Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
»Lilianne! Komm endlich!«
Scharf schnitt die Stimme der Mutter durch den grauen Novembermorgen. Aber Lilianne hörte es nicht. Weil sie es nicht hören wollte. Sah ihre Mutter nicht, was sie gerade tat?
Vorsichtig trat sie die Rose fest, die sie gepflanzt hatte. Der Vater hatte ihr erklärt, wie sie es machen musste. Wie tief das Loch sein sollte und dass die Veredelungsstelle - das war die, wo die Rose dick und knotig war - fünf Zentimeter unter der Erdoberfläche liegen musste. Als ob sie das nicht schon wüsste! Schließlich hatte sie ihn oft genug dabei beobachtet, wie er Rosen pflanzte.
Das Loch zu graben war anstrengend gewesen. Trotz der Kälte war ihr ganz heiß. Aber nun stand die Rose da, wo sie hingehörte - hinter den beiden Gewächshäusern, deren Glasscheiben beschlagen waren. Nicht weit von der hohen Ligusterhecke, die mit ihren immergrünen Blättern eine dunkle Wand in die neblige Landschaft zeichnete.
Neben Lilianne lag ihr Spaten, den der Vater ihr zum siebten Geburtstag geschenkt hatte. Fast ein Jahr war das nun schon her. Das Spatenblatt war kleiner und der Stiel kürzer als bei den schweren Spaten, mit denen die Arbeiter in der Gärtnerei werkelten. Seit Lilianne ihr eigenes Gartenwerkzeug besaß, durfte sie dem Vater helfen.
Sie wanderte gern mit ihm zwischen den Beeten umher und durch die Gewächshäuser. In einem war es immer so warm und feucht, dass dort die allerschönsten Blumen wuchsen - Callas, Orchideen und Lilien. Tropische Pflanzen waren das.
Im zweiten Gewächshaus war es ein bisschen kühler, es war allein für die Rosen ihres Vaters reserviert. Nicht für Rosen, die nackt und sparrig waren wie die, die sie gerade gepflanzt hatte, sondern für edle langstielige Teerosen, die gehegt, gepflegt und unter künstlichem Licht gezogen wurden. Wenn die Blüten groß, aber noch fest geschlossen waren, kam Frau Fritsch. Sie schnitt sie sorgfältig und band sie zu wunderschönen Sträußen. Dann wurden sie nach Berlin gefahren, zu diesen großen, lauten Veranstaltungen, die ihr Vater manchmal im Radio verfolgte. »Damit die Leute wenigstens etwas Schönes sehen, wenn sie schon diesen Brüllaffen hören müssen«, hatte er einmal gesagt.
Ob dieser Brüllaffe auch schuld war an den vielen Glasscherben in der Stadt? Lilianne fand es gemein, nachts die Schaufenster zu zerschlagen. Nicht auszudenken, wenn das mit ihren Gewächshäusern passieren würde! Zum Glück waren sie weit von Berlin entfernt.
Wenn Lilianne mit ihrem Vater zusammen durch die Gärtnerei ging, brüllte niemand. Im Frühling und Sommer hörte man die Vögel zwitschern. Manchmal riefen die Arbeiter einander etwas zu, ein Tontopf schepperte, und die Pumpen surrten. Im Herbst und Winter kam noch das Knacken der Heizungsrohre in den Gewächshäusern hinzu. Aber brüllen, nein, brüllen tat keiner.
Tag für Tag lauschte Lilianne den leise gemurmelten Kommentaren des Vaters und versuchte, sich so viel wie möglich davon zu merken. Alles, was er ihr über Pflanzen, Stauden und Gewächse beibrachte, interessierte sie. Sie sog das Wissen auf und hütete es wie einen Schatz. Manchmal sagte der Vater, in ihren Adern fließe kein Blut, sondern Pflanzensaft. Wie bei einer der zarten Birken, die hinter dem Zaun wuchsen. Dann lächelte er und drückte ihre Hand.
