Schweitzer Fachinformationen
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I
DIE STADT HAT sich verbarrikadiert. An den Einfallstraßen bilden sich lange Staus. Überall Verengungen, Umleitungen, Baustellen. Rotweiße Absperrungen machen einem das Leben schwer. Ständig muss man ausweichen, Umwege fahren, Platz machen. Als würde mit Gewalt versucht, niemanden in die Stadt vordringen zu lassen. Warum eigentlich, frage ich mich und überlege, ob diese Taktik bei mir schon verfängt. Ich bin genervt, ich hasse unnützes Warten. Zudem ist es heiß, verdammt heiß. Wenn ich das Fenster öffne, dringt feuchte, dampfige Luft ins Wageninnere. Es ist, als schneide man einen Kuchen an, der eben aus der Backröhre kommt. Jede Bewegung ist anstrengend, ich muss mich zwingen, konzentriert zu bleiben. Dabei ist es erst 7 Uhr morgens.
Endlich kann ich den Ring verlassen. Ich bremse vor dem fest installierten Blitzer ab und reihe mich in die Schlange der wartenden Autos vor der Ampel ein. Nymphenburger Straße. Habe ich mal sehr gemocht, diese lange, gerade Straße. Die etwas zurückgesetzten, fast herrschaftlichen Häuser. Eine breite Allee mit Fahrradweg und dem Blick auf die Propyläen am Königsplatz. Hat sich natürlich auch verändert. Immerhin ist die Parteizentrale der CSU weg. Weg aus ihrem Hinterhof, wo die Granden ihre Pressekonferenzen auf dem Parkplatz abhielten. Im Schwabinger Norden hat man dann vor ein paar Jahren ein modernes Gebäude gekauft, immerhin in der Mies-van-der-Rohe-Straße. Aber der Chef schaut angeblich auf eine Tankstelle.
Als ich in München zu studieren begann, wohnte damals ein Freund aus Jugendzeiten in der Nymphenburger Straße. Bei ihm, der eine klappbare Badewanne in der Küche besaß, sah ich Achternbusch erstmals im Fernsehen. »Der Komantsche«. Ein wilder Film. Verstanden hatte ich, dass da jemand intensiv um sich selbst kreist. Später, im Studium, fuhr ich in den Freistunden zum Bierbichler nach Ambach, um den Sepp und den Herbert leibhaftig granteln zu sehen. Und noch später feierte die Stadt den Herbert, der die Stadt 60 Jahre ertragen hat und sie ihn, für diese Leistung. In den Kammerspielen, in den Museen, bei Dichtung & Wahrheit, im Franziskaner. Im Literaturhaus gab es den Zyklus »Hinundherbert« und Gespräche über seine Bücher als Nebensache. Als es um die Filme ging, saß mein Freund mit auf dem Podium. Mir schenkte Achternbusch ein schwarzes Ölbild mit bunten Explosionen und dem zarten Titel »Ficken wie die Fliegen«. Ich nahm es nicht persönlich.
Endlich haben sich alle in den Fahrbahnen sortiert. Ich könnte abbiegen, muss aber sofort wieder bremsen, weil ein Schwarm bunt gekleideter Menschen auf Rädern und Rollern in beiden Richtungen und in erstaunlichem Tempo die Straße kreuzt. Kleinkinder werden in kreativ gestalteten Anhängern zu ihren Verwahranstalten gebracht. Manche Eltern brettern so zügig über die Bordsteinkanten, dass ich mich frage, ob die lieben Kleinen völlig angstbefreit sind oder schon am Morgen durch Medikamente ruhiggestellt wurden. Endlich freie Fahrt für freie Bürger! Ich schleiche im Konvoi der Berufstätigen die Allee entlang, an meiner früheren Lieblingstankstelle vorbei, an der mir Rolf Zacher eines Abends grundlos Prügel angedroht hat. Und am Cinema, wo ich das erste und letzte Mal zwei Filme direkt hintereinander angesehen habe. Wenigstens läuft die Playlist auf vollen Touren.
Der NSU-Prozess ist vor einiger Zeit zu Ende gegangen, die Übertragungswagen der Sendeanstalten wurden abgezogen. Der Platz vor dem Oberlandesgericht sieht so öde und zubetoniert aus wie zuvor. Es ist schon seltsam in der Stadt der Bewegung. Als ich nach München kam, verteilten Neonazis in der Fußgängerzone antisemitische Flugblätter gegen die Serie »Holocaust«. Ein Jahr später dann das Wiesn-Attentat mit zwölf Toten und über 200 Verletzten. Erst vor ein paar Wochen habe ich in der Zeitung gelesen, wie schwer sich das Kulturreferat tut, anlässlich des Gedenkens an den Brandanschlag auf das Nachtlokal Liverpool in der Schillerstraße vor 40 Jahren durch die Gruppe Ludwig, bei dem eine junge Frau gestorben ist, eine Gedenktafel anzubringen, die an die Opfer des rechten Terrors erinnert.
Als ich einmal mit meinen kleinen Sportwagen von der Nymphenburger um die Ecke in die Sandstraße fuhr und einen im Weg stehenden Polizeibus anhupte, wurde daraus eine einstündige Prozedur, in der die Beamten meinen Wagen komplett auseinandernahmen und mich nach Drogen und Waffen filzten. Eigentlich unzulässig, dass mir das gerade jetzt einfällt, aber jedes Mal, wenn ich in die Gegend komme, muss ich daran denken.
