Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Eine Anthologie der Vielfalt und weiblichen Perspektiven
Seit einem Jahrzehnt ist das Kollektiv »10 nach 8« (bei ZEIT ONLINE) ein unverzichtbarer Teil der deutschsprachigen Medienlandschaft. Was als Gegenpol zu patriarchalen Diskursen begann, hat sich zu einer vielseitigen Plattform entwickelt, auf der über 600 weibliche und nonbinäre Perspektiven Gehör fanden.
Hier begegnen wir nicht nur Schriftsteller*innen und Journalist*innen, sondern auch Wissenschaftler* innen, Künstler*innen und Unternehmer*innen, deren Geschichten von Alltagserfahrungen bis hin zu globalen Themen wie Flucht, Krieg und Diskriminierung reichen. Einige dieser Stimmen sind in ihren Heimatländern verstummt oder finden kaum Gehör, und genau hier werden ihre Perspektiven lebendig. Gemeinsam schaffen sie ein eindringliches Bild der Vielfalt ihrer Erfahrungen und laden uns ein, die Welt mit ihren Augen zu sehen.
»10 nach 8« hat ein feministisches Juwel geschaffen, das über das Digitale hinaus nun auch als Buch zum greifbaren Diskurs wird. Eine Einladung zum Mitdenken, Hinterfragen und Verändern.
»Ein feministisches Juwel in der Medienlandschaft« Simone Schmollack, TAZ
14. Juni 2024
Wir veröffentlichen bei 10 nach 8 regelmäßig Texte von Frauen, die in Kriegs- und Krisengebieten leben. Die Beiträge entstehen teils unter äußerst schwierigen Bedingungen, manche können zum Schutz der Autorinnen nur unter Wahrung ihrer Anonymität publiziert werden. Aus diesem Grund ist der Name der belarussischen Autorin, die hier über ihren Alltag berichtet, ein Pseudonym. Auch der Name der Übersetzerin kann aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht werden.
Aufstehen! Kaffee, Fitness, ich gehe zum Markt. Im Frühling sind alle Nachbarn auf ihren Datschen, nur wenige Autos sind im Hof. Es ist praktisch, um den Überblick zu behalten. So lässt sich leichter beobachten, ob ein Geely mit den üblichen zwei Männern um die dreißig vor dem Eingang steht. Vor den Sanktionen fuhren sie Skoda, jetzt dieses chinesische Modell in unauffälliger Farbe.
Kein solches Auto in Sicht. Also gehe ich raus. Die Sonne scheint. Die rot-grünen Staatsfahnen sehen wie Lappen aus. Wieso sehe ich keine Polizisten? Ach ja, heute ist Samstag. Nanu! Die Jabatki (Anhänger des Präsidenten, Anm. der Red.) haben ein Blumenbeet in der Form des Umrisses von Belarus angelegt. Morgen werden sie hier wohl rote Blumen pflanzen und das Beet mit einem übergroßen Schild versehen, damit es aus dem Weltall zu sehen ist.
Ich erreiche den Markt, finde den Stand mit dem handgemachten Sauerteigbrot.
Hallöchen. Dürfte ich ein halbes Brot haben?
Da gibt es nichts zu schneiden, nehmen Sie doch das Ganze. Nur fünf Rubel.
Wie könnte ich mit einem belarussischsprachigen Bäcker streiten, der den Tisch mit einer rot-weißen Tischdecke dekoriert hat?
Okay, ich nehme es.
Sie sind die erste Käuferin heute. Bringen Sie Glück?
Je nachdem. Ich kann auch das Gegenteil bringen, wenn es um einen Feind geht.
Dann tun Sie es doch!
Tja, wie kommt man denn dazu?
Ja, das Ungeheuer ist unerreichbar.
Danke. Einen schönen Tag noch!
Ebenfalls! Bis dann.
Ich laufe weiter zum Eierverkäufer.
Hallöchen, wie geht's?
Es geht so. Ich bin Einzelunternehmer. Halb lebendig, halb tot. Der Druck lässt nicht nach.
Ich weiß. Es ist ein Wunder, dass ihr noch nicht komplett aufgegeben habt. Ich hätte gern zwei Zehnerpackungen Eier. Die bemalten, bitte.
Gehen Sie in die Kirche?
Nee, zu den Z-Patrioten gehe ich nicht. Ich lasse sie mir durch einen Aufständischen weihen.
Er lacht.
Fertig mit den Einkäufen. Laufe nach Hause, checke die Nachrichten, packe ein und beeile mich, um zu einem Kumpel zu kommen, der ohne Pass in einem Versteck auf seine Schleusung ins Ausland wartet.
Ich steige aus dem Trolleybus aus. Verdecke mein Gesicht mit Kappe und Brille. Handy ist auf Flugmodus gestellt. Ich checke die Situation in der näheren Umgebung. Alles scheint sicher, ich tippe den Code, gehe durch die Haustür, horche. Es ist still, ich mache das vereinbarte Klopfzeichen an der Wohnungstür. Werde begrüßt und übergebe Osterkuchen und Eier.
Hier hast du was zu essen für morgen. Was, wenn wir das nächste Ostern in einem freien Belarus feiern dürfen? Was, wenn ein Wunder geschieht?
Weißt du vielleicht, wie lange ich noch auf das Zeichen zur Abreise warten muss?
Das kann ein Tag, eine Woche oder ein Monat sein. Du musst Geduld haben. Ihr seid viele.
Wir trinken Kaffee und reden über anderes.
Dann muss ich weiter zur Maniküre. Ich betrete den Salon. Kacja ist wie immer beschäftigt, macht gerade einer die Augenbrauen.
Schaffe ich es noch, mir Zigaretten zu holen?
Ab mit dir! Du hast dreieinhalb Minuten.