Und heute Morgen, nach dem Frühstück, hatte er etwas sehr Seltsames getan. Er hatte sie gefragt, ob sie eine Rose pflanzen wolle, sie ganz allein! Sie kenne sich damit doch schon aus, sie sei schließlich seine kleine große Gärtnerin, hatte er sie ermutigt. Seine Stimme hatte ein bisschen rau geklungen, als er ihr die kahle Pflanze gegeben und gesagt hatte: »Sie ist wurzelnackt, aber stämmig und gesund. Sie hat viele Augen, und im nächsten Sommer wird sie schneeweiß blühen. Sie ist robust, viel kräftiger als die Rosen im Gewächshaus. Du wirst sehen, Lilianne, das wird eine Schönheit, die uns alle überlebt! Eine Schönheit wie du eine bist, mein Mädchen.« Dann hatte er sie an sich gezogen und ihr mit einem schwieligen Finger über die Wange gestrichen.
Die Rose würde Triebe haben und irgendwann ihren Platz vor der dunklen Hecke erhellen wie ein vom Himmel gefallener Stern. Lilianne konnte es kaum erwarten, aber sie wusste, dass eine Gärtnerin Geduld haben musste.
»Wachse schön«, flüsterte sie dem kleinen Rosenstock zu und berührte rasch, wie zur Bestätigung, den Anhänger an der feinen goldenen Kette, die sie um den Hals trug.
Das Schmuckstück hatte ihrer Großmama Ava gehört. Als sie vor zwei Jahren gestorben war, hatte ihre Mutter es ihr, Lilianne, angelegt, und seitdem trug sie es jeden Tag. Nur neulich, als ihre Eltern so ernst mit ihr gesprochen hatten, hatte sie es ablegen wollen. Aber dann hatte sie es sich anders überlegt. Wenn jemand darauf starrte, was in der letzten Zeit ein paarmal passiert war, ließ sie es rasch unter der Bluse verschwinden.
Lilianne griff nach ihrer kleinen Zinkgießkanne und begann, die Rose zu gießen. Während sie beobachtete, wie das Wasser in der Erde versickerte, warf sie gedankenverloren ihre dicken, dunklen Zöpfe zurück. Der eine verfing sich an der Kette. Lilianne zerrte ein bisschen daran, dann war er befreit.
»Kind, hörst du nicht? Ich habe gesagt, du sollst endlich kommen!«
Sie zuckte zusammen. Sie hatte ihre Mutter nicht kommen hören. Jetzt stand sie direkt hinter ihr und schloss ihre Hand so fest um Liliannes Handgelenk, dass sie die Gießkanne fallen ließ.
»Mutti, ich bin noch nicht ganz fertig«, protestierte sie, aber die Mutter zog sie einfach fort, kümmerte sich nicht um Spaten und Gießkanne, die im abgestorbenen Gras liegen blieben.
»Wir müssen los«, erklärte sie kurz angebunden.
Lilianne stolperte in ihren Holzpantinen neben ihr her. Kasimir sauste an ihnen vorbei - der dicke Kater hatte sicher wieder im Gewächshaus auf Mäuse gelauert. Sie schaute ihm nach, wie er in Richtung Haus rannte. Er durfte nicht hinein, oder? Fragend schaute sie die Mutter an.
Da erst sah sie, dass die Mutter nicht wie üblich ihre grüne Küchenschürze, sondern ihren Wintermantel trug. Und Handschuhe. Und ihren grauen Hut, den mit der hochgeklappten Krempe und der Filzblume an der Seite.
»Wohin gehen wir denn?«, fragte Lilianne und wusch sich an dem Wasserhahn neben der Terrasse gebückt die Hände.
