen. Er versuchte nicht mehr, Farbtöne nachzusingen, geschweige denn dazu zu tanzen, aber berühren wollte er sie immer noch. Meistens konnte er diesen Impuls jedoch gut kontrollieren.
Jahrzehntelang war es auch gut gegangen. Und dann hatte er sich leichtsinnig aus der Großstadt ins Blaue Land versetzen lassen und gehofft, hier Ruhe und Frieden zu finden. Stattdessen war sein Innerstes aufgebrochen. Das Licht, das schon Malerinnen und Künstler angezogen hatte, vertiefte die Farben, brachte die Welt zum Strahlen, zum Klingen, zum Schmecken. Es legte sich auf Haut und Zunge. Als er dann vor sieben Wochen auch noch den Madlfinger Handarbeitsladen Wolllust betreten hatte, war der Farbrausch komplett gewesen. Vielleicht waren dafür aber nicht nur die vielen bunten und flauschigen Knäuel im Wollregal verantwortlich, sondern auch die Ladenbesitzerin Ariadne Schäfer selbst.
Wallenstein blieb vor einem Gemälde stehen und betrachtete ein durchscheinendes Himmelgrau, das ihn an Ariadne erinnerte und nach Freiheit und Meer klang. Seit dem ersten Zusammentreffen war sie ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Anfangs hatte er ihr misstraut, befürchtet, dass sie durch ihre berufliche Vergangenheit mit dem Mordfall in ihrem Laden verwickelt sein könnte. Er hatte sich in diese Theorie und seine unklaren Gefühle zu der rätselhaften Frau verstrickt und erst im letzten Moment die richtigen Schlüsse gezogen. Leider aufgrund der falschen Beobachtungen. Aber immerhin hatte er den Mord in Ariadnes Wollladen aufgeklärt. Trotzdem wusste er jetzt noch weniger als zuvor, wie er mit ihr umgehen sollte. Da hatte auch der sechswöchige Sonderurlaub, den er nach seinem ersten Madlfinger-Fall auf Island verbracht hatte, nicht geholfen. Immer wieder hatte er versucht, Ariadne anzurufen. Doch jedes Mal, bevor er die grüne Hörertaste drücken konnte, verließ ihn der Mut, und er hatte das Handy wieder weggelegt. Wenn er mit ihr sprach, wollte er ihre Augen sehen, deren wandelbares Grau mit den bernsteinfarbigen Sprenkeln geradezu magisch war. Kein Künstler, keine Malerin, kein Pigment würde es einfangen können.
Die Aufseherin räusperte sich. Wallenstein war einem Gemälde, das Gabriele Münter in Skandinavien gemalt hatte, schon wieder verdächtig nahe gekommen. Bedeutend näher als der Wollladenbesitzerin.
Inzwischen wusste er zwar, dass der Wikingerhüne, den er in Ariadnes Küche für ihren Liebhaber gehalten hatte, ihr Bruder Hakon war. Mehr hatte er jedoch nicht in Erfahrung bringen können. Obwohl er Hakon auf Island fast täglich getroffen und ihn sogar auf seinem Fischerboot begleitet hatte, waren alle mehr oder weniger unauffälligen Verhörversuche gescheitert.
»Du wirst sie selbst fragen müssen. Sie würde mir nämlich die Haut über die Ohren ziehen, wenn ich irgendeines ihrer kleinen oder großen Geheimnisse ausplaudern würde. Da ist meine kleine Schwester ziemlich kompliziert.«
Wallenstein hatte es akzeptiert und stattdessen geholfen, die Netze auszuwerfen. Seite an Seite hatten die Männer auf die unruhige See geblickt und der hochspritzenden Gischt getrotzt.
»Weißt du, dass ihr zweiter Name Elin >die Strahlende< bedeutet?«, hatte Hakon ihn nach einer Weile gefragt.