Ich bin nach zweieinhalb zurück und rufe:
Ich bin wieder da.
Die Kundin hinter dem Paravent der Fußpflege meldet sich:
Wo arbeiten Sie denn, dass Sie so gut Belarussisch sprechen?
Arbeitslos. Ich spreche es, weil ich Belarussin bin.
Ich mag es auch, Belarussisch zu sprechen. Nur leider habe ich keine Gesprächspartner.
Ich auch nicht. Also rede ich mit mir selbst und jetzt mit Ihnen. Wo haben Sie es denn erlernt?
2020, mit Google Translate.
Kacja: Lass uns eine rauchen.
Wir gehen raus.
Ist die Tante eine Jabatka? Ich bin zu gesellig, kann es sein, dass gleich die GUBOPiK (staatlicher Sicherheitsdienst, Anm. der Red.) kommt?
Weiß ich nicht. Niemand sagt, was er denkt.
Lass uns das prüfen.
Wir rauchen auf und gehen wieder rein.
Die Kundin hinter dem Paravent: Meine Kinder können gut Belarussisch, schriftlich wie mündlich. Dritte Klasse.
Ich: Sind Sie Lehrerin?
Die Kundin hinter dem Paravent: Ja, bin ich. Schade, dass wir unsere Sprache nicht sprechen. Meine Mutter unterrichtete Biologie in den Siebzigern noch auf Belarussisch. Damals war alles auf Belarussisch.
Kosmetikerinnen: So war es auch bei uns in den Neunzigern.
Lehrerin: Das aber nur ganz kurz. Die Lehrbücher waren gerade erschienen, schon war Schluss damit.
Ich: Und wie ist es so in der Schule? Wie stark ist der Druck?
Lehrerin: Wir haben Glück mit unserer Schulleiterin. Die benachbarte Schule dagegen wird von so einer richtigen Generalin geleitet. Bei uns ist alles okay. Nur die Eltern bringen mich manchmal auf die Palme. Neulich kam der Vater eines Schülers, sie stammen aus Turkmenistan, und meinte: Der Sohn will nicht in die Schule, weil ihm Belarussisch zu schwer ist.
Ich: Ich hätte ihn gefragt, wie es denn war, wenn in Turkmenistan jemand wegen der Sprache nicht zur Schule wollte.
Meisterin: Genau!
Lehrerin: Meine Familie macht diesen Sommer Urlaub an der russischen Schwarzmeerküste, in Gelendschik. Ohne mich. Jeden Sommer waren wir in Odessa, das kann man jetzt vergessen.
Meisterin: Ja. Selbst wenn alles schnell zu Ende geht, verzeihen die Ukrainer uns nicht. Kein Odessa mehr, solange wir leben. Selbst am Tschernobyl-Tag hat sich in der Ukraine niemand an uns erinnert. Als ob es uns nicht gäbe.
Ich: Warum denn ausgerechnet Gelendschik? Verstehen Ihre Kinder nicht, dass sie dadurch den Krieg finanzieren?
Lehrerin: Sie machen sich keine Gedanken darüber.
Ich: Schade, dass die jungen Menschen sich keine Gedanken machen. Meine Kollegin hat Urlaub in Moskau gemacht.
Lehrerin: Was mich angeht, ich habe beschlossen, den Urlaub auf dem Fahrrad und im Schwimmbad zu verbringen. Allein. Ich bin schon sechsundsechzig.
Ich: Super! Melden Sie sich doch bei einer Dating-App an.
Lehrerin: Ach, nee! Dort findet man niemanden Vernünftigen. Alle vernünftigen Kandidaten sind . wir alle wissen, wo sie sind.
Ich: Wir wissen es. Wir müssen die einen befreien und die anderen zurückholen.
Lehrerin: Die kommen nicht zurück.
Ich: Diejenigen, deren Kinder im Ausland zur Schule gehen, kommen ganz bestimmt nicht mehr zurück. Habt ihr gehört, dass der Selbsternannte verlangt hat, ganz genau auszurechnen, wie viele in Wirklichkeit ausgereist sind? Eine Million! Wir waren 9,5 Millionen, sind jetzt nur noch 8,5. Davon nur drei Millionen arbeitsfähig.
Meisterin: Woher weißt du das?
Ich: Aus mehreren vertrauenswürdigen Quellen.
Meisterin: Welchen Nagellack nehmen wir?
Ich: Nehmen Sie rot mit weißen Streifen. Als Zeichen.
Lehrerin: Wisst ihr, dass schon einige wegen der Farbe ihrer Nägel verhaftet worden sind?
Kosmetikerinnen: Wissen wir.
Ich: Mit der Sprache ist es genauso.
Lehrerin: Haben Sie keine Angst?
Ich: Nein. Mir wurde schon alles genommen, zurückgeblieben ist nur die Perspektive auf Handschellen. Ich habe nichts zu verlieren. Sollen sie mich verhaften.
Ich: Kacja, ich hätte gern noch Nagelöl.
Meisterin: Öl?
Ich: Ja!
Meisterin: So ein klasse Wort.
Ich: Ja. Man sagt, die belarussische Sprache sei arm. Aber für ein russisches Wort wie Öl haben wir so viele belarussische Wörter: Butter, Öl, technisches Öl. Für das russische Wort "öffnen" gibt es mehr als zehn belarussische Synonyme.
Meisterin: Woher weißt du denn das alles?
Lehrerin: Man muss Bücher lesen, besonders die verbotenen und halb verbotenen. Uladsimir Karatkewitsch zum Beispiel. Früher habe ich YouTube geschaut. Und jetzt ist da nur ein leerer, grüner Bildschirm. Ich schaue Euronews, aber nur die Textleiste. Denn die Nachbarn dürfen es nicht...
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