Die Sandstraße war früher eine kleine, unscheinbare Nebenstraße. Der kürzeste Weg vom Mittleren Ring Richtung Schwabing. Jetzt dominiert hier der Brutalismus der sogenannten Nymphenburger Höfe. Eine werbliche Wolke. Nymphenburg ist weit und höfisch ist hier rein gar nichts. Reinste Maklerpoesie, um über 100 Wohnungen auf dem ehemaligen Löwenbräu-Areal an den Mann und an die Frau zu bringen. Wenn man 1 ½ Millionen Euro für eine Dreizimmerwohnung übrig hat, kann man hier einziehen. Um Teil des »elegant-urbanen Lebens« in München zu werden. Die »zeitlos eleganten Eigentumswohnungen« richten sich an die »Liebhaber des Schönen«. So steht es jedenfalls auf dem Werbebanner. Alle Einheiten scheinen wohl noch nicht verkauft zu sein. Und sicher werden in einem Hochglanzprospekt auch die Freunde »bodengleicher Duschen«, »lichtdurchfluteter Essbereiche« oder eines sagenhaften »SkyDecks« im x-ten Obergeschoss angesprochen. Was auch immer das sein mag. Vielleicht der private Hubschrauberlandeplatz, wahrscheinlich aber nur eine schlichte Dachterrasse.
Das Elend besteht nicht darin, dass es viel zu wenige Wohnungen gibt, sondern dass die meisten neueren Wohnviertel so schlecht geplant wurden. München, das kann ich mit Bestimmtheit sagen, steht in der Tabelle zeitgenössischer Wohnarchitektur auf einem Abstiegsplatz. Aber egal, was wie gebaut wird - hier lässt es sich im Sekundentakt verkaufen. Diese Wohnensembles und Quartiere gleichen luxuriösen Gefängniszellen im Schuhschachtelformat. »Living in a box.«
Hier lebt man nicht, hier wohnt man nur. Zu absurd hohen Preisen. Die viele Menschen ausschließen. Menschen mit ästhetischem Empfinden ohnehin. Denn wer etwas nachdenkt, wird sich sagen, dass er so nicht leben möchte.
Ich werde am Josephsplatz parken. Mein erster Termin ist um die Ecke. Und ich kann notfalls mit der U-Bahn zurückfahren. Ich stecke mir Stöpsel in die Ohren und muss lächeln. Hier fing auch für mich vor über 40 Jahren alles an.
In Köln konzentrierten sie sich damals auf Film, Erlangen war zu nah am heimischen Strand, Wien in der Walachei. Blieben nur München und Berlin. Das Institut in Berlin lag in einer lauschigen Villengegend. Fahrräder im Garten, Kreidetafel am Türpfosten, alternativer Touch. Der Putz an den Stiegen vor dem Haus bröckelte, an den Wänden hingen bunte Zettel mit Seminarangeboten und Mietgesuchen. Nur kein Hinweis auf eine Sprechstunde. Das Haus erschien mir wie eine Mischung aus Wohnküche und Labor, das hatte etwas Romantisches, offen Studentisches, und gefiel mir gut. Eine junge Frau mit krausem Haar und roten Schlabberhosen stand plötzlich neben mir am Brett.
»Kann ich dir helfen?«
»Ach, ich weiß nicht. Ich will mich nur mal informieren, was hier so läuft.«
»Verstehe.« Sie kramte in ihrer Jutetasche. Holte schließlich Stift und Block heraus und begann, Prüfungstermine zu notieren.
Ich zeigte mich ahnungslos und schüchtern. »Was macht ihr denn hier so?«
»Ach, vor allem viel politisches Theater. Brecht, Weiss, Müller und so was. Das liegt am Chef, der mag keinen artifiziellen Firlefanz.«
»Interessant. Du bist wahrscheinlich schon lange hier?«
Sie blickte ihn kurz an und lächelte. »Hier bleiben fast alle lange. Wer hier einsteigt, der engagiert sich auch. Ist wie 'ne große Familie, verstehst du?
Ich nickte und verstand gar nichts.
»Wir machen irre viele gemeinsame Projekte, Straßentheater, Schulbühne, praktische Theaterarbeit eben. Nicht nur den wissenschaftlichen Überbau, hier lernt man alles von der Pike auf. Ganz real. Das ist das Schöne.« In ihren Augen blitzte Begeisterung, nun hatte sie sich warm geredet. »Hier geht es um gesellschaftliche Relevanz, um Erkenntnisprozesse, um Aufklärung. Kein Schnickschnack, keine ästhetischen Spielereien. Wir dringen in die Geschichte ein und durch sie hindurch. Das ist hier die heilige Lehre.« Sie lachte. Ich wusste nicht, ob das ironisch gemeint war.
»Haltung, sagt der Chef immer, Haltung ist das, was zählt.« Während sie sprach, war sie mir sehr nahe gekommen, ihr Gesicht nur noch wenige Zentimeter von meiner Nasenspitze entfernt.
»Du hast schöne Augen«, sagte ich.
Die Wirkung war ernüchternd. »Danke.« Sie rückte deutlich von mir ab. »Ich bin nicht sicher, ob du mich verstanden hast.«
»Doch, doch. Das ist alles sehr beeindruckend.« Ich machte eine kurze Pause. »Ich kenne nur niemanden in Berlin. Ich wüsste auch nicht, wo ich wohnen...
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