Schweitzer Fachinformationen
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Am Anfang war das Bild. Das ist der Schlüssel zum Drama der ganzen Geschichte. Ein eisiger Ostwind jagte finstere Wolkenfetzen über den Himmel - und irgendwo krähte ein Hahn. Auf den ersten Blick schien alles zufällig zu sein. Doch das war es nicht.
Manchmal passieren Dinge, die sich niemand erklären kann und die auch keiner erklären muss. Wenn Grenzen ausgegrenzt werden und Unmögliches möglich wird.
Es geschah genau an dem Tag, als ein tonnenschwerer Komet über die Erde raste und einen endlos langen, blutroten Schweif hinter sich herzog. Kaum jemand bemerkte ihn, die meisten Menschen waren mit ganz irdischen Dingen beschäftigt.
Dichter Nebel und Eiseskälte umhüllten das mit Efeu überwucherte Gemäuer. Zwei Ratten huschten den holprigen Weg entlang. An der Ecke der Mauer hielten sie kurz inne, sie witterten Gefahr und spürten, dass sich heute alles verändern würde. Dann liefen sie weiter und verschwanden rasch in einem schmalen Spalt, der in düstere Unzugänglichkeit führte.
Irgendetwas war anders, war verkehrt.
Manchmal spürt man, dass etwas nicht stimmt, doch man weiß nicht genau, was es ist. Eine Ahnung, die sich in keine konkreten Worte fassen lässt. Nur ein untrügliches Gefühl ist da. Meistens kann man sich darauf verlassen.
Karl-Gustav Bracks überkam solch ein Gefühl, als er an diesem schaurigen Sonntag versuchte, die schwere Eichentür aufzuschließen. Er war Küster der Klosterkirche in Stadthagen, ein stattlicher Mann, der mit seinem gezwirbelten Schnauzbart Individualität, aber auch Schwermut ausstrahlte. Sein pechschwarzes Haar hatte er nach hinten zu einem Zopf gebunden. Als er vor Jahren seinen Dienst begann, störten sich einige Gemeindeglieder an seinem Äußeren und meinten, das würde nicht zum Bild von Kirche passen. Inzwischen jedoch hatten sie ihn wegen seiner hilfsbereiten und freundlichen Art fest ins Herz geschlossen. Allerdings ahnte niemand, dass er auch eine dunkle, unheimliche Seite besaß, die er zu verbergen suchte.
Umständlich hatte Bracks den sperrigen Bund aus seiner Hosentasche gezogen. Der lange, tiefschwarze Schlüssel mit dem kantigen Bart fiel unter den anderen sofort auf und man sah ihm an, dass er bereits Jahrhunderte auf dem Buckel hatte. Es schien, als wollte er diesmal nicht ins Schloss passen. Sich nicht anpassen an das, was man von ihm erwartete.
Bracks schimpfte, drückte und bohrte. So etwas hatte er noch nicht erlebt. War der Schlüssel heimlich ausgetauscht und gefälscht worden, oder hatte es jemand gewagt, das uralte Schloss auszuwechseln? Unvorstellbar!
Ein Geräusch hinter ihm.
Er zuckte zusammen und fuhr herum.
"Ist da jemand?" Seine Stimme klang unsicher.
Auf einmal färbte sich der Nebel in zartes Rosa, dann stärker rötlich. Er verschlang alles Sichtbare und gab keine Antwort. Nur Schweigen und bedrückende Stille herrschten.
Der Küster starrte regungslos in dieses Nichts hinein, das immer dichter wurde und bald tiefrot war, wie dickflüssiges Blut. Ein schlimmes Omen.
Bracks spürte, wie ihm auf einmal alle Gelenke wehtaten, als wäre er schwer krank und sein Lebenselixier würde unaufhaltsam entweichen. Stattdessen kroch Kälte wie Schlangengift in ihm hoch und er begann zu zittern. Verzweifelt presste er seinen Mantel eng an sich.
Was war das?
Direkt an seinen Füßen huschte etwas Pelziges vorbei. Ein Schauder lief ihm über den Rücken.
"Nun mach schon", flehte er und schüttelte sich voller Ekel.
Endlich passte der Schlüssel hinein. Mit aller Kraft drehte er ihn herum. Das alte Holz der Tür bebte und ächzte, als wollte es den Zugang nicht freigeben.
Der Mann wurde zornig und fluchte, auch wenn das an diesem Ort nicht schicklich war. In einer halben Stunde würde der Gottesdienst beginnen und dann müsste alles vorbereitet sein. Schließlich legte er großen Wert darauf, den Küsterdienst in gewissenhafter Weise zu versehen. Auf ihn sollte man sich absolut verlassen können.
Aber heute war alles anders.
Ängstlich blickte er sich noch einmal um. Stand da im Nebel ein Schatten und beobachtete genau, was er tat?
Plötzlich schlug in der Ferne eine Turmuhr. Sankt Martini. Es war halb elf.
Mit kräftigem Ruck zog er die Tür auf und betrat den Eingang. Augenblicklich umhüllte ihn düstere Dunkelheit und abgestandene, modrige Luft wehte ihm entgegen. Hektisch tastete er nach dem Lichtschalter links in der Ecke. Der große Kronleuchter in der Mitte des Kirchenschiffs flackerte unruhig auf und tauchte den Raum in matten Schein. Bedächtiger als sonst schritt er weiter. Alles schien in Ordnung zu sein. Erleichtert atmete er auf.
Dann stutzte er.
Es roch anders. Nicht wie sonst. Seltsam.
