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Zurück zu Algerien, dem am längsten und am stärksten kolonisierten Land der Region. Als französische Truppen im Juli 1830 in der Nähe von Algier an Land gingen, konnte noch niemand ahnen, welche Folgen die Militärexpedition haben würde. Anders als ein paar Jahrzehnte zuvor in Ägypten kamen die Franzosen nicht gut vorbereitet, und auch der Grund des Einsatzes war eigentlich eine Lappalie. Drei Jahre vorher hatte der osmanische Gouverneur von Algerien, der hier Dey hieß, im Streit um ausstehende Schulden den französischen Konsul angeblich mit einer Fliegenklatsche geschlagen. Aus innenpolitischen Gründen entsandte der König in Paris daraufhin eine Flotte nach Algier, an eine dauerhafte Besetzung war überhaupt nicht gedacht. Schon nach wenigen Tagen allerdings floh der osmanische Gouverneur nach Istanbul, mit der Konsequenz, dass Frankreich plötzlich eine Eroberung in Nordafrika gemacht hatte.
In den folgenden Jahren debattierte die französische Öffentlichkeit, was mit Algerien geschehen solle. Schließlich plädierte unter anderen der berühmte liberale Vordenker Alexis de Tocqueville für eine weitgehende Kolonisierung und Besiedlung des nordafrikanischen Gebiets. Allerdings standen zunächst nur Algier und einige weitere Hafenstädte unter französischer Kontrolle. Im Binnenland bildeten sich nach der Flucht des Deys neue einheimische Gemeinwesen. Als Frankreichs Hauptgegner bei der Kolonisierung Algeriens entpuppte sich der junge Anführer einer Sufibruderschaft, ?Abd al-Qadir (1808-?1883), der im folgenden Jahrhundert zum algerischen Nationalhelden stilisiert werden sollte. Gestützt auf seine Qadiriyya-Bruderschaft und seine scherifische Herkunft (das heißt Abstammung vom Propheten Muhammad), gelang es ?Abd al-Qadir, ein eigenes Emirat in Westalgerien aufzubauen, das sogar über eine moderne nizami Armee nach dem Vorbild der ägyptischen und osmanischen Militärreformen verfügte (s. I.1.).
Nach wiederholten kriegerischen Auseinandersetzungen und Waffenstillständen kam es 1839 zum endgültigen Bruch, woraufhin der Konflikt voll aufflammte. Nach der Eroberung seiner Hauptstadt Mascara im Nordwesten Algeriens bewegten ?Abd al-Qadir und seine Truppen sich mit einer Zeltstadt als einer Art mobilen Kommandozentrale durchs Land und wichen den französischen Einheiten immer wieder aus. Die Situation änderte sich erst, als 1841 General Thomas-Robert Bugeaud (1784-?1849) Generalgouverneur von Algerien wurde, der auf brutale Repression setzte, um das Gebiet endlich ganz unter französische Kontrolle zu bringen. Als Mittel, ?Abd al-Qadirs Guerrillataktiken zu begegnen, verfolgte er eine Strategie der verbrannten Erde, führte offen Krieg gegen die Zivilbevölkerung und ließ deren Lebensgrundlagen zerstören. Angesichts der Brutalität und der zunehmend aussichtslosen Situation kapitulierte ?Abd al-Qadir letztlich 1847. Mitte der 1850er Jahre war der gesamte Norden Algeriens bis zum Wüstensaum unter die Herrschaft Frankreichs gekommen, die dünn besiedelten Sahararegionen folgten bis Anfang des 20. Jahrhunderts.
Nur wenige Monate nach ?Abd al-Qadirs Kapitulation entstand 1848 die Zweite Republik, die Algerien zum integralen Staatsgebiet Frankreichs erklärte. Was einem tendenziell antikolonialen Gleichheitsgedanken entsprungen war, sollte zum zentralen Merkmal der Kolonialherrschaft werden. Algerien war eine normale, in Départements unterteilte Region Frankreichs, nicht anders als die Bretagne oder die Provence. Folglich wurde noch bis in den Unabhängigkeitskrieg der 1950er Jahre hinein in Paris überhaupt nicht darüber diskutiert, das Land selbstständig werden zu lassen.
