Schweitzer Fachinformationen
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1. Kapitel
Eine Blume verblüht,
ein Feuer verglüht,
ein Apfel ist verderblich.
Nur unsere Freundschaft ist unsterblich.
POESIEALBUMSPRUCH
Die schwarz lackierte Gondel schwankte gefährlich, als Nele schwungvoll hineinsprang und prompt strauchelte. Ihre blonden Locken hüpften dabei ebenso heftig auf und nieder wie der Gondelbug mit dem venezianischen Metallbeschlag. Die zwei Freundinnen, die bereits saßen, lachten und fingen sie auf.
»Dio mio«, murmelte der Gondoliere, der am Heck stand.
Er wartete kopfschüttelnd darauf, dass endlich alle fünf Frauen einstiegen und sicher saßen, und versuchte, das schmale Boot mithilfe des mehrere Meter langen Riemens ins Gleichgewicht zu bringen. Diese tedesca bionda war besonders schlimm. Hoffentlich hielt sie während der Fahrt die Füße still! Sicher, er mochte temperamentvolle Frauen, und besonders blonde. Aber a letto, nicht in seiner Gondel.
Eva reichte Nele die Hand, um ihr zu helfen. Sie kannten sich, seit sie in Berlin zusammen in der Werbeagentur Frenz & Friends gearbeitet hatten, wo sie sich ebenfalls häufig gegenseitig gerettet hatten. Wenn auch eher im übertragenen Sinn.
Nele plumpste ungelenk auf den Sitz neben Eva, und erneut schwankte die Gondel bedrohlich. Aber nicht nur ihretwegen, auch wegen eines Vaporettos voller Touristen und Einheimischer, das so dicht an ihnen vorbeiknatterte, dass die Wellen an die Gondel schlugen und das Wasser nur so spritzte.
Dorothee, die auf der Sitzbank vor ihnen saß, schrie auf. Sie war ausgesprochen wasserscheu, klammerte sich an die Bordwand, die dem Ufer zugewandt war, und lehnte sich darüber - mit dem Ergebnis, dass der Gondoliere am Heck hastig seine Position wechseln musste, um das Kippeln auszugleichen.
»Nele, sei doch vorsichtig! Willst du, dass wir alle auf dem Grund des Canal Grande landen?«, meckerte Marion vom Steg aus.
Sie hatte Neles Einsteigemanöver kritisch beobachtet und machte sich nun ebenfalls daran, in die Gondel zu steigen. Ungehalten strich sie sich ihren blond gefärbten Pagenkopf zurück, bevor sie eine der helfenden Hände ergriff, die sich ihr entgegenstreckten.
Die anderen kannten das bereits von Marion: Als Lehrerin in einer Grundschule hatte sie immer bestimmte Vorstellungen von dem, was sie alle auf welche Art und Weise tun sollten, und war gelegentlich ein bisschen streng mit ihnen. Oder zumindest mit Nele wie jetzt gerade. Neles Art, immer zu unbekümmert, zu waghalsig zu sein - in allen Bereichen des Lebens, bestimmt nicht nur beim Einsteigen in eine Gondel -, forderte Marions pädagogische Grundeinstellung geradezu heraus. Doch sie war klug genug, die Ignoranz ihrer Freundinnen zu ignorieren. Und so kamen sie wunderbar miteinander aus, waren nun schon seit acht Jahren unzertrennlich.
Marion machte einen Schritt ins Boot und ließ sich neben Dorothee nieder. Sie griff nach dem Reiseführer in ihrer Tasche, schlug ihn auf und vertiefte sich hinein, ungerührt von den Gesprächen um sie herum und dem tänzelnden Boot auf den Wellen des Kanals.
Von dem Moment an, als der Flieger italienischen Boden berührt hatte, war sie keinen Schritt mehr ohne ihren Reiseführer gegangen. Sie seufzte leise.
»Warum seufzt du?«, fragte Dorothee. »Weil Nele wie ein Elefant in den Kahn eingestiegen ist und ihn fast zum Kentern gebracht hätte?«
Marion schüttelte den Kopf. »Nein, weil ich an die Seufzerbrücke denken muss.« Julika, die Fünfte im Bunde, hatte die vier Freundinnen für einige Tage nach Venedig eingeladen, aber es war Marion, die sie wie eine Stadtführerin auf Droge von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit gescheucht hatte. »All die Gefangenen, die über Jahrhunderte von dem Justizgebäude über diese kleine Brücke zu ihrer Hinrichtung oder ins Gefängnis gebracht wurden, in diese Zellen unter dem Bleidach, in denen die Hitze unerträglich gewesen sein muss.« Marion seufzte wieder und sah nachdenklich einer leeren Coladose nach, die an ihnen vorbei in Richtung Rialtobrücke dümpelte. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Sag mal, Dorothee, du als erfahrene Mutter von vier erwachsenen Gören und einem Enkel - meinst du, ich könnte das in meiner sechsten Klasse als Thema eines Aufsatzes nehmen? Wie fühlten sich die Gefangenen, die über die Seufzerbrücke gehen mussten?«
Dorothee sah sie an, als wäre ihr plötzlich ein Horn gewachsen. »Spinnst du, Marion? Natürlich nicht! In Neukölln gibt es doch so viele Flüchtlingskinder, auch in deiner Klasse. Hast du das nicht gestern Abend gerade erzählt? Die haben schon genug Schlimmes mitgemacht, da musst du sie nicht auch noch an den Horror erinnern.«
Marion nickte bestürzt. »Stimmt. Du hast recht. Und die anderen Schüler muss ich nicht auf dumme Gedanken bringen. Am Ende fangen sie an, sich gegenseitig auf dem Dachboden einzusperren und Knast zu spielen. Ich bin ja so was von blöd. Meinst du, ich werde allmählich zu alt für den Job? Es wird wirklich Zeit, dass ich in Rente gehe.«
Dorothee tätschelte ihr beruhigend das Knie. »Ein paar Jahre musst du noch durchhalten.«
»Acht.« Marion seufzte wieder, diesmal allerdings voller Bewunderung für Dorothees Lebensweisheit - und natürlich war sie hingerissen von der Lagunenstadt. So viel gab es hier zu sehen. Sie war sich nur nicht sicher, ob sie Erfolg damit hatte, ihren Freundinnen die kulturellen Details der Schönheiten Venedigs nahezubringen. Alle waren von der Stadt beeindruckt, aber die Geburts- und Sterbedaten von Tizian, Tintoretto & Co waren ihnen schnurz, egal, wie sehr sich Marion bemühte. Da ähnelten die Freundinnen fatal ihren Grundschülern. Fehlte nur noch, dass sie heimlich mit ihren Handys spielten, während sie ihnen etwas erklärte.