Die Kälte biss. Schnell trocknete sie sich an dem groben Handtuch ab, das danebenhing, dann zog sie die gestrickten Strümpfe hoch, die immer rutschten. Sofort musste sie sich kratzen. Die Wolle juckte immer so unangenehm. Der Tag im Frühling, ab dem sie endlich wieder mit nackten Beinen gehen durfte, war einer der schönsten im ganzen Jahr.
»Wir fahren zum Bahnhof«, sagte die Mutter und deutete auf Liliannes braune Schuhe, die in der geöffneten Terrassentür standen.
Gehorsam schlüpfte sie aus den Holzpantinen und in die Schuhe hinein, band die Schnürsenkel, nahm ihren Mantel, den dunkelblauen mit dem kleinen Samtkragen. Er lag auf einer gepackten Reisetasche. Sie war so voll, dass das schwere Tuch sich nach außen wölbte.
»Verreisen wir denn? Ihr habt gar nichts gesagt«, fragte Lilianne verwundert.
Die Mutter antwortete nicht, schüttelte nur den Kopf, nahm die Reisetasche und griff nach Liliannes Hand. Zusammen gingen sie um das Haus herum zur Einfahrt, wo die dunkle Limousine stand.
Im ersten Stock wurde ein Fenster geöffnet. Hinter der Gardine war schemenhaft eine Person zu sehen. Sie regte sich nicht.
Der Motor des Wagens lief bereits. Hans, einer der Arbeiter der Gärtnerei, schnallte gerade einen braunen Lederkoffer hinten auf der Kofferbrücke fest. Er hievte auch die Reisetasche hinauf, dann stieg er ein und setzte sich hinter das Lenkrad. Sonst brachte er Lilianne immer mit seinen Scherzen zum Kichern, heute drehte er sich nicht mal zu ihr um, als sie in den Fond des Wagens kletterte. Wortlos starrte er durch die Windschutzscheibe.
»Wo ist denn Vati? Kommt er nicht mit?«, fragte Lilianne. Sie hatte noch nie erlebt, dass jemand anderes als ihr Vater den Horch fuhr.
Wieder erhielt sie keine Antwort von der Mutter, die jetzt neben Hans Platz nahm.
»Ich will zu Vati! Er hat meine Rose noch gar nicht gesehen!«
Unruhig griff Lilianne nach ihrer Kette, ließ die zarten Goldglieder durch die Finger gleiten und suchte nach ihrem Anhänger, um ihn fest mit der Faust zu umschließen - wie sie es häufig tat, wenn sie über etwas nachdachte oder wenn sie Trost brauchte. Wenn Fräulein von Maltzahn ihr beim Klavierüben auf die Finger schlug, weil sie die falsche Taste erwischt hatte. Oder wenn ihre Freundinnen nicht mehr mit ihr spielen wollten, wie es in letzter Zeit manchmal passiert war.
Aber der Anhänger war nicht da, wo er hätte sein sollen.
»Mutti, er ist weg! Mein Anhänger, er ist weg! Vorhin hatte ich ihn noch! Ich geh und such ihn!«
Lilianne stieß die Tür wieder auf und wollte aus dem Wagen schlüpfen, die Mutter hingegen drehte sich um und hielt sie zurück.
»Das geht nicht, Lilianne. Schließ die Tür. Wir sind spät dran«, sagte sie mit gepresster Stimme.
»Aber Mutti«, jammerte Lilianne. »Es ist mein Glücksanhänger! Ich habe ihn bestimmt beim Pflanzen verloren.«
»Mach sofort die Tür zu!«, befahl die Mutter. »Fahren Sie, Hans«, sagte sie dann zu dem Mann am Steuer, ohne weiter auf Lilianne einzugehen.
Erschrocken schloss Lilianne die Wagentür. Warum war ihre Mutter heute so streng zu ihr? Warum durfte sie ihren Anhänger nicht suchen?
Sie verstand nicht, was das alles bedeutete, und spürte, wie ihr die Tränen in die...
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