Bald nach der Eroberung Algiers 1830 hatte die Kolonisierung des fruchtbaren Hinterlandes der Stadt auf der Mitidja-Hochebene begonnen. Sechs Jahre nach der französischen Invasion lebten immerhin schon an die 15.000 Europäerinnen und Europäer in Algerien. Nach der Niederlage ?Abd al-Qadirs nahm die Siedlungskolonisation weiter an Fahrt auf: In den 1880er Jahren umfasste die europäische Bevölkerung bereits rund eine halbe Million Menschen, während die muslimische seit Beginn der Eroberung immer weiter gesunken war, auf nun gut zwei Millionen. Das lag zum einen an den direkten Folgen der brutalen Kriege, die Zigtausende das Leben gekostet hatten, aber auch an den verschlechterten Lebensbedingungen einer bäuerlichen Gesellschaft, die von den europäischen Neuankömmlingen immer weiter von den fruchtbaren Ländereien verdrängt wurde.
Nach dem Tiefpunkt in den 1880er Jahren wuchs die einheimische Bevölkerung wieder und erreichte beim Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges 1954 schließlich ungefähr neun Millionen. Auch die Siedlerbevölkerung wuchs weiter, allerdings weniger stark. Hatte sie während des relativen Höchststandes rund ein Fünftel der Gesamtbevölkerung eingenommen, so machten die eine Million europäischstämmiger Menschen am Ende der Kolonialherrschaft nur noch ein Zehntel aus. Allerdings gab es große geografische Unterschiede: Küstenmetropolen wie Algier und Oran hatten über die gesamte Kolonialzeit eine europäische Mehrheit; Ähnliches galt für viele Kleinstädte in den Zentren der landwirtschaftlichen Siedlung auf der Mitidja oder im Hinterland von Oran. Dagegen bildeten Tlemcen im Westen und Constantine im Osten die muslimischen Metropolen des Landes.
In einer Hinsicht war Algerien keine normale Region Frankreichs: Die einheimische Bevölkerungsmehrheit - die niemals als «algerisch», sondern immer als «eingeboren» (frz. indigène) oder als «muslimisch» bezeichnet wurde - hatte keine Bürgerrechte. Diese galten nur für die «europäische» Einwohnerschaft, die auch die Bürgermeister algerischer Orte stellte und von eigenen Abgeordneten in der Pariser Nationalversammlung vertreten wurde. Dagegen beinhaltete das «Eingeborenengesetz» (frz. code de l'indigénat) von 1881 bestimmte Vergehen, für die nur die indigènes belangt werden konnten, die zudem härter bestraft wurden. Ebenfalls in den 1880er Jahren erhielt die gesamte Siedlerbevölkerung - die mehrheitlich gar nicht aus Frankreich stammte, sondern aus Spanien, Italien, Malta und anderen europäischen Ländern - die französische Staatsbürgerschaft, im Gegensatz zu den Einheimischen: Diese konnten bestenfalls die Einbürgerung beantragen, wenn sie das islamische Personenstandsrecht aufgaben, was häufig als Abfall vom Glauben interpretiert wurde. Schon 1870 hatte außerdem die jüdische Einwohnerschaft Algeriens die französische Staatsbürgerschaft bekommen. Damit verfolgte die Kolonialverwaltung eine Politik des «Teile und Herrsche», und tatsächlich europäisierten sich die jüdischen Gemeinden in der Folge zunehmend (s. I.2.).
Die Einheimischen waren nicht nur in rechtlicher Hinsicht Menschen zweiter Klasse in ihrem Land: Wie erwähnt galt ab 1880 eine allgemeine Schulpflicht in Algerien (s. I.3.), doch noch 70 Jahre später erreichte die Einschulungsrate muslimischer Kinder nicht mehr als zehn Prozent. Der Unterricht war ohnehin ausschließlich auf Französisch, Arabisch wurde höchstens als Fremdsprache angeboten, Berbersprachen gar nicht. Infolgedessen betrug die Analphabetenquote unter der einheimischen Bevölkerung noch in den 1950er Jahren über 86 Prozent. Die Verdrängung von gutem Ackerland und die mangelnden Bildungschancen führten zu immenser Armut. Algerische Arbeitskräfte verdingten sich mehr schlecht als recht in europäischen Landwirtschaftsbetrieben oder städtischen Haushalten, im 20. Jahrhundert zogen viele in die französischen Industriezentren.
Seit Tocqueville hatten sich Politiker und Siedlervertreter immer wieder ausgemalt, Algerien zu einem französischen Pendant zu Nordamerika zu machen, wo die dezimierte Urbevölkerung allenfalls noch in Reservaten ihr Dasein fristen könne. Die Siedlungskolonie stellte insofern den Extremfall der...
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