Julika Montecurris italienischer Exmann Lorenzo war ein paar Jahre nach ihrer Scheidung verstorben und hatte ihr ein Haus in Florenz vermacht. Julika, die Italien und vor allem die mediterrane Wärme liebte, hatte Berlin den Rücken gekehrt und war in den Schoß der Montecurri-Familie zurückgekehrt, die ihrerseits die verlorene deutsche Exschwiegertochter mit offenen Armen aufgenommen hatte.
Insbesondere Sergio Montecurri, der überaus attraktive Neffe des verstorbenen Lorenzo, wich seitdem nicht von Julikas Seite. Wenn sie ein Verhältnis hatten, was die Freundinnen vermuteten, verbargen sie es allerdings sehr diskret vor allen anderen, vielleicht, um das Andenken an den Verstorbenen in Ehren zu halten. Auf die vielen neugierigen Fragen der Freundinnen antwortete Julika stets nur mit einem sphinxartigen Lächeln. Auf jeden Fall machte sie mit Sergio etwas richtig, denn er erfüllte ihr jeden Wunsch.
Der besagte Vielleichtliebhaber war Bauunternehmer mit neun Mitarbeitern, die er von Baustelle zu Baustelle kreuz und quer durch Europa scheuchte. Seine Firma hieß Dieci Italiani - Zehn Italiener -, was wie ein schmalziger Tenorchor klang. Tatsächlich waren es neun ausgesprochen kräftige italienische Jungs, mit denen er auch in Deutschland Bauarbeiten durchführte.
Einige Wochen zuvor hatte er nun einen alten baufälligen Palazzo direkt an der laguna gekauft. Er plante, ihn zu sanieren, doch erstmal hatte er ihn Julika zur Verfügung gestellt - die spontan ihre vier Freundinnen in Deutschland angerufen und sie eingeladen hatte.
Und so waren Eva aus Wannsee in der Mark, wo sie mit ihrem Mann Loh einen Biobauernhof betrieb, die passionierte Mutter und Großmutter Dorothee, die quirlige Grafikerin Nele und die Lehrerin Marion spontan zu Julika, der Wahlitalienerin aus Berlin, in die Lagunenstadt geflogen und übernachteten in Sergios malerisch verkommenem Palazzo.
Als Letzte stieg nun Julika graziös in die Gondel. Wie eine Diva sah sie aus. Im Gegensatz zu den anderen, die sich für Jeans, Sandalen, Turnschuhe und T-Shirts entschieden hatten (nur Dorothee trug eine gebatikte Bluse, die aussah, als ob sie sie in einem India-Laden erstanden hätte und verdächtig nach Moschus und Sandelholz roch), hatte Julika ein elegantes maisgelbes Leinenkostüm mit einem elfenbeinfarbenen Seidentop und Riemchensandaletten mit hohen Absätzen an. Es war den anderen ein Rätsel, wie sie den ganzen Tag darin laufen konnte, aber sie konnte es. Ihr langes hennarotes Haar war perfekt gestylt, zurückgehalten wurde es von einer lässig hineingesteckten Sonnenbrille, die Julikas hellblaue Augen vor der grellen Sonne schützte. Wahrscheinlich war die Brille exorbitant teuer gewesen, wenn man davon ausging, dass das Gucci-Emblem echt war. Und das war bei Julika immer der Fall.
Ganz anders als bei Nele schwankte das Boot bei ihr kaum, so als wüsste sogar die Gondel, was sie ihr schuldig war. Julika setzte sich Dorothee und Marion direkt gegenüber, sodass sie die Freundinnen und den Gondoliere sehen konnte, der geduldig darauf wartete, dass es endlich losgehen konnte.
»Mädels, ich sag ihm, dass er uns zum Palazzo bringen soll, okay? Der Tag war lang. Dann machen wir es uns gemütlich. Auf dem Balkon. Ich hole uns was zu essen«, sagte Julika.
Die anderen nickten dankbar.
»Rotwein ist zum Glück noch da«, murmelte Nele an Eva gewandt.
»Zwei Flaschen«, murmelte Eva zurück.
»Gott sei Dank. Ich kann nicht mehr«, flüsterte Dorothee erleichtert Marion zu. »Noch eine doofe venezianische Maske in einem Souvenirshop, und ich schreie. Die Dinger sind schrecklich kitschig. Findest du nicht?«
Marion antwortete nicht. Also zog Dorothee sich verstohlen einen Schuh aus und fingerte an ihrer linken Ferse herum. Na toll. Sie hatte es ja geahnt. Eine fette Blase. Als ob ihr Hühnerauge nicht schon genug strapaziert...
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