Jeder Raum, jeder Ort und jeder Mensch haben ihren eigenen Geruch, der unnachahmlich ist. Ein unverwechselbares Merkmal - wie ein Code.
In Sekundenschnelle merkte er: Hier stimmt etwas nicht!
Sein Herz fing heftig zu pochen an. Langsam schlich er voran. Entsetzt zuckte er zusammen.
Vorgestern hatte er die Kirche das letzte Mal betreten und sie in vollkommener Ordnung verlassen. Diese war ihm sehr wichtig. Wenn es in einer Kirche nicht ordentlich zuging, wie sollte dann der Mensch lernen, Ordnung in der Welt zu schaffen? Aber was er jetzt sah, stand dem total entgegen. Dort lag etwas an der Seite zwischen den Stuhlreihen. Unübersehbar.
Vor Schreck presste er die Hand vor den Mund. Wie gelähmt stand er da. Seine Augen waren geweitet und starrten auf einen Körper, der an der linken Mauerseite unterhalb eines gewaltigen Grabsteins lag. Bracks wusste sofort, dass da kein Leben mehr war.
Endlich gab er sich einen Ruck. Langsam, wie in Zeitlupe, schlich er heran. Dort lag eine uralte Leiche, eine Mumie. Unter einer zerfetzten Kapuze lugte ein kahler Schädel hervor, die Augenhöhlen waren leer und glotzten ihn gruselig an. Die Gestalt lag, in braune Kleidung gehüllt, auf dem Rücken, die Beine waren leicht gespreizt, während sich die Arme eng am Körper befanden. Dürre, wie aus Leder wirkende Finger sahen wie Krallen aus, die vergeblich versuchten, etwas festzuhalten. Dennoch wirkte die Szene ruhig. Gespenstisch ruhig. Absolut tot.
Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Wie gut, dass meine Frau nicht hier ist, dachte er, sie hätte hysterisch geschrien. Langsam überwog seine Neugier, er kam sich wie in einem Krimi vor und wusste dennoch, dass alles wirklich war. Vorsichtig hockte er sich in gehörigem Abstand neben die Mumie und sah genauer hin. Erst jetzt bemerkte er die ungewöhnliche Kleidung. Der äußere Umhang, wie ein Mantel gestaltet, war zerrissen, in der Nähe des Herzens aufgequollen und dunkelrot gefärbt. Unter dem Gewand blitzte Stoff hervor, der vornehm mit goldenen Fäden durchzogen war. An den ledernen Fingern entdeckte er zwei wertvolle Ringe. An den Füßen befanden sich schwere Lederstiefel mit luxuriösen Schnallen. Solche hatte er noch nie gesehen.
"Guten Morgen, Meister Bracks!", trällerte plötzlich eine melodiöse Stimme von hinten.
Vor Schreck fuhr er herum. Der Organist war gekommen und wedelte mit seinem Choralbuch, aus dem einige lose Seiten hingen.
"Schnell raus hier", gebot er dem Mann und drängte ihn zum Ausgang.
"Warum, was ist denn passiert? Gleich beginnt doch der Gottesdienst ..."
"Der wird heute ausfallen", bestimmte der Küster resolut und ließ keine Diskussion zu.
Seine Stimme bebte und ihn fröstelte. Behände schob er den erstaunten Musikus nach draußen und verschloss mit kräftigem Drücken die Kirchentür. Hier kommt keiner mehr rein!
Irritiert schaute er sich um. Der dichte Nebel, der vorhin noch mit Macht alles verschluckt und gefärbt hatte, war verzogen. Jetzt wirkte die Gegend schwarz-weiß, es schien keine Farben mehr zu geben. Nur noch graue, kahle Obstbäume im Klostergarten wiegten sich müde im Wind und totes Laub tanzte um die Ecken nach der Melodie der Vergänglichkeit. Schwarze Krähen krächzten in den Ästen.
Bracks griff zum Handy und wählte den Notruf der Polizei.
Es dauerte nicht lange, bis die Beamten eintrafen. Eine Mumie in der ehrwürdigen Klosterkirche zu Stadthagen, das hatten sie noch nicht erlebt. Bald waren auch der Pastor und etliche Gottesdienstbesucher erschienen, die wie eine Traube vor dem Gebäude standen und mit großer Betroffenheit, aber auch Neugier ungeduldig auf Nachrichten warteten.
Die Polizei drängte schließlich alle Besucher, unverzüglich das Klostergelände zu verlassen. Selbst Karl-Gustav Bracks musste gehen und seinen Kirchenschlüssel abgeben. Leise murrte er, weil dadurch seine Pläne durchkreuzt wurden. Doch es half nichts, der Polizeibeamte war unerbittlich.
Der romantische Klostergarten wurde abgeriegelt und sämtliche Tore verschlossen. Überall flatterte rot-weiß gestreiftes Markierungsband. Höchste Stellen ordneten an, dass eine Nachrichtensperre verhängt wurde. Von diesem grausigen Fund durfte nichts bekannt werden. Die örtliche und überregionale Presse würden sich sonst erbarmungslos auf den Fall stürzen und alle Welt mit wilden Spekulationen überrollen. So etwas wollte man im beschaulichen Stadthagen unbedingt vermeiden. Der Fürst zu Schaumburg-Lippe hätte als Protektor der Evangelisch-Reformierten Kirche persönlich darauf gedrungen, dass es keine unangenehmen Schlagzeilen gab.
Bald war die Spurensicherung zur Stelle und dokumentierte eifrig den Fundort. Unzählige Fotos wurden geschossen und Spuren gesichert. Schließlich wurde die Mumie geborgen, nach draußen...
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