»Nein, wundert mich aber nicht. Sie leuchtet von innen und ist so zauberhaft wie eine Fee.«
Grinsend hatte Hakon ihm auf die Schulter geklopft. »Du zappelst ganz schön am Haken. Aber täusch dich nicht, mein Schwesterchen ist nicht so sanft wie die Feen in euren Märchen. In Island sind die Fabelwesen wild und unberechenbar.«
»Ist das eine Warnung?«
Hakon hatte ihm einen großen Fisch zugeworfen. »Nein, eine Aufforderung. Ich wäre froh, wenn sich endlich mal ein Kerl in ihre Nähe traut und nicht sofort den Schwanz einzieht, wenn's schwierig wird.«
Nach weiteren tiefgründigen Gedanken zu Ariadne beendete Wallenstein den Rundgang und schlenderte vom Schlossmuseum direkt zum Wohnhaus von Gabriele Münter in der Kottmüllerallee. Danach war sein Kunstbedürfnis gedeckt, und er gönnte sich in der gut besuchten Murnauer Fußgängerzone mit ihren bunten Häusern einen Eiskaffee. Selbst von hier aus konnte man die Berge sehen. Er bewunderte das Panorama und die Auslage eines Blumenladens, der direkt neben der Eisdiele lag. Bei einem Strauß Kornblumen konnte er nicht widerstehen. Er würde ihn Ariadne bringen, zusammen mit den Snúðar, den isländischen Zimtschnecken aus Ariadnes Lieblingsbäckerei in Akureyri, die Hakon ihm mitgegeben hatte. Jetzt gab es keine Ausrede mehr. Morgen würde er nach Madlfing fahren und Farbe bekennen. Sein letzter Anlauf war grandios gescheitert, und die für Ariadne bestimmten Blumen hatte er damals seiner Kollegin Lissi zur Geburt ihres vierten Kindes geschenkt. Diesmal würde es mit dem Neuanfang besser laufen. Er war erholt, wach und voller Energie.
Als das Handy in seiner Anzugtasche vibrierte, stand er gerade an der Kasse einer Buchhandlung. Der Bücherstapel vor ihm war ansehnlich. Zwei Bildbände über die Künstlervereinigung Blauer Reiter, ein bayerisches Kochbuch, eine Biografie über die Malerin Gabriele Münter, die Meisterschule Aquarell: Alle Techniken Schritt für Schritt und sogar ein Regionalkrimi. Bisher hatte Wallenstein um dieses Genre einen Bogen gemacht. Aber das farbenfrohe Cover mit saftigen Wiesen, schneebedeckten Bergen und einer neugierig blickenden Kuh hatte ihn spontan angesprochen. Höchstwahrscheinlich wäre dieser Tote in den kommenden Monaten sein einziger Mordfall, den er zusammen mit dem ermittelnden Almwirt und seiner Kuh Zenzi am See liegend lösen würde. Diese Vorstellung gefiel ihm überaus gut.
»Hi, Chef«, brüllte Arne aus dem Gerät.
»Von wegen Chef. Wie geht's dir?«, fragte Wallenstein seinen besten Freund und legte drei Fünfzigeuroscheine auf den Tresen.
»Betti hat mich verlassen.«
Wallenstein suchte nach Kleingeld und tröstenden Worten, aber ehrlicherweise wusste er nicht einmal, wer Betti war.
»Halb so wild. Sie hat mich gegen einen Sesselpupser von der IT-Forensik eingetauscht. Aber jetzt sind mit dem holden Glück auch meine kompletten Urlaubspläne geplatzt, und da dachte ich mir, ich könnte dich besuchen und das beschauliche Leben in der Provinz genießen.«
»Immer gerne.«
»Morgen um kurz vor elf?«
Wallenstein war sprachlos, hoffte aber, dass Arne einen seiner bekannten Scherze machte. Sie hatten vereinbart, dass er im August für ein verlängertes Wochenende kommen würde.
»Kannst mich am Bahnhof abholen. Dann können wir mit einem Weißwurstfrühstück starten.«
Wallenstein entspannte sich. Als passionierter VW-Bus-Fahrer würde Arne nie in einen Zug steigen. »Jetzt mal ernst. Wann willst du wirklich kommen?«
»Hab ich doch schon gesagt. Morgen.«
»Echt jetzt?«
»Klar. Ich mache mich stehenden Fußes auf den Weg ins schöne Bayern.«
Die Verkäuferin lächelte Wallenstein mitfühlend an, packte seine Bücher ein und flüsterte: »Das ist normal. Hier will jeder Urlaub machen.«
Arne hörte ausgezeichnet. »Genau! Ich schalte einfach mal 'nen Gang runter.« Er lachte. »Nein, ich geh sogar ganz vom Gas runter und reise klimaneutral.«
Wallensteins Blick blieb an den Lebensratgebern hängen. Es ging um Achtsamkeit, Gelassenheit, Stressreduktion und das innere Kind, das eine Heimat brauchte. Lauter Dinge, die er dringend nötig hatte. Vor allem die Heimat.
»Aber du weißt schon, dass ich...
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